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In der Heimat, in der Heimat

aus DER SPIEGEL 29/1949

Das ist ein ganz einfacher Fall, den wir heute noch beenden«, sagte Landgerichtsdirektor Heineberg, der Vorsitzende des Wuppertaler Schwurgerichtes, eine Stunde vor der Verhandlung am 8. Juli.

»Alles, was ich getan habe, geschah auf russischen Befehl«, sagte Otto Schmitz im Saal 55 schnell noch einmal zu seinem Verteidiger, Rechtsanwalt Waller. Der kannte die Meinung Heinebergs: »Die Russen gehen mich gar nichts an. Es ist mir egal, ob er den Befehl von Ukrainern, Kirgisen oder Tataren erhielt; er hat Unrecht getan und wird dafür bestraft.«

»Das ist ja Otto Schmitz!« rief Alfred Schwerter, Techniker aus Wuppertal, als er (im Oktober 1948) den kleinen, dicken Mann mit bleichem Gesicht und dunklem Haar sah, der über den Korridor im Lazarett Wuppertal-Ronsdorf ging. Das war das Zeichen zum Aufruhr. Die Lazarettinsassen stürzten sich auf den Mann und hätten ihn totgeprügelt, wenn das Personal sich nicht dazwischengeworfen hätte.

Die Rußlandheimkehrer waren außer sich. Das war also der Bataillonsführer und Karzerkommandant, der im Lager Slanzy Nr. 7705 (südwestlich Leningrad) seine Mitgefangenen zwei Jahre lang schikaniert und gepeinigt hatte.

Am 27. Oktober 1948 wurde Schmitz in Untersuchungshaft eingeliefert: Als er wieder zu sich kam, stellte er Strafantrag gegen Alfred Schwerter und Genossen wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Dann erzählte er seinem Mitgefangenen Karl Zander aus Remscheid vier Monate lang, wie gut er die Kameraden in Slanzy behandelt habe und wie undankbar die nun seien. Zander, der wegen eines Justizirrtums saß und später freigelassen wurde, hatte großes Mitleid mit ihm.

Acht Monate lang ermittelte Untersuchungsrichter Schroers. Es meldeten sich 31 Zeugen aus allen Teilen Deutschlands. »Zahlreiche einfache Körperverletzungen, zehn schwere körperliche Mißhandlungen, davon eine mit tödlichem Ausgang«, stand in der Anklageschrift. Strafbar nach § 223 in Verbindung mit § 226, 223 a und 74 StGB. Das Kontrollratsgesetz »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« fand auf Schmitz keine Anwendung. (Es bezieht sich nur auf politische Verbrechen zwischen 1933 und 1945).

Neunzehn Zeugen warteten um neun Uhr ungeduldig auf ihre Vernehmung. Schmitz saß ruhig und abwartend auf der Anklagebank und sprach mit seinem Verteidiger: gepflegt, glattrasiert, in schwarzem Anzug, jovial lächelnd. »Genau wie damals in Slanzy«, sagten seine Lagerbrüder wütend. »Immer tipptopp und gut gelaunt. Die dreckigen Arbeiten ließ er durch seine Spitzel machen, die er mit unseren Rationen kaufte.«

»Lassen Sie sich nicht durch Reminiszenzen daran hindern, objektive und leidenschaftslose Aussagen zu machen«, ermahnte sie Vorsitzender Heineberg vor der Verhandlung. »Schmitz ist Antifaschist. Wir müssen jedem Antifaschisten gerecht werden.« Dann rasselte Schmitz seinen auswendig gelernten Lebenslauf herunter. Geboren 18. Januar 1900 in Bonn. Wohnhaft: München-Gladbach, Akazienstr. 15.

Im 1. Weltkrieg Unteroffiziersvorschüler und -schüler (ohne Front). Danach Kraftfahrer und Einkäufer bei der Rollmopsfabrik Bombe in München-Gladbach. 1937 Baggerführer auf der Reichsautobahn. 1939 wieder Kraftfahrer, nur etwas kriegerisch. Bei einem Pionierstab. Einmärsche in Holland, Belgien, Frankreich.

