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ENTSPANNUNG In Lincolns Bett

aus DER SPIEGEL 23/1956

Im Auditorium Maximum der Baylor -Universität, einer von Baptisten geleiteten Hochschule im amerikanischen Gliedstaat Texas, zelebrierten Professoren und Studenten eine akademische Feier:

Einem bekannten Politiker wurde - wie das so Sitte ist - die Würde eines Ehrendoktors verliehen.

Der Geehrte war der Präsident der Vereinigten Staaten, Dwight D. Eisenhower. Er besitzt bereits 37 solcher Doktorhüte.

Was der Ehrendoktor Eisenhower jedoch in seiner Festrede am Freitag vorletzter Woche verkündete, hatte erheblich größeren Seltenheitswert als die ihm verliehene Würde. Statt seine Zuhörer - den Gepflogenheiten prominenter Festredner entsprechend - über den Wert politischer Pakte, strategischer Bündnisse, militärischer Stützpunkte oder allenfalls wirtschaftlicher Abkommen aufzuklären, entwickelte er vor dem Auditorium einen visionären kulturpolitischen Zukunftsplan.

Er forderte die Universitäten der Vereinigten Staaten auf, überall in der Welt und besonders in den unentwickelten Gebieten Asiens und Afrikas Niederlassungen zu gründen, von denen aus die Idee der Freiheit und der Demokratie ausstrahlen soll.

»Die Grundsätze menschlicher Freiheit und der freien Regierungsform« fuhr Eisenhower fort, »sind kraftvolle Quellen menschlicher Energie, Loyalität und Hingabe. Sie sind mächtiger als Rüstungen und Armeen. Sicherheit kann nicht durch Waffen allein erzielt werden, gleichgültig wie zerstörerisch die Waffen sind oder wie groß ihre Anhäufung ist. Heute ist lebenswichtig, daß wir und andere die Mittel und Wege entdecken, die kulturelle und wirtschaftliche Hilfe zu einem Instrument zu machen, das für die Stärke, Festigkeit und Solidarität der freien Welt wichtiger ist als militärische Maßnahmen.«

Die Rede des Präsidenten der Vereinigten Staaten fiel aus zwei Gründen aus dem Rahmen üblicher akademischer Feiertagsphrasen.

Die Worte Eisenhowers - »wir und andere« sollten neue und nicht nur militärische Maßnahmen zur Festigung des Friedens suchen - waren unverkennbar an die Adresse der Sowjets gerichtet und können nur als ein Versuch aufgefaßt werden, die Bemühungen der Moskowiter um die Entspannung der internationalen Atmosphäre zu ermutigen. Das »lautlose Gespräch« über eine Verständigung zwischen den beiden Atom-Weltmächten, das seit Monaten zwischen Washington und Moskau im Gange ist, wurde damit -

was den amerikanischen Partner betrifft

- zum erstenmal hörbar.

Zum anderen war die Rede Eisenhowers, in der er die militärische Bereitschaft nur als eines von vielen und durchaus nicht als das beste Mittel bezeichnete, den Weltfrieden zu erhalten, eine Absage an den politischen und militärischen Glaubenssatz eines halben Jahrhunderts, in der gesamten Staatspolitik müßten militärpolitische und strategische Erwägungen stets den Vorrang, das »Primat«, haben.

Die Forderung nach dem Primat der Militärpolitik wurde in der neueren Geschichte von dem deutschen Generalstabschef Alfred Graf von Waldersee verfassungspolitisch konzipiert und mit allen Mitteln der Intrige durchgesetzt.

Waldersees Nachfolger, Alfred Graf von Schlieffen, übersetzte die neugewonnene Machtstellung der Militärpolitik in das Strategische. Da er voraussah, daß Deutschland in einem Kriege an zwei Fronten kämpfen würde, plante er, durch einen Feldzug zunächst die Gegner des Reiches im Westen zu schlagen, um sich dann mit geballter Kraft gegen den Feind im Osten zu wenden. Die Präventivkriegsthese gehört seit jenen Tagen zum Instrumentarium aller Militärpolitiker, die das Primat der Strategie verlangen.

Obgleich die strategische Konzeption Schlieffens bereits im Frühstadium des ersten Weltkrieges zusammenbrach, wurde die ihr zugrunde liegende These vom Primat der Strategie durch den zweiten Weltkrieg hindurch bis in den Kalten Krieg hinübergerettet. Sie bestimmte gleichermaßen die aggressive Außenpolitik Stalins und die Reaktionen des Westens:

die Gründung des Atlantikpaktes (Nato), der Südostasiatischen Verteidigungsorganisation (Seato) und die Bildung eines luftstrategischen Gürtels rund um die Sowjet -Union.

