SPD In die Niederungen
Manchen Genossen in Bonn schien es unfaßbar: Die drei wichtigsten Männer der SPD waren diesmal einer Meinung.
Gemeinsam befanden Kanzler Helmut Schmidt, Parteichef Willy Brandt und Fraktionsvorsitzender Herbert Wehner, daß Entwicklungsminister Egon Bahr der richtige Mann für den Posten des SPD-Bundesgeschäftsführers sei.
Alle Mitbewerber um das Amt, das seit der Wahl Holger Börners zum hessischen Ministerpräsidenten verweist ist, hatte Bahr mühelos ausgestochen: Der Brandt-Vertraute Horst Ehmke ist bei Kanzler Schmidt nicht gelitten, der fränkische SPD-Vorsitzende Bruno Friedrich gilt als Vasall Herbert Wehners, und bei dem Wohnungsbauminister Karl Ravens wird die nötige Strahlkraft vermißt.
Egon Bahr, schon immer ein bißchen politisches Glückskind, gewann kampflos und fast wider Willen. Erst nachdem Willy Brandt seinen Intimus ins Gebet genommen hatte, schlug Bahr ein. Der oberste Bonner Entwicklungshelfer, der sich nach Brandts Rücktritt schon zeitweise als politischer Altenteiler fühlte, bekannte noch vorletzte Woche freimütig: »Ich liebe mein Ressort, in dem ich mich nach den Strapazen der Ostpolitik gut eingerichtet habe.«
Neue Strapazen suchte Egon Bahr, als Konstrukteur der Bonner Ostpolitik eines Plätzchens in der Zeitgeschichte gewiß, wahrhaftig nicht mehr. Doch ein besserer Mann, der es mit allen drei zerstrittenen Führungsfiguren der Sozialdemokratie kann, war nicht aufzutun.
Der Beifall für den Bonner Oldtimer, der an diesem Montag vom Parteivorstand gewählt wird, ist denn auch verhalten. So attraktiv vielen Spitzengenossen der argumentationsstarke Bahr als Parteimanager erscheint, so groß sind die Zweifel, daß der feinsinnige Intellektuelle die Millionen-Partei in den Griff bekommen kann. SPD-Vorstandsmitglied Wolfgang Roth urteilt: »Das ist wenigstens eine intelligente Fehlentscheidung.«
Egon Bahr jedenfalls ist kein Mann jenes Apparats, den er nun dirigieren soll; er hat stets angemessenen Abstand zur Partei gehalten. Der schlaue Berliner schaffte seinen Aufstieg nicht im steinigen Terrain der SPD, sondern in der Seilschaft von Willy Brandt.
Und stets achtete er darauf, mehr hinter als vor dem Vorhang zu wirken. Eindeutige Positionen bezog der einflußreichste aller Brandt-Berater nur in seinem eigenen Revier, der Außenpolitik. Bei umstrittenen innenpolitischen Themen war von Bahr öffentlich nichts zu vernehmen. Das Schweigen bringt jetzt Dividende: Linke wie rechte Genossen akzeptieren Bahr als Bundesgeschäftsführer.
Nicht so recht vorstellen können es sich jedoch manche Parteifreunde Bahrs, wie der neue Mann, der meist in konservative blaue Anzüge mit Weste gekleidet und im Habitus eher der Bonner Diplomatenkaste zuzurechnen ist, sich auf biederen Bezirksparteitagen oder auf öden Konferenzen von Ortsvereinsvorsitzenden bewegen wird.
In die Niederungen der Parteimaschinerie aber muß der einstige außenpolitische Chefdenker Willy Brandts nun hinabsteigen. In seinem Abschiedsbrief an das SPD-Präsidium hat Bahr-Vorgänger Börner die schlichte Erkenntnis hinterlassen, daß der einst so effiziente SPD-Apparat inzwischen schlechter funktioniert als der der christdemokratischen Konkurrenz, »daß unsere Parteiorganisation einer Reform bedarf«.