»Aber Sie sind doch immer Zivilkraftfahrer gewesen?« »Jawoll, Herr Hauptmann, Verzeihung, jawohl Herr Vorsitzender.«

Später Verpflegungsunteroffizier. »Nie an der Front gewesen?« »Nein.« Zur Zeit der deutschen Kapitulation in der Kurlandarmee, russische Gefangenschaft.

Am 28. Mai 1945 kam Schmitz in das Kriegsgefangenenlager Slanzy: 4000 deutsche Gefangene. »Da war ich drei Monate Arbeitsmann und mußte Schachtarbeiten machen, genau wie die anderen«, sagt er vorwurfsvoll. »Dann kriegte ich die Ruhr. Ich muß zu meiner Beschämung sagen, daß ich an einem Vormittag fünfmal meine Hose beschmutzte und ins Lazarett kam.«

Die fünf Wochen Lazarett waren das Ende seiner Kriegsgefangenen-Leidenszeit. Von da ab ging es ihm besser. »Im Lager fragte man: Wer meldet sich als Politruk?« »Da haben Sie sich gemeldet?« »Nein«, protestierte Schmitz. »Aber ich war doch Antifaschist. Das wußte man im Lager.« »Und da hat man Sie gezwungen, Politruk zu werden?«

1921 begann Schmitzens politische Karriere. Bei den Separatisten. »Als was?« »Als einfacher Mitläufer, Herr Vorsitzender«. 1932 Mitglied der Antifa-Gruppe in München-Gladbach. Als Kommunist. Vorsitzender: »Pech, daß die KPD-Leitung Gladbach uns mitteilt, sie hätte noch nie was von Ihnen gehört.« Schmitz: »Ich hab ja auch nicht gesagt, daß ich Mitglied der KPD war.«

Im Lager 7705 gab es eine Antifa-Gruppe. Sie bestand anfangs nur aus fünf Mann; ihre Führer waren Paul Posbig und Tölscher. - Sie hatten Auftrag, eine 200 Mann starke antifaschistische Organisation innerhalb des Lagers zu bilden. Schmitz war bei den ersten. Mit Erlaubnis der Russen saßen sie nachts zusammen und notierten die Namen der Pgs, SA- und SS-Leute, um sie bei den Russen anzuzeigen.

Am 25. Oktober 1945 bekam Schmitz sein erstes Pöstchen. Den 480 neu einrückenden Kriegsgefangenen aus Mitau stellte er sich mit den Worten vor: »Ich bin der Politruk.« Und dann ging's los. Erst als Arbeitseinsatzleiter.

»Das kommt mir bekannt vor«, sagte Dr. Heineberg. Dasselbe haben Sie im Krieg nämlich auch schon gemacht. Nur umgekehrt. Damals waren es die russischen Kriegsgefangenen, die Sie kommandierten.«

Das stimmte. 1944 führte Schmitz ein russisches Gefangenenlager in Kurland. Weil die deutschen Vorgesetzten gesagt hatten: »Da ist keine Disziplin drin, da muß der Schmitz hin.« »Aber ich habe doch immer mit den Russen gesungen«, verteidigte sich Schmitz.

Er ließ das Lager Slanzy arbeiten. Zwölf Stunden, vierzehn Stunden, sechzehn Stunden pro Tag. Wer nicht mehr konnte, wurde geschlagen. Mit der Faust, mit dem Koppel, mit Latten, Holzknüppeln und allem, was ihm sonst noch in die Finger kam. »Waren Sie in der HJ?« fragte er den Jüngsten im Lager, den 17jährigen Berkenbusch. »Also Faschist. Mein Junge ist genau so alt wie Sie. Aber ich habe dafür gesorgt, daß er nicht in die HJ kam.« Als Berkenbusch (nach einigen Ohrfeigen) sagte: »Sie kommen ja auch noch mal nach Hause«, schlug er ihn noch zehnmal.