General Curtis LeMay, der Befehlshaber der strategischen Bomberwaffe, wurde auf

amerikanischer Seite der Exponent einer Präventivkriegsstrategie, während sich die Sowjetarmee durch alle Truppengattungen hindurch für einen Überraschungsangriff auf den Westen vorbereitete.

Die Wende trat ein, als Stalin starb. Das neue Führer-Kollektiv in der Sowjet -Union proklamierte die Parole von der Koexistenz zwischen Sozialismus und Kapitalismus und machte sich - mit einer Rubeloffensive in die unentwickelten Gebiete Asiens und Afrikas - daran, den Vorrang des strategischen Denkens abzubauen, nachdem die Chancen eines Angriffs immer geringer und die Risiken immer größer geworden waren.

Die Reaktionen auf die Abwertung des Primats der Strategie waren sowohl bei den Sowjets als auch bei den Amerikanern die gleichen. Die Generale rebellierten.

In der Sowjet-Union kam es nach dem 20. Parteikongreß im Februar um die Frage der Reduzierung der sowjetischen Streitkräfte zu einer Auseinandersetzung zwischen Verteidigungsminister Marschall Schukow und der politischen Führung. Die

Kontroverse endete mit dem Sieg der Politiker über die Strategen (SPIEGEL 21 / 1956); die sowjetischenStreitkräfte werden nun, trotz der Einwände der sowjetischen Militärs, 1,2 Millionen Mann entlassen.

Die Rebellion der amerikanischen Militärs gegen die Entwertung ihrer strategischen Glaubenssätze begann in allerÖffentlichkeit Ende Mai, als General Curtis LeMay, der Befehlshaber der interkontinentalen Langstreckenbomber vom Typ B-52, vor einem Parlamentsausschuß seine Überzeugung verkündete, die Luftrüstung der Sowjet-Union werde - insbesondere auf dem Gebiet der interkontinentalen Bomber - zwischen 1958 und 1960 die der Vereinigten Staaten überflügeln. Das Gebiet der Vereinigten Staaten sei dann auf Gedeih und Verderb den Sowjets ausgeliefert.

LeMays düstere Mahnung, die der Ahnung entstammte, daß durch die neusten politischen Entwicklungen die Vorrangstellung der Militärs bedroht sei, war als ein psychologischer Schock auf das Sicherheitsbedürfnis der amerikanischen Bevölkerung gemünzt. Präsident Eisenhower griff sofort in die Debatte ein und erklärte, daß die Stärke der Vereinigten Staaten nicht allein durch die stärkste Offensivwaffe der USA, sondern durch die gesamten Streitkräfte Amerikas repräsentiert werde.

Hinter dieser vorsichtigen Formulierung verbarg der Präsident der Vereinigten Staaten den Kern seiner neuen Vorstellungen, daß sich nämlich die Epoche des Primats der Strategie dem Ende nähert.

Amerikas Generale revoltieren

Eisenhower wurde sowohl von seinen Militärs als auch von den Verbündeten Amerikas gründlich mißverstanden. In Europa wurden Eisenhowers Worte als ein Bekenntnis zur atlantischen Gemeinschaft und als eine Zurückweisung isolationistischer Tendenzen in den Staaten kommentiert. Die Hamburger »Welt« ließ sich von ihrem Washingtoner Korrespondenten kabeln -.Die Zurückweisung des Prioritätsanspruches von Curtis LeMay

durch Eisenhower ... war eine ins Militärische übertragene Entscheidung zugunsten des politischen Bündnissystems der Vereinigten Staaten gegenüber allen denkbaren Neigungen, die Auseinandersetzung mit der russischen Weltmacht als eine Angelegenheit zu bewerten und zu planen mit der Amerika notwendigenfalls auch allein fertig werden könnte.«

Innerhalb der amerikanischen Streitkräfte aber brach alsbald eine sensationelle Fehde aus, die der Militärkritiker der »New York Times« als eine »Schlacht zwischen den Truppengattungen« bezeichnete. Der demokratische Präsidentschaftsbewerber Kefauver nannte den Streit einen »nationalen Skandal«. Die einzelnen Wehrmachtteile veröffentlichten Stabsmemoranden und strategische Studien, in denen jeweils die Berechtigung des Prioritätsanspruchs der Luftwaffe vor Marine und Heer oder umgekehrt »bewiesen« wurde.

Der Krach, der daraus entstand, offenbarte die Führungskrise der amerikanischen Streitkräfte die Nervosität der Generale und Stabsoffiziere und die Unsicherheit, die im Offizierskorps durch die neuen politischen Entwicklungen entstanden ist. Die psychologische Wirkung auf die schockierte Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten war alarmierend.

