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ZWEITSTIMMEN In fremden Teichen

Nur 6 von 100 Wählern wollen am 6. März ihre Erst- und Zweitstimmen »splitten«, stellte Infas für den SPIEGEL fest. Diese wenigen entscheiden viel, insbesondere über Leben und Tod von FDP und Grünen.
aus DER SPIEGEL 9/1983

Worauf es bei der Bundestagswahl am 6. März ankommt, wissen 60 von 100 wahlberechtigten Bürgern nicht.

So groß ist die Mehrheit derjenigen, die eine Frage des Bonner Infas-Instituts nach der Bedeutung der Erst- und der Zweitstimmen nicht richtig beantworten konnten. Bei einer Umfrage, die am 20. Februar - zwei Wochen vor der Wahl - abgeschlossen wurde, sagten nur 40 von 100 Befragten, daß über »die Verteilung der Mandate im Bundestag« die Zweitstimmen entscheiden.

Für den SPIEGEL ermittelte Infas diese Daten und erforschte überdies, welchen Gebrauch die Bundesbürger am 6. März von ihren beiden Stimmen machen wollen. Die Fragen hat Infas seit Anfang Januar regelmäßig gestellt und insgesamt 3000 Interviews durchgeführt, so daß auch die Entwicklung der Meinungen während des Wahlkampfes verfolgt werden kann.

Das wichtigste Ergebnis: Nur 6 Prozent der Bundesbürger wollen von der Möglichkeit des Stimmensplittings Gebrauch machen und mit ihrer Erststimme eine andere Partei unterstützen als mit ihrer Zweitstimme. Vor der letzten Bundestagswahl hatten Infas-Umfragen ergeben, daß 10 Prozent der Wähler splitten wollten.

Von der Minderheit der Splittingwähler hängt es ab, ob FDP und Grüne in den Bundestag einziehen.

Denn wohl alle Demoskopen sind sich darüber einig, daß die FDP nur mit fremder Hilfe, genauer: mit Zweitstimmen von CDU/CSU-Anhängern, über die Fünf-Prozent-Hürde kommen kann. Die 4 Prozent in den meisten Umfragen waren wegen der oft vertuschten Unschärfen der Demoskopie (SPIEGEL 8/1983) zwar kein Beweis, aber ein Indiz dafür.

Und die Grünen können der 5 oder sogar 6 Prozent, die ihnen die Umfrageinstitute über viele Wochen hin zusprachen, nicht sicher sein.

Alle Wahljahre wieder stellen die Meinungsforscher fest, daß die meisten Wähler mit dem Stimmen-Recht nicht vertraut sind. Kommt das Thema Zweitstimme im Wahlkampf hoch, so wird aus einer kundigen Minderheit eine Mehrheit, aber nur für wenige Wochen. Kurz vor der 1972er Wahl zum Beispiel kannten laut Infas 60 Prozent der Bundesbürger die Bedeutung der Zweitstimme, ein Vierteljahr später, im Februar 1973, waren es nur noch 23 Prozent.

Für die FDP hat der Kampf um die Zweitstimme eine lange Tradition. Seit 1949 war sie in Bonn meist Regierungspartei, und in steigendem Maße hat sie sich bemüht, dem größeren Partner Zweitstimmen abzujagen - bis 1965 der CDU/CSU, seit 1972 der SPD.

Die Wahlstatistik zeigt den Erfolg: Die Zahl der Splittingwähler hat sich mehr als verdoppelt, und zugleich hat sich die Differenz zwischen den relativ wenigen Wählern, die der FDP ihre Erststimme geben, und ihren relativ vielen Zweitstimmen-Wählern vergrößert.

Allerdings war bei Splittingwählern in den letzten Wahljahren schwer auszumachen, ob ein FDP-Anhänger seine Erststimme einem Direktkandidaten der SPD gab oder ob umgekehrt ein SPD-Anhänger die Zweitstimme der FDP zukommen ließ. Als Regel (mit vielen Ausnahmen) gilt, daß die politische Einstellung von Splittingwählern an der Erststimme zu erkennen ist; der »FAZ«-Herausgeber Fritz Ullrich Fack nennt sie deshalb die »Herzensstimme«.