Besonders beliebt waren, die Abschrekkungsmanöver. Er ließ die Gefangenen antreten und trieb Soldaten, die sich strafbar gemacht hatten, mit Tritten und Schlägen vor sich her. »Da seht euch dieses Schwein an, er hat Brot gestohlen.«

»Ich mußte so scharf vorgehen«, rief Schmitz und sprang auf, »die waren ja alle demoralisiert.« »Woher wußten Sie denn das?« fragte der Vorsitzende. »Weil ich Soldat war. Ich war es ganz. Die anderen waren meistens nur OT-Männer. Und im übrigen haben sich viele bei mir für meine Erziehungsarbeit bedankt. Otto, ich danke dir, daß du mir geholfen hast, daß ich nicht Lump geworden bin, haben sie zu mir gesagt.« Daran konnten sich die neunzehn Zeugen nicht erinnern.

Den Russen imponierte das. Im Januar 1946 wurde Schmitz zum Karzerkommandanten befördert. Die »Tropfsteinhöhle«, die 47 Häftlinge aufnahm, wurde berüchtigt. 16 Stunden Arbeit und 2 Stunden Exerzieren waren Vorschrift. Schmitz war sehr genau. Er ließ die erschöpften Sträflinge mit Vorliebe im Schnee robben, nachts draußen antreten, außerhalb des Dienstes arbeiten und schlagen.

Auch hier wurden seine Aussprüche bald populär: »Ihr werdet die Heimat nicht wiedersehen«, und »Ich werde dafür sorgen, daß ihr dahin kommt, wo ihr hingehört«, wobei er auf den Friedhof wies.

Diebstahl wurde besonders streng bestraft. Motto: kameradschaftliche Selbsterziehung. Die Schuldigen wurden stundenlang an Pfählen festgebunden. Zahlmeister Krämer, im Zivilberuf Staatsanwalt, schrieb die Urteile als Lagerrichter, und Schmitz erledigte die praktische Seite.

Der 52jährige Ostpreuße Hahnefeld wurde wegen Brotdiebstahls auf eine Pritsche gezogen und von fünf Männern einschließlich Schmitz so mit Koppeln verprügelt, daß er zwei Tage darauf im Lazarett starb.

Das und noch einige Uebergriffe brachen Schmitz den Hals. Selbst den Russen wurde sein Benehmen zu bunt. Die russische Lagerärztin rief ihm eines Tages aus 30 Meter Entfernung zu: »Schmitz, lassen Sie die Schikaniererei sein!« Als Schmitz sich bei ihr krank melden wollte, sagte sie: »Von mir werden Sie nicht krank geschrieben. Sie gehören dahin, wo Sie Ihre Kameraden hingebracht haben.«

Danach fiel Schmitz in Ungnade. Er wurde aus der Antifa ausgeschlossen. Als er im Mai 1948 entlassen werden sollte, schloß ihn die Antifa-Leitung auch vom Heimtransport aus. Dafür wurde er fünf Monate in einen Steinbruch geschickt.

»Kennen Sie den Angeklagten«, war die erste Frage an jeden Zeugen. »Jawoll«, rief Autoschlosser Albert Sander, der aus Pforzheim heraufgekommen war, »das ist doch der Prominente von Slanzy. Nur in veränderter Form. Damals trug er noch einen Schnäuzer.« Schmitz lächelte wohlgefällig.

Als Sander den bekannten Slanzy-Ausspruch Schmitz's wiederholte »Ich bin kein Deutscher, ihr Schweine«, sprang Schmitz wütend auf und rief: »Das habe ich niemals gesagt. Und übrigens war der Zeuge SS-Mann.«

»Das interessiert uns nicht«, sagte Dr. Heineberg nervös und fuhr fort. Er vereidigte durchschnittlich vier Zeugen pro Stunde. »Ich bin stolz, Deutscher zu sein«, rief Schmitz, und der Verteidiger zeigte dem Vorsitzenden ein Foto von Schmitz (mit seinen beiden Söhnen in Uniform) auf dem alle drei stolz aussahen. »Und überhaupt«, sagte Schmitz wieder, »wenn ich so schlimm gewesen wäre, hätten mich die Kameraden in Slanzy längst in die Abortgrube geschmissen.«

