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Artikel 77 / 169

STASI »In Kopfhöhe ausgerichtet«

Mehrere Krebsfälle bei ehemaligen DDR-Dissidenten haben den Verdacht aufkommen lassen, die Staatssicherheit habe Oppositionelle in der Haft strahlenverseucht. Ähnliche Überlegungen gab es - und auch eine mysteriöse Röntgenkanone.
aus DER SPIEGEL 20/1999

Das Dosimeter lag in der »Effektenkammer« der Stasi-Untersuchungshaftanstalt von Gera in einem verschlossenen Schrank. Auf die Frage, wozu denn dieses Gerät da sei, drucksten die anwesenden Leute des gerade aufgelösten Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) herum, es gehöre »zum Apparat« im Nebenzimmer. Die wenigen Mitglieder des Geraer Bürgerkomitees, die an jenem 27. Dezember 1989 den berüchtigten Stasi-Knast in der Rudolf-Diener-Straße betraten, sahen dort aber zunächst einmal nichts Besonderes.

Vor einer weißen Pappwand befand sich ein Stuhl aus der Gestapo-Zeit. Er ließ sich durch eine Hebelmechanik um genau 90 Grad drehen. So konnten die Wärter von den darauf sitzenden Gefangenen die üblichen Sträflingsfotos schießen: einige von vorn, einige von der Seite, jeweils mit Registriernummer. Ansonsten standen im Raum noch Scheinwerfer und Stative, mehr nicht.

Aber hinter der Pappwand war noch ein Vorhang. Als der aufgezogen wurde, entdeckten die Bürgerrechtler - in Kopfhöhe hinter dem Stuhl - ein merkwürdiges Röntgengerät. Die Besucher waren zwar befremdet, fotografierten den Raum und stellten noch Fragen nach Sinn und Zweck des mysteriösen Apparats, doch in den turbulenten Wendetagen ging die Sache am Ende unter. Bei einer späteren Besichtigung war das Gerät spurlos verschwunden.

Für einige der damals Beteiligten ist die Aufklärung des bizarren Fundes jetzt, zehn Jahre später, jedoch wieder höchst aktuell. So war der Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern, Jörn Mothes, Ende März auf Spurensuche im Geraer Stasi-Gefängnis, das noch immer als Haftanstalt dient. Mothes fordert, daß Staatsanwälte endlich seine Strafanzeige wegen »mißbräuchlicher Anwendung von Röntgengeräten durch das MfS« verfolgen, bevor das Gefängnis samt Fotoraum demnächst wie geplant abgerissen wird.

Eine Reihe von Indizien spricht seiner Ansicht nach dafür, daß mit der Strahlenkanone mißliebige Häftlinge im Rahmen von »MfS-Zersetzungsmaßnahmen« unbemerkt verseucht wurden - um ihnen langfristig Schäden zuzufügen. Eine Theorie wie aus einem James-Bond-Film.

Aber drei der prominentesten DDR-Dissidenten sind in den letzten Jahren in der Tat an seltenen Arten von Leukämie oder anderen Krebsleiden erkrankt. So starb Rudolf Bahro 1997 an einem Non-Hodgkin-Lymphom, vergangenes Jahr verstarb der Leipziger Liedermacher Gerulf Pannach ebenfalls an Krebs. Letzte Woche erlag schließlich der Schriftsteller Jürgen Fuchs, erst 48 Jahre alt, einer seltenen Blutkrebsart, dem Plasmozytom. »Jürgen Fuchs hegte die Vermutung, daß seine tödliche Krankheit nicht gottgewollt war, sondern menschengemacht«, so der Bürgerrechtler und Fuchs-Freund Wolf Biermann (siehe Seite 318).

Alle drei Krebsopfer saßen längere Zeit in Stasi-Haft. Einige Ex-Oppositionelle mögen ihr Schicksal nicht als Zufall abtun: Eindeutige Belege für Langzeit-Mordanschläge sind in den Akten der Betroffenen zwar nicht zu finden, doch es gibt Indizien. Auch läßt sich beweisen, daß die Stasi überlegte, wie Menschen durch Strahlen geschädigt werden können - etwa durch eine Ausarbeitung, die 1988 bei der Stasi-nahen »Sektion Kriminalistik« der Ost-Berliner Humboldt-Universität entstand.

Auf 911 Seiten wird da unter dem Studien-Titel »Toxdat« jede nur erdenkliche Möglichkeit aufgeführt, wie man Menschen durch Gift ums Leben bringen kann. Die Studie nennt mehr als 200 toxische und strahlende Substanzen und beschreibt detailliert, wie sie eingesetzt werden könnten.

