GEWERKSCHAFTEN / SOZIALWAHLEN In die Tasche
Westdeutschlands größte Arbeitnehmer-Organisationen waren in den vergangenen Wochen nur noch vor Gericht füreinander zu sprechen. Am 29. Mai ließ die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) in Hamburg dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) einstweilig die Werbe-Behauptung untersagen, der DAG-Vorstand habe verlangt, die Angestellten an den Krankheitskosten zu beteiligen.
Am Dienstag letzter Woche revanchierte sich der DGB vor dem Landgericht Düsseldorf. Durch einstweilige Verfügung wurde der DAG die auf Flugschriften verbreitete Behauptung verboten, der DGB wolle den Angestellten in die Taschen greifen« und sie »zur Ader lassen«.
Mit Gerichtskosten und einigen Werbe-Millionen bestritten die Gewerkschaften den Wahlkampf für eine demokratische Institution, die nur wenigen Bundesbürgern bekannt ist: Am vergangenen Wochenende waren 40 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, ihre Interessenvertreter in den Selbstverwaltungsorganen von etwa 2100 Sozialversicherungsträgern -- gesetzlichen Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und Rentenversicherungen -- neu zu bestimmen.
In diesen Organen haben insgesamt 80 000 Delegierte Sitz und Stimme. Ihre Aufgabe ist es, aus ihrer Mitte die Vorstände der Sozialversicherungsträger zu küren, deren Arbeit zu überwachen sowie über Satzungsänderungen und den Etat zu beschließen.
Laut »Gesetz über die Selbstverwaltung auf dem Gebiet der Sozialversicherung« sollen diese Sozialparlamente alle sechs Jahre von den Versicherten neu gewählt werden. Arbeitnehmer und -geber stellen in der Regel jeweils die Hälfte der Vertreter.
Das Wahlkampf-Getöse während der letzten Wochen täuschte die Versicherten freilich darüber hinweg, daß sie auf die Sitzverteilung der meisten Versicherten-Parlamente nur einen geringen Einfluß ausüben können. Die Arbeitgeber-Organisationen zum Beispiel delegieren ihre knapp 40 000 Vertreter ohne Wahl in die 2100 Sozialparlamente.
Auch die Arbeitnehmer-Organisationen, an ihrer Spitze der DGB, die DAG. der Deutsche Handels- und Industrieangestellten-Verband, der Verband der weiblichen Angestellten und der Deutsche Beamtenbund, mochten lediglich bei 52 Sozialversicherungsträgern um ganze 2000 Sitze kämpfen.
Der übergroße Rest von gut 38 000 Sitzen wurde durch Listen-Kartelle der Gewerkschaften und anderer Arbeitnehmer-Organisationen im voraus an Funktionäre verteilt.
Zu diesem Manöver macht eine Bestimmung des Selbstverwaltungs-Gesetzes den Weg frei, die als »Wahl ohne Wahlhandlung« figuriert. Danach entfällt der vorgeschriebene Stimmgang, wenn nur eine Kandidaten-Liste eingereicht wurde.
So beschlossen die Gewerkschaften in Berlin, daß von den 30 Vertreter-Sitzen der Landesversicherungsanstalt der DGB 28 erhalten sollte. Die restlichen zwei Sitze bekamen die Christlichen Gewerkschaften.
Bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin (30 Arbeitnehmer-Sitze) teilten der DGB, die DAG und der Deutsche Beamtenbund 27 Mandate intern untereinander auf. Drei Stimmen wurden den Christgewerkschaften zugemessen. Durch eine Wahl. so begründeten die Organisatoren ihr Listen-Kartell, werde sich die bestehende Sitzverteilung doch nicht ändern.
Durch solche Listen-Praktiken wurden am vergangenen Wochenende 20 Millionen der insgesamt 40 Millionen Sozialversicherten um ihr Recht gebracht, über die Sitzverteilung in den gesetzlichen Versicherungsanstalten zu bestimmen.
Mit voller Schärfe entbrannte der Wahlkampf nur dort, wo sich die Interessen des DGB mit denen der DAG kreuzten, etwa bei der Berliner Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), bei fünf Angestellten-Ersatzkassen sowie bei jenen Versicherungsträgern. bei denen sich die Arbeitnehmer-Verbände auf keine Einheitslisten einigen konnten.
Bei den Angestellten-Versicherungen hat die DAG, mit 480.000 Mitgliedern weitaus schwächer bestückt als die 16 DGB-Gewerkschaften (6,4 Millionen Mitglieder), eine überragende Position. Allein bei der BfA in Berlin stellt sie 16 der 30 Arbeitnehmer-Vertreter. Auch bei der Barmer Ersatzkasse und der Deutschen Angestellten-Krankenkasse verfügt die DAG über die stärkste Fraktion.
Zudem wurmte es die DGB-Gewaltigen, daß sie bei den letzten Wahlen im Jahre 1962 nur 1,5 Millionen Stimmen (von insgesamt 4,1 Millionen) erhalten hatten, während die weit kleinere DAG fast zwei Millionen Stimmen sammeln konnte. Um ein ähnliches Desaster zu vermeiden, ritt der DGB seine scharfe Anzeigen-Attacke auf die Kollegen vom Stehkragen-Syndikat. Tenor: Beim DGB seien fast doppelt so viele Angestellte organisiert wie bei der DAG. Im übrigen habe der stellvertretende DAG-Vorsitzende Hans Katzbach die Selbstbeteiligung der Angestellten an den Krankheitskosten verlangt. Eine einstweilige Verfügung war die Antwort.
Wenige Tage später holte die DAG zum Konterschlag aus. Die Forderung des DGB, die reiche Rentenversicherung für Angestellte müsse in Zukunft die armen Alten-Kassen der Arbeiter unterstützen, spitzten DAG-Werber zum Slogan zu, der DGB wolle den Angestellten »in die Tasche« steigen. Abermals mußten die Gerichte sprechen.
Der Kampf der Gewerkschafts-Bosse ist freilich fein abgestuft. Während die Juristen in Hamburg und Düsseldorf einstweilige Verfügungen austauschten, hatten sich bei mindestens 30 Versicherungsträgern DGB-Gewerkschaften und DAG für die Sozialwahlen freundschaftlich zusammengetan: in Einheitslisten.