»Dazu waren wir zu schwach«, erwiderte Sander. »Aber das sage ich Ihnen, Herr Landgerichtsratsvorsitzender: wenn mir dieser Mann allein in die Finger gelaufen wäre, dann hätten Sie die Akte zuschlagen können.«

Als Hauptzeuge kam am Schluß der Maler Josef Lichte aus Unna-Königsborn. Er war Lagerkommandant von Slanzy (von 45-48). »Es stimmt, die Leute waren größtenteils demoralisiert, man mußte durchgreifen, aber man brauchte es nicht in der Form zu tun, wie Schmitz es tat. Der Russe sagte viel, war aber nie da. Die Antifa-Mitglieder taten geheimnisvoll und wußten wenig voneinander. Wenn ich alles das getan hätte, was die Russen befohlen haben, dann stände ich heute auch hier!«

»Von Schmitz hörte ich hin und wieder. Aber ich hatte zuviel zu tun, um mich um alle einzelnen Bataillonsführer zu kümmern. Als ich aber merkte, wie Schmitz vorging, habe ich zu ihm gesagt: Schmitz, wenn das noch einmal passiert, schlag ich dir anständig eine runter. Als es nicht besser wurde, habe ich Schmitz durch die Russen ablösen lassen. Wenn Schmitz Befehle hatte, führte er sie bürokratisch aus. Er war der typische Unteroffizier.«

Dora Schmitz, 52 Jahre alt, abgemagert (von 145 auf 95 Pfund), müde, hat 20 Jahre lang Ottos Prügel ausgehalten. Davon hatte sie fünf Fehl- und Totgeburten. Während seiner Haftzeit hat sie ihn kein einziges Mal besucht. Während der Verhandlung saß sie in der »Gaststätte zum Landgericht«. Kurz vor Mittag ging sie zu Schmitz in die Zelle und schloß ein Gentleman-Agreement mit ihm: »Du sagst nichts vor Gericht, dann sage ich auch nichts.«

»Herr Schmitz hat eine gute Ehe geführt, er ist kein schlechter Mensch«, betonte darauf Verteidiger Waller in seinem Plädoyer. »Vorhin hat Frau Schmitz noch zu Herrn Zander gesagt, ihr Mann habe ihr, als er aus Rußland zurückkam, Ohrringe mitgebracht!« Frau Schmitz warf ihrer Nachbarin einen vielsagenden Blick zu. Dann trat sie vor den Zeugenstand und verweigerte die Aussage. Otto atmete auf.

Staatsanwalt Heinzel hatte 12 Jahre Zuchthaus ("Um Gotteswillen kein Schauprozeß!") beantragt, als Verteidiger Waller bezweifelte, daß der geprügelte Hahnefeld unter den Toten sei. Kein Mensch habe ihn tot oder begraben gesehen. Dann zitierte er Shakespeare und die »Zeit": »Wenn Gnade bei dem Rechte steht ...«

»Ruckzucksoldat« (Major a. D. Waller) Schmitz meinte (mit Rührung): »Ich glaube, ich habe eine falsche Erziehung gehabt. Selbst bei der Antifa haben sie zu mir gesagt: Du bist der reinste Offiziersknecht. Ich wollte erziehen, das war mein Fehler. Ich wollte, ich hätte es niemals getan. Außerdem berücksichtigen Sie meine schlechten häuslichen Verhältnisse.«

Frau Schmitz schnappte nach Luft und sagte: »Unerhört!« Darauf der trotzige Schmitz: »Als ich aus Rußland kam, hatte meine Frau meine ganzen Ersparnisse aufgezehrt und alles verkauft. Ich besaß nur noch eine Militärjacke, eine alte Hose und Manschettenknöpfe. Und ich wollte meinen Söhnen doch immer ein guter Vater sein!« (Grinsen von Frau Schmitz.)

In der Urteils-Pause legte sie dann los: »Ich han' nen feinen Mann! Der Drecksack! Der stellt mich hier bloß, wo ich doch so zu ihm gehalten habe.«

Nach dem Urteil (10 Jahre Zuchthaus) kniff Schmitz die Lippen zusammen. Die Zeugen gingen leicht betrunken nach Hause. Sie hatten ihre Aufregung nebenan begossen.

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