Unvermeidlich ist es etwa, die brachliegenden SPD-Bezirke im Süden der Republik aufzurüsten, wenn die Sozialdemokraten in Bayern oder Baden-Württemberg zukünftig nicht noch schlimmere Schlappen als bei der Bundestagswahl 76 hinnehmen Wollen. Unumgänglich ist für den neuen Mann in der SPD-Zentrale auch, gegen den regionalen Eigensinn der Provinzfürsten anzugehen, damit die Partei, wie von den Christdemokraten vorexerziert, in Wahlzeiten schneller und geschlossener agieren kann.
Bei solch mühseliger Kleinarbeit mag es sich zuweilen als hinderlich erweisen, daß die Basis den Egon Bahr nicht unbedingt als einen der Ihren ansieht. Doch der fehlende Stallgeruch, unter strammen Sozialdemokraten ein Handikap, dürfte der Partei in der Darstellung nach außen durchaus nützlich sein.
Denn Bahrs Vorgänger Holger Börner war zwar ein fleißiger Parteiarbeiter und braver Organisator. Doch an Ideenreichtum und intellektueller Wendigkeit fiel er hoffnungslos hinter sein CDU-Pendant Kurt Biedenkopf zurück.
So fehlte den Sozialdemokraten bisher ein Spitzenmann, der neben dem Denkmal Brandt und dem Schaffer Schmidt das geistige Potential der Partei wirkungsvoll vertreten konnte. Egon Bahr soll es nun werden -- das intellektuelle Aushängeschild der Sozialdemokratie, »der Mann, der den programmatischen Gegenpart zu Biedenkopf spielt«, wie ein Kanzlerberater es gern hätte.
Die Partei hat"s dringend nötig. Bei Wahlanalysen fanden die SPD-Strategen heraus, daß die Bundestagswahl 1976 anders als 1972 und 1969 eine Abstimmung weniger über die Kanzlerkandidaten, sondern vornehmlich über die Parteien war. Unzweideutig steht auch fest, daß die Christenunion im Urteil des Wahlvolks erheblich besser abschnitt als die SPD. So wird der CDU von den Wählern heute auf fast allen Sachbereichen mehr Kompetenz bescheinigt als der Brandt-Partei, die überwiegend als zerrissen und zerstritten gilt.
Dringend geboten erscheint vielen Bonner Sozialdemokraten daher, daß ihre Partei sich bis zur nächsten Landtagswahlserie in knapp zwei Jahren, spätestens aber bis zur Bundestagswahl 1980 ein besseres Profil zulegt.
Der Denker und Debattierer Bahr soll dabei vor allem die Christdemokraten mit ihren dröhnenden Freiheitsparolen und den neu aufgeputzten konservativen Ideologien in die Defensive zwingen; und er soll den eigenen Genossen neue programmatische Perspektiven auftun.
Freilich sind Zweifel angebracht, ob Egon Bahr das alles bringen kann. Brillante Konzepte entwickelte der Sozialdemokrat, wie auch sein Mentor Brandt, bisher nur auf dem Terrain der Außenpolitik; gescheit zu reden wußte er über das deutsch-deutsche Verhältnis oder den Nord-Süd-Konflikt, doch stumm blieb er bei Themen wie Steuer- und Vermögenspolitik.
Für wichtige innenpolitische Probleme zeigte der neue SPD-Bundesgeschäftsführer, wie Bahr-Kenner berichten, bislang weder Interesse noch Engagement. Sogar beim letzten Wahlkampf beschränkte sich Bahr, Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein, in seinen Reden zumeist auf die Entwicklungspolitik.
Den Genossen bleibt da, mangels erkennbarer Alternativen, nur das Prinzip Hoffnung. Der schleswig-holsteinische SPD-Fraktionsvorsitzende Klaus Matthiesen ist immerhin sicher: »Wenn es lernfähige Leute gibt, dann gehört Egon Bahr zu ihnen.«