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In die Pfanne gehauen

aus DER SPIEGEL 1/1961

Die Bonner Republik, in diesem Jahr zwölf Jahre alt wie das Nymphchen Lolita, hat nicht nur das Alter mit Nabokovs kleinem Luder gemein, sondern auch das abgebrühte Wissen um die Unzulänglichkeit menschlicher Moral.

Die gleiche Frühreife, die Familienminister Wuermeling bei den Teenager-Untertanen der Nation so sehr beklagt, kennzeichnet das Wesen der westdeutschen Demokratie.

Das »Provisorium« Bundesrepublik hat in seinen jungen Jahren eine Entwicklung durcheilt, für deren Bewäiltigung andere Demokratien ein paar Jahrhunderte benötigten, und eine Verfassungswirklichkeit geschaffen, die von Politologen höflich-kryptisch als »pluralistische Kanzler-Demokratie« bezeichnet wird - gemeint ist: das Ausschaukeln der Macht zwischen einem fast allmächtigen Regierungschef und den mächtigsten Interessen-Verbänden, das nur noch alle vier Jahre vom Wahl-Volk gutgeheißen oder verworfen werden kann.

Dahin sind die Ideale bundesrepublikanischer Gründerjahre, in denen Lobbyisten noch im Lobby, Parlamentarier noch im Parlament und des Kanzlers Paladine noch nicht in Leihwagen oder auf Anklagebänken anzutreffen waren.

Heute, da aus einer ersten, zweiten und dritten Regierung Adenauer ein Regime Adenauer geworden ist, sind die Interessen-Verbände in den, von politischen Kräften geräumten, Vorhof der Macht eingefallen; ihre Herzöge verhandeln direkt mit dem Kanzler.

»Der Herr, der etwas auf sich hält, trägt Hut und Krawatte«, spottete das Düsseldorfer »Handelsblatt« über diesen Zustand: »Ein Verband, der weiß, was er dem Prestige schuldig ist, konferiert mit dem Kanzler.«

Der deutsche Drang nach Obrigkeit und Vereinsmeierei hat den Bund zwischen Regierungschef und Verbänden gesegnet. Neu an dieser jüngsten Variante der Kanzler-Demokratie ist, daß nun nach dem Parlament auch die Fachministerien und andere zuständige Verfassungsinstanzen in entscheidenden Fragen weitgehend abgehängt wurden.

Der erste Modellfall so gearteter demokratischer Degeneration reicht in das vorletzte Jahr zurück. Es war der Kampf um die Neuregelung der Kriegsopferversorgung.

Ein von Kanzler und Kabinett ursprünglich gebilligter Gesetzentwurf des Arbeitsministers Theo Blank war nach Audienzen der Verbandsfunktionäre im Palais Schaumburg verworfen worden und mußte auf Wunsch des Kanzlers einer Vorlage weichen, in der die unsinnigsten Forderungen der Interessenten erfüllt wurden (SPIEGEL 13/1960).

Im Laufe des Jahres 1960 wurde diese Kanzler-Methode, unter. Ausschaltung der verfassungsmäßigen Instanzen direkt mit den Interessen-Verbänden einig zu werden, zum beherrschenden Moment der bundesrepublikanischen Innenpolitik.

Die drei wichtigsten innenpolitischen Probleme des verflossenen Jahres wurden auf diese Weise angepackt:

> die Krankenversicherungsreform,

> die Bewertung der D-Mark;

> der Fernseh-Streit,

Das Ergebnis: Keine der drei Streitfragen wurde überhaupt, geschweige denn zufriedenstellend gelöst.

Bei der Reform der Krankenversicherung - von der Regierung als größtes gesetzgeberisches Werk der gesamten Legislaturperiode mit üppigem Vorschußlorbeer bedacht - war es wiederum Arbeitsminister Theo Blank, der im Wettlauf mit den Interessen-Verbänden um des Kanzlers Gunst unter »Ferner liefen« durchs Ziel wankte.

Hatte ihm seine Kriegsopfer-Schlappe 1959 bereits den Narrentitel »Minister Spiegelei« ("Von allen Beteiligten in die Pfanne gehauen") eingetragen, so wurde Spiegelei Blank jetzt auch von der zweiten Seite gebraten.

Wieder hatte der Arbeitsminister einen - in zweijähriger Arbeit fertiggestellten - Gesetzentwurf vorgelegt, der vom Kabinett mit Zustimmung des Kanzlers zur Regierungsvorlage erhoben worden war. Wieder - am 2. Februar, am 17. August und am 19. Dezember - intervenierten die Interessen-Verbände direkt beim Kanzler im Palais Schaumburg. Und wieder wurde der Entwurf des Fachministeriums bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.

Das Kernstück der Vorlage, das eine Selbstbeteiligung der Patienten an Behandlungs- und Arzneikosten vorsah, wurde zunächst verwässert und schließlich praktisch ganz entfernt.

Das gleiche Schicksal erlitt der Blank-Vorschlag, die bisherige Pauschal-Honorierung der Ärzte in Einzel-Honorierung, umzuwandeln. Der Kanzler sicherte den Mediziner-Funktionären zu, die für sie günstigere bisherige Gebührenordnung beizubehalten (siehe »Krankenversicherung«, Seite 16).

In Anbetracht solcher Zerstückelung wird das längst überfällige Gesetzeswerk in der laufenden Legislaturperiode vermutlich überhaupt nicht mehr verabschiedet werden können.

Durch das Eingreifen der Interessen-Verbände mit des Kanzlers Billigung wurde die Sozialpolitik des Bundes an ihrer zur Zeit gefährdetsten Front bis nach den Wahlen lahmgelegt.