Im Kapitel »Schädigung durch Beibringung radioaktiver Stoffe« werden in dem Toxdat-Papier Radionuklide besonderer Gefährlichkeit genannt, von Strontium-90 bis Plutonium-238 - aber auch »Mikromengen abgebrannter Brennstäbe« aus Kernkraftwerken. Solche Stoffe würden beim Menschen eine »kombinierte Schädigung« hervorrufen, »da der resultierende biologische Effekt aus einer chemischen (Gift) und einer physikalischen (Energie) Wirkung resultiert«. Beigebracht, »beispielsweise in Speisen und Getränken«, bewirkten sie »zu Siechtum führende Blut/Knochenmarkschäden und Krebs«.

Diese Wirkungen ließen sich bereits mittels »Dosen im Mikro- bis Milligrammbereich« erzielen. Aus der langen Zeit zwischen Attacke und Ausbruch von tödlichen Krankheiten ergebe sich ein »hohes Verschleierungspotential«. Schon »während der langen Latenzzeit manifestieren sich irreversible Schäden«, ohne daß der Betroffene etwas davon wahrnehme.

Bereits in den siebziger Jahren waren Stasi-Mitarbeiter zudem im Umgang mit Radionukliden und in »nichtmedizinischer Röntgentechnik« ausgebildet worden. Das geht aus einem anderen Dokument hervor, dem MfS-Jahresbericht der »Hauptabteilung XXII« von Januar 1979. Die Stasi-Leute arbeiteten - laut einer »Aufgabenstellung des Dienstbereiches 2« - »an der Anwendung radioaktiver Isotope«.

Ausgerechnet die MfS-Bezirksverwaltung Gera, Betreiberin der Strahlenkanone, zeigte sich nachweislich nicht zimperlich im Umgang mit radioaktiver Materie. Ihre »Abteilung 26« übergab im Dezember 1978 in der Geraer Stasi-Zentrale strahlendes Material an einen aus Jena angereisten MfS-Mann. Der benutzte es, um einem im Kombinat Carl Zeiss Jena tätigen Physiker kontaminierte Akten unterzuschieben. Der Agent sollte den Wissenschaftler mit Hilfe radioaktiver Spuren der Spionage überführen können. Er selbst durfte nur 20 Minuten Kontakt zu den gefährlich strahlenden Papieren haben.

Den Verdacht, daß die Strahlenkanone im berüchtigten Gefängnis der Geraer Stasi gegen mißliebige Bürger eingesetzt worden sein könnte, nährt auch die kaum glaubhafte Aussage des dortigen letzten Stasi-Chefs Michael Trostorff. Im Dezember 1989 beantwortete er die Frage nach dem Zweck der Anlage damit, daß sie »zum Kontrollieren von West-Paketen an die Untersuchungshäftlinge gedient« habe. Die Geraer Gefangenen bekamen aber nicht gerade massenhaft West-Pakete. Außerdem erinnert sich der Jenaer Bürgerrechtler Thomas Auerbach ebenso wie andere Häftlinge: »Wenn etwas von draußen kam, erhielten wir die Sachen stets ausgepackt in einer offenen Holzkiste.« Warum sollte die Stasi Pakete durchleuchten, die sie ohnehin öffnet? Und warum sollte sie ein Gerät zur Postkontrolle dort verstecken, wo Häftlinge fotografiert wurden?

Ein Geraer Röntgentechniker sah sich in den Wendetagen die Anlage genauer an, bevor sie für immer verschwand. Der Fachmann entdeckte, daß es sich keineswegs um ein Industrie-Serienprodukt handelte, sondern um unorthodox »zusammengestellte Komponenten« auf Basis »eines Generators TuR DE 824501«. Die Anlage verstieß gegen DDR-Gesetze, war illegal und nicht angemeldet beim DDR-Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz. Durch »die fehlende Fixierung des Strahlers« konnte der »auf den ca. einen Meter davor befindlichen fest am Boden verschraubten Stuhl in Kopfhöhe ausgerichtet« werden.

Wurde der Primärstrahl auf einen Menschen gerichtet, der auf dem Stuhl saß, betrug die Dosis bei einstündiger Bestrahlung 1,1 Gray. Krebspatienten erhalten in der Strahlentherapie 40 bis 60 Gray pro vierwöchigen Behandlungszyklus. Die Geraer Maschine war somit viel zu schwach, um zu töten, dazu bedarf es intensivster Ganzkörperbestrahlung. Auch um einen heftigen Strahlenkater, Hautrötung oder Haarausfall zu erzeugen, hätte das Opfer mindestens zehn Stunden lang damit traktiert werden müssen. Aber mit dem Gerät konnten die Stasi-Leute Opfern Strahlendosen verpassen, die hoch genug waren, um nach einigen Jahren möglicherweise Blutkrebs auszulösen.

Schriftliches zum Einsatz der Strahlenkanone hat die Stasi in Gera kaum hinterlassen. Zu finden sind ein paar Einmeßprotokolle der Anlage, die beweisen, daß sie zwischen 1976 und 1983 in Betrieb war. Die nach der Entdeckung befragten Stasi-Leute gaben an, der Apparat sei »höchstens zehnmal benutzt« worden, seit einem Defekt 1983 dann nicht mehr - angeblich, so ein Stasi-Mann, »weil der bestellte Monteur bis zur Auflösung des MfS 1989 nicht gekommen« sei.

