GEMEINDEN / MÜNCHEN In die Tiefe
Der Stachus mitten in München bot morgens und nachmittags ein Bild, wie es sonst nur in Trickfilmen zu sehen ist: ameisenhaftes Menschengewimmel, ineinandergewundene Autoschlangen, meterweise vorrückende Straßenbahn-Kolonnen. Eine Million Fußgänger, 100 000 Autos, 3400 Trambahnzüge passierten tagtäglich den verkehrsreichsten Platz Mitteleuropas -- ein Kolosseum unbewältigten Verkehrs.
Die Weltstadt mit Herzbeschwerden verordnete sich am 6. April 1964 ein leichtes Beruhigungsmittel. Die Stadtplaner zeichneten auf Stachus-Kartenblättern zusätzliche Gleispaare für die aus fünf Richtungen einbimmelnden Straßenbahnen ein sowie einige Unterführungen für Fußgänger. Veranschlagte Kosten: acht bis neun Millionen Mark.
Zwei Wochen später bekam der Stadtplanungsausschuß ein großzügig bemessenes Stachus-Zukunftsbild zu sehen. Kosten: 15,6 Millionen. Anfang Mai war die nächste Vision gereift. Kosten: 27 Millionen.
Und während unter sentimentalen Klagen vorwiegend älterer Münchner städtische Arbeiter die Kastanienbäume auf dem Stachus fällten, wühlte sich das Rathaus-Bauamt von der ursprünglich reinen Oberflächen-Umgestaltung mehr und mehr in die Tiefe. Im Herbst 1964 erachtete es 43 Millionen Mark, im Frühling 1965 schon 85 Millionen, im Oktober 1965 gar 93,5 Millionen Mark für angemessen.
Dafür offerierte es außer den neuen Straßenbahngleisen nun auch sechs unterirdische Etagen mit ausgedehnten Spaziermöglichkeiten, einer Tiefgarage für 800 Autos, zwei Energiezentren, einer Ladenstraße, einer Verbindungsbahn-Station, einem U-Bahnhof -- insgesamt 500 000 Kubikmeter umzuschaufelnden Raums.
Im Dezember 1965 vergab der Stadtrat die ersten Arbeiten, und aus dem Stachus wurde eine Monster-Baustelle. Unterdes rechnete ein privates Planungsbüro die Kosten exakt durch und kam -- im Januar dieses Jahres -nicht auf die städtischen 93,5, sondern auf runde 145 Millionen Mark -- reichlich 50 Prozent mehr. Das Münchner Kindl war befallen von Elephantiasis.
Der Befund freilich wurde vom Baureferat der Stadt geheimgehalten. Erst zum Oktoberfest nannte die »Süddeutsche Zeitung« Zahlen, und nun wurde auch bekannt, daß selbst Stadträte nicht über die Kostensteigerung informiert worden waren. SPD-Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel beklommen: »Die Verschleierungstaktik des Baureferats ist ohne Zweifel der unerfreulichste Fall meiner bisherigen Amtszeit.«
Doch als in diesem Monat die Affäre im Stadtratsplenum behandelt wurde, hatte sich der OB wieder gefangen; routiniert deckte er zunächst die Stadtväter mit Zahlen-Massen ein, dann präsentierte er Schuld und Sühne: Der Verantwortliche, Stadtbaurat Edgar Luther, sei mitsamt seiner Mannschaft« überfordert«, also möge die Stachus-Neugestaltung am besten dem städtischen U-Bahn-Referat übertragen werden.
Das Kommunal-Parlament debattierte ein bißchen und stimmte dem Vogel-Vorschlag bereitwillig zu. Wieder einmal erwies sich die CSU im Münchner Rathaus, die mit der SPD harmonisch koaliert, als »Vogel-hörig« (so die CSU-Parteizentrale): CSU-Attacken blieben aus, obwohl es sich ergab, daß
> einstweilen schleierhaft ist, woraus der Großteil der Mehrkosten resultiert;
> für eine 1,2 Kilometer lange Umfassungswand des Bauwerks die vorgeschriebene Genehmigung nicht eingeholt wurde;
> unterirdische Verkaufsetagen des an den Stachus angrenzenden Münchner Kaufhof s gleich mit ausgehoben wurden, obwohl darüber noch gar kein Vertrag existiert. Das schlappe Auftreten ihrer Stadtratsfraktion reizte die CSU-Zentrale, die dem OB Vogel auch nicht abnehmen wollte, was er behauptete: Er selber habe erst am 7. Juli die »neue Gesamtkostensumme« erfahren. Vogel: Er hätte den Stadtrat deshalb auch erst nach diesem Datum unterrichten können. Mangels »Aufklärung der näheren Umstände« aber habe er darauf verzichten müssen.
Der CSU-Landtagsabgeordnete Erich Schosser nahm den »Stachus-Bauskandal« zum Anlaß, Vogels Rücktritt zu verlangen. Schosser argumentierte volkstümlich: Für die 50 Millionen Mark hätte man viele Schulen bauen können, und es gehe doch nicht an, daß nur der zuständige Stadtbaurat als Verantwortlicher den Kopf habe hinhalten müssen.
Erst nachdem die Schosser-Parolen verkündet worden waren, entschloß sich die CSU-Fraktion zu einer öffentlichen Erklärung in Sachen Stachus. Wortreich und empört distanzierte sich die Fraktion -- nicht von Vogel, sondern von Schosser: »Einzelaktion eines Politikers.«