Verteidigungsminister Wilson, die Minister für die einzelnen Wehrmachtteile, ihre Staatssekretäre und der Vorsitzende des Gremiums der Generalstabschefs versuchten, die Öffentlichkeit zu beruhigen. In einer Pressekonferenz am Montag vorletzter Woche verurteilte der Verteidigungsminister die »Revolte der Generale« und sagte: »Es ist das Recht und die Pflicht jedes höheren Offiziers, seinen Standpunkt zu erklären, aber es ist nicht seine Aufgabe, einen psychologischen Krieg gegen andere Waffengattungen zu beginnen.«

Der Verteidigungsminister versuchte im übrigen, den Streit zwischen Heer, Luftwaffe und Marine als einen Familienkrach im Pentagon zu bagatellisieren. Auf den Kern der Problematik ging erst einige Tage später Präsident Eisenhower ein. In einer Pressekonferenz stellten ihm die Washingtoner Journalisten eine vorsichtige, auf seine Herzschwäche berechnete Frage:

»Ihr Verteidigungsminister hat uns berichtet, daß Sie über die Streitigkeiten zwischen den Waffengattungen etwas unglücklich sind.«

Eisenhower benutzte diese Gelegenheit, um eindeutig festzustellen, daß jenes Primat der Strategie das in den letzten Jahrzehnten immer wieder die Außenpolitik bestimmt hat, überholt ist. Er sagte: »Wir gehen durch eine Periode des Wechsels, des Fließens hindurch, in der wir jene Doktrinen verlassen, die bislang bei den Streitkräften heiliggehalten wurden: wir befinden uns im Übergang in eine andere Welt, der auch die Militärpolitik, die Organisation der Streitkräfte und ihre Ausrüstung berühren wird.«

Wenige Stunden nach jener Pressekonferenz überraschten die Sowjets Washington mit einer Einladung, die im Pentagon »Zeichen des Schreckens« - so der Korrespondent der »Neuen Zürcher Zeitung« -

auslöste und dort als »peinlich« - so die »New York Times« - empfunden wurde Der Luftattaché der Sowjet-Union in Washington, Oberst Philip Bachinski, fragte im Pentagon an, ob der Stabschef der amerikanischen Luftwaffe, General Twining, eine Einladung zum 24. Juni dem Tag der sowjetischen Luftwaffe, annehmen würde.

Am Mittwoch letzter Woche wurde die sowjetische Einladung trotz der Bedenken des Pentagons auf Anordnung des Präsidenten angenommen. Gleichzeitig lief im Weißen Haus das Gerücht um, daß Eisenhowers Freund aus den Tagen des letzten Krieges, der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Schukow, zu einem Gegenbesuch in die Vereinigten Staaten eingeladen werden soll.

Das Weiße Haus wie der Kreml wollen offenbar auf diese Weise die Stimmung in

ihrer eigenen Generalität »entschärfen«, um jenes gemäßigte Klima zu schaffen, das für eine Eröffnung der Friedensgespräche zwischen Washington und Moskau notwendig ist.

Dieser große Plan hat jedoch auf beiden Seiten nicht nur militärische Gegner. Der inzwischen zurückgetretene sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow lehnte es mit bittersüßer Miene ab, sich über die Einladung Twinings nach Moskau zu äußern. Am gleichen Tage erklärte Amerikas Außenminister John Foster Dulles, der sowjetische Schritt mißfalle ihm und verließ beleidigt Washington zu einem Erholungsurlaub auf der Enteninsel im Ontario-See, seiner privaten Zufluchtsstätte.

Gleich Molotow steht Dulles auf dem Aussterbeetat. In Washington ist es ein offenes Geheimnis, daß Dulles wenig Chancen hat, Außenminister des zweiten Kabinetts Eisenhower zu werden. Molotow

stand schon seit langem auf der Pensionsliste.

Kandidat für den frei werdenden Außenministerposten in Washington ist der amerikanische Abrüstungsbeauftragte Harold E. Stassen, der während der Londoner Abrüstungsbesprechungen gemeinsam mit seinem sowjetischen Partner Gromyko den Plan ausgetüftelt hatte, General Twining nach Moskau einzuladen. Beide sind sich durch die Londoner Verhandlungen sehr nahegekommen.

Die Gegner jenes neuen Trends in der amerikanischen Außenpolitik sind vornehmlich auf dem rechten Flügel der Republikaner zu finden. Sie befürchten, diese Entwicklung werde dazu führen, daß die Vereinigten Staaten den Status quo in Europa und Asien - einschließlich der Teilung Deutschlands - billigen müßten und daß - wie es der republikanische Fraktionsvorsitzende Knowland ausdrückte

- »Chruschtschew und Bulganin nach

Washington kommen werden, um in Lincolns Bett zu schlafen.«

Eisenhowers 38. Doktorhut: »Wir befinden uns im Übergang in eine neue Welt!«

USA-Außenministerkandidat Stassen

Die neue Außenpolitik..

... verlangt unbarmherzig ihre Opfer: Dulles und Molotow

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