Über einen ähnlich langen Zeitraum, wenn auch nicht in so, markanten Etappen, verlief die Diskussion über die Bewertung der D-Mark. Bereits Anfang des Jahres hatte Wirtschaftsminister Professor Ludwig Erhard gestanden, in seiner Eigenschaft »als Wissenschaftler« halte er eine Aufwertung der D-Mark »nunmehr für gerechtfertigt«.

Denn: Da in Westdeutschland immerhin noch eine größere Preisdisziplin geübt wird als in anderen Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, ist zwischen Ausland und Bundesrepublik ein ungesundes Preisgefälle entstanden.

Trotzdem wandte sich der »Bundesverband der Deutschen Industrie«, dessen Präsident Fritz Berg wie kein zweiter beim Kanzler zu antichambrieren versteht, entschieden und erfolgreich gegen jede Aufwertung der D-Mark, die zwar die überhitzte Konjunktur gedämpft, zugleich aber auch den Exportabsatz der Industrie erschwert haben würde.

Dem Einzel-Interesse zuliebe unterblieb eine für die Volkswirtschaft nützliche Maßnahme.

Weder die vertagte Krankenversicherungsreform noch die unterbliebene Aufwertung indes verstörte das Bundesvolk so sehr wie das dritte und jüngste negative Resultat der »pluralistischen Kanzler-Demokratie": die Verhinderung des Sendebeginns eines Zweiten Fernseh-Programms am 1. Januar dieses Jahres.

Diesmal waren nicht des Kanzlers eigene Fachminister, sondern die Länderregierungen die verfassungsgemäß zuständigen politischen Instanzen, mit denen Regierungschef Konrad Adenauer sich hätte auseinandersetzen müssen und die er zu hintergehen suchte.

Fast auf den Tag sieben Jahre hatte das Tauziehen zwischen Bund und Ländern um die »Neuordnung des Rundfunks« gedauert, als Konrad Adenauer sich im letzten Juli entschloß, ein Zweites Fernseh-Programm mit Kanzlerschnitt zur Welt zu bringen. Ans Licht kam ein Kretin: die Deutschland-Fernsehen GmbH mit den Gesellschaftern Konrad Adenauer und Fritz Schäffer.

In der irrigen Annahme, er könne den bevorstehenden Wahlkampf dieses Jahres durch ein von der Regierung beeinflußtes Zweites Programm des Massenmediums Fernsehen entscheiden, hatte der Kanzler - wieder im Einklang mit der interessierten Privatindustrie - um jeden Preis verhindern wollen, daß die Länder zusätzlich zum Zweiten (Regierungs-)Programm eigene, von gemeinnützigen Anstalten ausgestrahlte Fernseh-Programme entwickeln würden.

Die Länder, auf die ihnen im Grundgesetz zugesprochene Kulturhoheit pochend, liefen zu Gericht: Mitte Dezember erließ das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Einstweilige Anordnung, die es bis zum endgültigen Urteil des Gerichts am 28. Februar der Deutschland-Fernsehen GmbH untersagt, ein Zweites Fernseh-Programm auszustrahlen.

Was dann wird, bleibt ungewiß. Sicher ist nur, daß für den Kanzler im besten Falle ein Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern herausspringen kann, der Konrad Adenauer sein - von den Ländern im Prinzip konzediertes - gewünschtes Zweites und den Ländern das - bisher von Adenauer verweigerte - Dritte Programm gestattet.

Eine solche Abmachung jedoch, die nun zur Beeinflussung des Wahlkampfes endgültig zu spät kommt, hätte er ohne Zeitverlust schon im Sommer mit den Ländern treffen können.

Allein: Mögen die Wechselbälger aus der Ehe zwischen Kanzler und organisierten Verbänden sich auch zu ausgemachten Taugenichtsen entwickeln - ihre Schar wird sich vermehren, solange Konrad Adenauer regiert.

Warum, das hat Rüdiger Altmann in seinem Buch »Das Erbe Adenauers« (SPIEGEL 26/1960)) analysiert: Die Ehe bedeutet für den Kanzler das ihm auf Erden Wichtigste -Machtzuwachs.

Er fühle sich, so sagte Adenauer einmal selbst vor dem »Bundesverband der Deutschen Industrie«, von den Verbänden nicht bedroht. »Denn«, erklärt Altmann, »indem sie ihn zum Adressaten ihrer Wünsche machen, schmälern sie nicht, sondern erhöhen sie seine Autorität.«

Und: »Er will die mitgliedstarken Verbände durch die Hoffnung, vorteilhafte Ergebnisse im Machtbereich der Regierung selbst aushandeln zu können, immer wieder an der Kanzler-Demokratie engagieren.«

Das ist Konrad Adenauer ohne Zweifel gelungen: Ob sie wollen oder nicht - wenn die Interessen verschiedener Interessen-Verbände kollidieren, müssen sie den Kanzler als »neutrale« Schiedsrichter-Instanz anerkennen, weil es neben ihm in Bonn keine Instanz gibt.

Doch so - und damit endet das Gleichnis zwischen den beiden Zwölfjährigen - wie bei Lolita »das Holde und das Unholde ineinander überging«, ist auch bei der Bonner Republik das eine nicht vom anderen zu trennen:

Der Machtzuwachs des Regierungschefs führt, wie die Beispiele der »pluralistischen Kanzler-Demokratie« des letzten Jahres zeigen, durch die zwangsläufigen Fehlentscheidungen paradoxerweise gleichzeitig zu einem Prestigeverlust seiner eigenen Regierung. Wie bei Lolita bleibt es Ansichtssache, was daran hold, was unhold ist.

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