MITBESTIMMUNG In letzter Minute
Die Genossen freuten sich schon auf die Heimreise. Lustlos erledigten sie in der Essener Grugahalle Parteitagsroutine. Da schreckte Herbert Wehner die abgeschlafften Delegierten des SPD-Wahlparteitages auf.
»Wir werden alles in Bewegung setzen«, donnerte der SPD-Fraktionsvorsitzende ins Mikrophon, »um diesen Versuch, die Montan-Mitbestimmung vom Grunde auf kaputtzumachen, zu verhüten.« Und: »Wer heute daran rührt, der rührt an den Nerv der zweiten Republik.«
Das war am 10. Juni. Sechs Tage später klärte der Stratege auf, weshalb er das Thema so hoch gehängt hatte: Ohne Wenn und Aber und ohne jede Absprache mit dem Partner FDP versprach Wehner den Stahlarbeitern in der Gewerkschaftszeitung »Metall«, seine Fraktion werde »umgehend, noch in den nächsten Tagen« einen Gesetzentwurf zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung »einbringen und verabschieden«.
Die Liberalen, dem gewerkschaftsfreundlichen Montan-Modell ohnehin wenig zugetan, waren irritiert. »Das ist stark«, wetterte FDP-Generalsekretär Günter Verheugen, »das konnte Wehner natürlich nicht machen. Denn zum Verabschieden braucht er ja eine Mehrheit.«
Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff warnte vor einer »Lex Mannesmann«. Bundesinnenminister Gerhart Baum sorgte sich: »Das ist ein Dilemma für die Koalition. Bisher gibt es keinen Gesetzentwurf, den nicht beide Koalitionsparteien getragen hätten. Wenn das jetzt in letzter Minute passiert, ist das eine gewichtige Sache.«
Die Bedenken der Liberalen ließen die SPD-Fraktion kalt. Am Dienstag der vergangenen Woche bestellte sie eine Arbeitsgruppe, die unter Vorsitz des Gewerkschaftssekretärs Hans-Eberhard Urbaniak ein Regelwerk ausdenken soll, das jeden Eingriff in die Montan-Mitbestimmung verhindert. Das vielstimmige »Ohne uns« aus den Reihen der Liberalen tat Urbaniak ab: »Die FDP hätte guten Grund, sich anzuschließen.«
Drohend erinnerte der Abgeordnete an den 18. Dezember 1968. Da habe die SPD-Fraktion einen Gesetzentwurf über die paritätische Mitbestimmung ohne ihren damaligen Koalitionspartner, die CDU/CSU, eingebracht. Urbaniak: »Das war der Anfang vom Ende der Großen Koalition.«
Zum Scheidungsgrund für die sozialliberale Ehe gerät die Montan-Mitbestimmung vor dem Wahltag wohl nicht mehr. Das Thema wird aber bei den Koalitionsverhandlungen nach dem 5. Oktober eine entscheidende Rolle spielen, wenn die Partner wieder SPD und FDP heißen.
Ausgelöst hatte den Koalitionszwist vor einigen Wochen der Mannesmann-Vorsitzende Egon Overbeck. Er will seinen Konzern so organisieren, daß nur noch die Stahlwerker und Röhrenproduzenten, zusammengefaßt in einem Tochterunternehmen, in den Genuß der Montan-Mitbestimmung kommen. Die Holding für den Gesamtkonzern soll künftig nur noch den milderen S.22 Auflagen des sozialliberalen Mitbestimmungsgesetzes von 1976 unterliegen.
Der Unterschied ist erheblich. Seit 1951 werden in der Montan-Industrie -- Eisen, Stahl und Bergbau -- die Aufsichtsräte paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern besetzt. Im Konfliktfall gibt ein »neutraler Mann« den Ausschlag, auf den sich beide Seiten einigen müssen. Das Wahlverfahren sichert den Gewerkschaften starken Einfluß.
Beim allgemeinen Mitbestimmungsgesetz, das seit 1976 für alle Kapitalgesellschaften mit mehr als 2000 Beschäftigten gilt, hat die FDP eine solch starke Position der Gewerkschaften verhindert. Die darin verankerten Sonderrechte für leitende Angestellte sind den Arbeitnehmerfunktionären ebenso zuwider wie die Bestimmung, daß bei Konflikten die Kapitalseite im Aufsichtsrat das letzte Wort hat.
Um den sozialliberalen Kompromiß den Gewerkschaften überhaupt schmackhaft zu machen, rang die SPD ihrem liberalen Bremser damals eine Besitzstandsklausel ab: Die Montan-Mitbestimmung, so heißt es im Koalitionsgesetz, gelte unverändert weiter.
In dem Versuch des Mannesmann-Managers Overbeck, diese Klausel zu umgehen und der Gewerkschaftsfuchtel zu entkommen, sehen DGB und SPD einen ersten organisierten Angriff auf ihr Montan-Reservat. Wenn Mannesmann damit durchkäme, würden schon bald andere Unternehmen folgen. Ihr von Wehner unterstütztes Verlangen: Das Schlupfloch soll per Eilgesetz geschlossen werden.
Die Freidemokraten dagegen können, so ihr wirtschaftspolitischer Sprecher Dieter Julius Cronenberg, »keinen Handlungsbedarf« für den Gesetzgeber erkennen. Es dürfe deutschen Unternehmen doch wohl nicht verboten werden, durch sinnvolle Organisationsreformen der Montan-Mitbestimmung zu entfliehen.
Auch Friedrich-Wilhelm Hölscher vom linken FDP-Flügel sekundiert: »Wir lieben die Montan-Mitbestimmung ja nicht gerade.« Und Eberhard Hofmann, Sprecher der FDP-Fraktion, erinnert daran, daß die Montan-Mitbestimmung in den Freiburger Thesen der Liberalen durch ein weniger weitgehendes Modell abgelöst worden ist.
Die Prognose Wehners, die SPD-Fraktion werde mit einem Gesetzentwurf vorpreschen, hat auch im Kanzleramt »Irritationen« ausgelöst. Es gebe dort mehrere Leute, formulierte ein Schmidt-Helfer vorsichtig, welche »die Idee mit dem Gesetz nicht gut finden«.
Sie glauben, daß sich Wehner nicht durchsetzen kann. Der Konflikt mit der FDP sei unmöglich bis zum 5. Oktober zu lösen. Und die Hilfe des Arbeitnehmerflügels der Union zu suchen könne sich die SPD nur leisten, wenn sie die Partnerschaft mit der FDP platzen lassen wolle. Oft genug hat Wehner verkündet, Abstimmungen mit wechselnden Mehrheiten seien der Tod der Koalition.
Der Streit über die Mitbestimmung hat Bundeskanzler Helmut Schmidt alarmiert. »Direkt oder indirekt«, das hat er sich vorgenommen, will er auf Mannesmanns Unternehmensleitung und die IG Metall einwirken, den Konflikt in der Vorwahlzeit nicht zu weit zu treiben.
Ziel Schmidts ist es, Zeit zu gewinnen. Deswegen will er Overbeck dazu bewegen, die Konzernreform nicht schon in der Aufsichtsratssitzung am 26. Juni auf den Tisch zu legen. Nur so könnte auch die SPD-Fraktion zum Stillhalten bewogen werden.