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SOWJET-UNION / STUDENTEN In die Irre

aus DER SPIEGEL 23/1968

Aus Studentenärger über Professoren kann Schlimmes eskalieren, sagten sich die Sowjets. Ersten Anzeichen solchen Ärgers gingen sie denn auch sorgfältig nach: In Baku hatten Studenten gegen ihren Lehrer protestiert. Der Protest war organisiert.

»58 Studenten des Polytechnischen Instituts fordern Gerechtigkeit«, meldete die »Komsomolskaja Prawda« aus der Ölstadt am Kaspischen Meer. Die Aufrührer hatten einen Beschwerdebrief unterschrieben und an das Partei-Zentralkomitee des Sowjetbundeslandes Aserbeidschan, an die Presse, an die Volkskontrolle geschickt.

»Man muß den über die Stränge schlagenden Professor Alijew zügeln«, forderten die Ingenieurschüler. Alijew sei ein »über alles erzürnter, rachsüchtiger und erbarmungsloser Mensch, der alles verachtet« -- offenbar, so mutmaßte die Zeitung des Komsomol-Jugendverbandes »ein Despot«.

Das Jugendblatt (Auflage: 6,7 Millionen) nahm die Beschwerde von »58 zornigen jungen Leuten« gegen einen Fach-Despoten sehr ernst. Es veranlaßte eine gründliche Recherche. Denn in der Sowjet-Union scheint studentisches Aufbegehren undenkbar: Studenten gelten wegen ihres Zugangs zu höherer Bildung und damit höherem Einkommen als privilegiert. Sie werden streng und staatstreu erzogen, bekommen den Studienplan vorgeschrieben, werden bewußt der Lust am Nonkonformismus entwöhnt, können kaum diskutieren.

Und der Sowjetstaat besitzt nach eigenen Angaben -- vier Millionen Studenten. Die Zeitschrift »Sowjet-Union heute« zählt sogar ein Drittel der Sowjetbevölkerung zu Inhabern von »Fach- und Hochschulbildung": jeden Sowjetbürger, der mindestens sieben Schuljahre hinter sich gebracht hat.

Auch die Beschwerdeführer von Baku wollten aufsteigen. Aber 20 Studenten aus der vierten Klasse der Baufakultät hatten ihr Examen bei dem Dozenten Tagijew in Technologie und Organisation nicht bestanden.

Sie mußten es noch einmal bei Professor Abusar Askerowitseh Alijew versuchen. Viermal nahmen sie einen Anlauf -- und jedes Mal fielen sie durch. Das, fanden die künftigen Erbauer des Kommunismus, müsse am Prüfer liegen. Die »Schuld des Pädagogen": Er frage nicht den bei seinem Kollegen Tagijew durchgenommenen Stoff ab, sondern verlange Kenntnis der Lehrbücher -- ohne Stocken.

Alijew ließ sich weder von der Sorge seiner Prüflinge ums Stipendium rühren, noch schreckten ihn Telephonanrufe hochgestellter Verwandter der Kandidaten.

Bei einer genauen Untersuchung gaben 21 Unterzeichner der Protestresolution an, sie hätten unterschrieben, ohne den Text durchgelesen zu haben; 29 bestritten sogar ihre Unterschrift -- so daß Unterschriftensammler Leo Kuropatkin als »Organisator« in Verdacht geriet, die Namen erfunden zu haben.

Nur acht Aufrechte standen zu ihrem Protest. Erleichtert notierte »Komsomolskaja Prawda« -- Reporter Mustafajew, daß keine Gefahr für die Gesellschaft bestehe: »Es gab keinen Massenaufstand.«

Dennoch ermittelte Mustafajew Anzeichen bedenklicher Unmoral: Anstifter Kuropatkin bekannte sich freimütig zur »Erfindung« der 29 Unterschriften -- offenbar um die Entmutigten zu decken -, und kein Kommilitone nahm an dem Betrug Anstoß.

»Mitmachen, sich dem Betrug onschließen -- das nennt sich Anständigkeit; Widerstand gegen die Kollektiv-Verleumdung -- das gilt als gemein, unkameradschaftlich«, klagte Mustafajew. Der Ermittler der Parteijugend-Presse war bei der vierten Klasse der Baku-Ingenieurschule auf Solidarität gestoßen, auf Klassen-Bewußtsein gegenüber Autoritäten.

Mustafajew in der »Kumsomolskaja Prawda": »Die Pose eines »kühnen Menschen, der sich nicht fürchtet, Autoritäten zu Fall zu bringen, führt oft noch junge Menschen in die Irre.«

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