KANZLERNACHFOLGE In einem Monat, einem Jahr
Mitten im rheinischen Karneval haben kanzlertreue Christdemokraten in Bonn dazu angesetzt, Adenauers letzten und vornehmsten politischen Willen zu erfüllen: Eine Kanzlerschaft Ludwig Erhards unmöglich zu machen, indem der Bundeswirtschaftsminister in Richtung auf die Bundespräsidentschaft abgedrängt wird. Gleichzeitig soll der für dieses Jahr festversprochene Adenauer-Rücktritt um zwölf Monate verschoben werden.
Nach langwierigem Kopfzerbrechen über das schier unentwirrbare Rätsel der Kanzler-Nachfolge brachte der CDU-Fraktions-Einpeitscher und von -Hassel-Freund Will Rasner am Dienstag letzter Woche eine neue innerparteiliche Vier-Punkte-Strategie in Umlauf, die in dem politischen Zirkel um Sonderminister und Kanzler-Freund Heinrich Krone entworfen worden war:
- Konrad Adenauer bleibt
bis zum Herbst 1964 Bundeskanzler und nicht nur bis zum Herbst dieses Jahres.
- Der Bundeswirtschaftsminister Erhard bleibt bis zum Herbst 1964 Vize -Kanzler und wird bei der dann fälligen Neuwahl zum Bundespräsidenten erkoren.
- Bundesaußenminister Dr.
Schröder wird im Sommer dieses Jahres zum Kanzler-Nachfolger designiert und im Herbst 1964 zum Kanzler gewählt.
- CDU/CSU-Fraktionschef Heinrich von Brentano nimmt unter einem Bundeskanzler Schröder seinen angestammten Platz als Außenminister wieder ein.
Gegen diese Patentlösung machen allerdings prominente Christdemokraten, unterstützt von zahlreichen Hinterbänklern des Bundestags, Front. So erklärte vor dem CDU/CSU-Fraktionsvorstand am Dienstag letzter Woche Bundestagspräsident Gerstenmaier: »Ich bürge mit meiner politischen Existenz dafür, daß Adenauer in diesem Herbst zurücktritt.« Und der stellvertretende CDU-Fraktionschef Kurt Schmücker ließ sich vernehmen: »Der Rücktritt ist sowieso unabänderlich. Jeder muß einmal aufhören.«
Der Bundestagspräsident und seine Mitstreiter sind der Überzeugung, daß der 1. Oktober dieses Jahres der letzte Termin ist, bis zu dem Konrad Adenauer in Ehren zurücktreten und die CDU vor schweren inneren Wirren bewahren kann. Zu befürchten sei, daß anderenfalls ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Adenauer im Bundestag unvermeidlich ist und daß sich dann neben den Abgeordneten der FDP eine genügend große Anzahl von CDU-Abgeordneten finden wird, um den Kanzler zu stürzen-und den populären Ludwig Erhard an seine Stelle zu setzen.
Auch Konrad Adenauer hat, als ihm solche Argumente vorgetragen wurden, in der vorletzten Woche zugestimmt: »Na gut, ich habe mich nun einmal auf einen Rücktrittstermin eingelassen, jetzt stehe ich auch dazu.« Aber niemand in Bonn kann heute voraussehen, inwieweit der Bundeskanzler nicht doch den Lockungen jener folgen wird, die daran arbeiten, Konrad Adenauers nächsten Wunsch, noch eine weitere Kanzler -Frist zu ergattern, zu realisieren.
Adenauers Bemühungen, in Berlin die Große Koalition zwischen der regierenden SPD und der CDU nach der vernichtenden Wahlniederlage der CDU zu erhalten, lassen einen besonderen Schluß zu, zumal SPD-Vize Herbert Wehner sich bei seinen Parteigenossen in gleicher Weise verwandt hat: Daß der Bundeskanzler unter Umständen auch den Umweg über eine Große Koalition in Bonn gehen will, um an der Macht zu bleiben.
Bundespräsident Lübke legte sich und seinem Haus zu solchen machtpolitischen Brettspielen, bei denen das Amt des Staatsoberhauptes wie schon im Jahre 1959 kaltblütig als Figur eingesetzt wird, eisernes Stillschweigen auf. Heinrich Lübke hat jedoch solchem Treiben unfreiwillig Vorschub geleistet, da er mehrmals über seine angegriffene Gesundheit geklagt hat, ohne allerdings zu erkennen zu geben, er wolle aus solchen Gründen auf eine zweite Kandidatur verzichten.