Man konnte den Apparat auch von außen einschalten, und es war üblich, daß Strafgefangene allein im Fotoraum warten mußten. Dissident Auerbach erinnert sich noch genau, daß er einmal drei Stunden auf dem Stuhl sitzen mußte - ohne daß jemand anders den Raum betrat. »Es gab recht häufig Fototermine, die sich meist eine Weile dahinzogen, selbst kurz vor meiner Abschiebung 1983 saß ich auf dem Stuhl«, sagt auch der ehemalige Gera-Häftling Roland Jahn, Bürgerrechtler aus Jena.

Bei Sitzungen des »Runden Tischs« und unter Stasi-Auflösern kursierten im Januar 1990 Berichte darüber, daß in den Fotoräumen anderer Haftanstalten zwar keine kompletten Geräte mehr zu finden seien, jedoch noch Reste: ein Sockel etwa, eine Bleiglasscheibe, ein Dosimeter.

Handfeste Belege gibt es dafür allerdings nicht - weder in Magdeburg noch in Berlin-Hohenschönhausen, wo Jürgen Fuchs neun Monate einsaß. Als er wegen seines Blutkrebses Strahlentherapie erhielt, erinnerten ihn die Nebenwirkungen an die »schlagartigen Gesundheitsveränderungen« bei Stasi-Fototerminen, die ihn »körperlich reduzierten«. Damals habe er angeschnallt auf dem Stuhl gesessen und ein sehr lautes Lampengeräusch vernommen.

Alles Einbildung? Möglicherweise. Nur wurde im Mai 1990 hinter einem Vorhang im Regal des Fotoraums von Hohenschönhausen ein Lehrbuch für Strahlenkunde entdeckt.

Sehr konkret sind die Erinnerungen des Geraers Wolfgang Schatzberg an den Stasi-Knast in Chemnitz. Er durfte sich auf dem dortigen Fotostuhl nicht rühren: »Hinter mir gab es, kaum war ich allein, ein seltsames Geräusch. Ich traute mich zuerst nicht, dann hob ich den Vorhang etwas an und sah einen Röntgenapparat.« Sein Schreck war groß, ihm dämmerte: »Das war gefährlich. Ich drehte mich von der Kante des Stuhles zum Boden hin, versuchte, meinen Kopf in Deckung zu bringen, wollte wenigstens aus dem Hauptstrahlenbereich heraus.« Schatzberg hat inzwischen Strafanzeige erstattet.

Die Mitarbeiter der Magdeburger »Gedenkstätte Moritzplatz« wollen es ihm jetzt nachtun. Ehemalige Insassen des dortigen Gefängnisses berichten, sie seien auffallend oft unmotiviert geröntgt worden. Eine weitere Strafanzeige ging bereits bei der Berliner Staatsanwaltschaft ein, vom Jenaer Maler Frank Rub. Der Freund und Mitstreiter von Fuchs erhofft sich etwa durch Untersuchungen der Räume in Gera und Berlin-Hohenschönhausen neue Hinweise.

Daß es kaum Dokumente über mörderische »Zersetzungsmaßnahmen« gab, hatte System, das belegt ein Stasi-Protokoll von 1988. Darin forderten Mitarbeiter freie Hand: Sie wollten die übliche Bürokratie umgehen, um keine Spuren zu hinterlassen. Es ging, so das Protokoll, »um die Orientierung, alles allein zu entscheiden, es darf keiner wissen, keine Hinweise auf Abstimmung/Bestätigung«.

Daher wurde, so ein leitender Berliner MfS-Mann laut Protokoll, »entschieden, alle Aufzeichnungen/Unterlagen zu vernichten«, denn: »Das Zeug mußte weg.« Ein anderer MfS-Offizier, spezialisiert auf die Bekämpfung von Bürgerrechtlern wie Ralf Hirsch und Roland Jahn, sagte, worum es ging: »Zum Beispiel hatten wir Gedankengänge, Ralf Hirsch, der viel trank, in einer strengen Winternacht Alkohol einzuflößen, daß er erfriert; weitere Vorstellungen an Zersetzungsmaßnahmen bestanden im Anbohren der Bremsleitung von Autos, in Paketen enthaltene Flaschen was reinmischen.«

Dabei war den Stasi-Leuten etwa im Fall Hirsch (Operativvorgang »Blauvogel") laut Protokoll »unklar, wie weit man bei Zersetzungsmaßnahmen gehen kann«, wenn schriftliche Genehmigungen und Unterschriften von Diensthöheren fehlen. »Es muß aber was gemacht werden«, so das Fazit der Offiziere, also: »Jeder macht etwas nach seinem Gefühl.« PETER WENSIERSKI

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