In den siebziger Jahren waren die Fronten klar. Die Spitzen der SPD widersetzten sich den Versuchen des Partners FDP, unter ihren Wählern zu räubern, und Politiker der CDU/CSU mißbilligten die Zweitstimmen-Kampagnen der FDP als dubiosen Versuch, den Sieg der Koalitionsparteien bei allen Wahlen zu sichern. Der westfälische CDU-Chef Kurt Biedenkopf nannte »das sogenannte Stimmensplitting ein Stimmenmogeln«, und der »Deutschland-Union-Dienst« der CDU/CSU griff die FDP an, weil sie »in fremden Teichen nach Zweitstimmen fischt«. Die FDP rechnet nicht nur mit cleveren S.40 Splittingwählern, sondern spekuliert auch auf die Unkenntnis vieler Bundesbürger, die nur vom Wort »Zweitstimme« ausgehen und diesen Begriff ähnlich einordnen wie den Zweitwagen, die zweite Wahl und den zweiten Rang.

Noch 1980 verwahrte sich der »FAZ«-Herausgeber Johann Georg Reißmüller dagegen, daß die Aufteilung in Erst- und Zweitstimmen »zum Dummenfang benutzt« werde, etwa nach der Melodie: »Lieber Bürger, daß du deine prächtige Erststimme dem anderen geben wirst, nehmen wir, demütig, wie wir sind, als Schicksalsschlag hin. Aber so gib uns denn wenigstens die armselige Zweitstimme]«

Dummenfang gibt es auch 1983. Eigentlich, so scherzten Funktionäre der FDP-Zentrale in Bonn, könne man doch die Wahllosung ausgeben: »Bestraft Genscher. Deshalb diesmal nur die Zweitstimme für die FDP.«

Genscher und seine Freunde müssen sich mit ihrer Kampagne an ein völlig neues Publikum wenden, und erschwerend kommt hinzu, daß es bis tief in die Unionsreihen hinein eine kritische oder sogar negative Einstellung zur FDP gibt.

Allzu voreilig verkündete das Allensbacher Institut für Demoskopie Ende Oktober 1982: »Der Versuch, das Ende der SPD/FDP-Regierung als Verrat zu interpretieren, scheint bereits heute zum Scheitern verurteilt zu sein.« Laut Allensbach empfand nur noch eine Minderheit (35 Prozent) den Wechsel der FDP als Verrat, fast die Hälfte (48 Prozent) nicht.

Zwei andere Institute kamen später zu einem ganz anderen Ergebnis. Im November stellte die Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF, im Januar Emnid für den SPIEGEL fest, nach Ansicht einer Mehrheit von 58 Prozent der Bundesbürger seien »Untreue und Verrat« die angemessenen Ausdrücke, wenn vom Verhalten der FDP beim Regierungswechsel die Rede sei. Sogar jeder dritte CDU/CSU-Wähler pflichtete dieser Meinung bei.

Das Thema Strauß bringt noch viele Unionswähler in Konflikt mit ihren Parteien, aber die FDP bietet sich ihnen kaum als Alternative an. Die »FAZ« vorige Woche über Genscher im Wahlkampf: »Der Name Strauß fällt gar nicht.«

Infas stellte denn auch bei weitem nicht so viele Zweitstimmen-Zugänge bei der FDP fest wie noch im Jahre 1980. Damals hatten die Freien Demokraten laut Infas zeitweilig 7 Prozent mehr Zweit- als Erststimmen zu erwarten, und vor allem die massive Gegenkampagne der SPD reduzierte diesen Überschuß wieder. Er sank auf 2 Prozent und stieg bei der letzten Umfrage vor der Wahl auf 4 Prozent. Bei der Wahl wurden 3,4 Prozent ausgezählt. In diesem Jahr erhöhte sich die Differenz S.41 von Erst- und Zweitstimmen bei der FDP auf 2 Prozent, und dementsprechend wurden umgekehrt bei der CDU/ CSU Verluste festgestellt.

Zu der Minderheit von 6 Prozent, die splitten will, gehören neben den FDP-Helfern aus dem Unionslager auch etliche Individualisten, die sich fern jedem Trend entscheiden, sowie Wähler der SPD und der Grünen, die untereinander ihre Stimmen kreuzen, ohne daß ein eindeutiger Trend auszumachen ist.

Nach der bislang letzten Infas-Umfrage, abgeschlossen am 20. Februar, ist mit vier Parteien im nächsten Bundestag zu rechnen.

Die von Infas ermittelten Zweitstimmen-Prozente: 48 für die CDU/CSU, 41 für die SPD, 5 für die FDP und 5,5 für die Grünen.

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