Aus der Ecke des Vizekanzlers Ludwig Erhard tönt es bereits grollend: »Es ist dem Amt des Bundespräsidenten weiß Gott nicht dienlich, wenn man es mit einem Mann besetzen will, dem man nicht für fähig hält, Kanzler zu werden. Das hieße doch: Na ja, für das Bundespräsidentenamt langt's gerade noch.«
Dagegen weben die Anhänger der neuen Vier -Punkte-Strategie eifrig an der Legende, der deutsch französischen Freundschaftsvertrag werde niemals zu segensreicher Wirkung gelangen, wenn gerade während seiner Anlaufzeit der anglophile Erhard als Chef in das Bundeskanzleramt einziehe. Deshalb müsse Konrad Adenauer mindestens bis 1964 im Amt bleiben. »An sich«, so ließ sich der rheinland pfälzische CDU-Professor Adolf Süsterhenn im »Rheinischen Merkur« vernehmen, »ist das patriarchalische Alter Konrad Adenauers kein Grund zum Rücktritt, da er an geistiger Beweglichkeit, nüchterner Urteilskraft und taktischer Gewandtheit manchen jüngeren Politiker mit Kanzler-Ambition übertrifft.«
Katholik Süsterhenn war es auch, der am vorletzten Wochenende vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU in Idar-Oberstein bekundete, daß über ähnliche taktische Gewandtheit von allen Kanzler-Aspiranten nur noch der Vorsitzende des Evangelischen Arbeitkreises der CDU, Außenminister Gerhard Schröder, verfüge.
So schwankt die Meinung der Christdemokraten in Bonn zwischen den Kanzler-Kandidaten hin und her. Während die träge Masse - erschrocken über das Berliner Wahl-Debakel - trotz aller Bedenken immer noch in Erhard die »Wahllokomotive« für die Bundestagswahl 1965 sieht, erwarten andere jetzt von Schröder die Rettung in der Schlacht gegen Willy Brandt.
Einig sind beide Gruppen nur darin, daß spätestens im Sommer dieses Jahres Klarheit über die Kanzler-Nachfolge und damit über den Mann bestehen muß, der in zwei Jahren die CDU/CSU in den Wahlkampf führen soll. Denn die Unschlüssigkeit über die Kanzler -Nachfolge wurde am Dienstag letzter Woche im CDU/CSU-Fraktionsvorstand als eine Hauptursache der Berliner CDU-Niederlage erkannt. Weitere Ursachen: das beklagenswerte Verhalten der Regierung und des Ex-VerteidigungsministersStrauß in der SPIEGEL -Affäre sowie die außenpolitische Schlappe bei Englands mißlungenen Beitritt zur EWG.
Da die Hauptakteure des Nachfolgespiels - Adenauer, Erhard und Schröder - nicht anwesend waren, vertagte Heinrich von Brentano solche kühnen Ideen: Eine Klausurtagung der CDU -Spitzengremien über die Nachfolgefrage könne frühestens nach Ostern stattfinden, denn auch die drei Abwesenden müßten dabei sein. Wegen ihrer Urlaubspläne werde man sie aber erst nach dem Kreuzigungs- und Auferstehungsfest zusammenbringen können. Über die Frage, welche Gremien der CDU eigentlich über den Kanzler-Kandidaten befinden sollen, wurde gar nicht gesprochen.
Bis dahin kann freilich das Nachfolge -Problem schon vorher im engsten Kreise gelöst worden sein. Bundesaußenminister Schröder wird bis Mitte nächsten Monats in Pontresina (Schweiz) seinen Winterurlaub absolvieren. Nur 80 Kilometer von Schröders Ferienort entfernt liegt des Kanzlers zweiter Wohnsitz Cadenabbia, wo Konrad Adenauer kurz nach den Iden des März zur Frühjahrskur erwartet wird.
Schon einmal - im Frühjahr 1959 war Konrad Adenauer vom Comer See mit dem folgenschweren Entschluß zurückgekehrt, auf die Kandidatur für das Bundespräsidentenamt zu verzichten und Kanzler zu bleiben. Und kurz zuvor hatte Gerhard Schröder damals das Urlaubsquartier seines Chefs aufgesucht.
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