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BADEN-WÜRTTEMBERG In Schlangenlinien

aus DER SPIEGEL 46/1966

Der Richter verhängte 1000 Mark Geldbuße. Verurteilt wurde eine Ehefrau, bestraft jedoch ihr Ehemann.

Offen bekannte Landgerichtsdirektor Karl Heinrich Schulz in seiner Urteilsbegründung vor der 5. Kleinen Strafkammer in Stuttgart: »Obwohl die Angeklagte nichts verdient, haben wir auf eine Geldbuße in dieser Höhe erkannt, denn zur Zahlung ist ja der Ehemann verpflichtet.«

Schuld an dem, was in der Nacht zum 26. Januar 1966 geschah, war nämlich so fanden die Juristen - nicht allein Frau Voll.

Trunken war Hannelore Voll, Graphikerin und Mutter von drei Kindern zwischen zwölf und zwei Jahren, am Steuer ihres weißen Fiat 850 die abschüssige Straße aus einem Stuttgarter Vorort in Schlangenlinien hinabgefahren. Als ein Streifenpolizist den Wagen stoppte und die Tür öffnete, sackte ihm die Fahrerin halb bewußtlos in die Arme. Sie sah, so bekundete der Polizeibeamte, »zerzaust aus, sie hatte Blutspuren an den Händen und im Gesicht«.

Es waren die Spuren einer Meinungsverschiedenheit im Hause Voll. Ehemann Egon, Designer von Beruf, der sich von seiner Frau die Bücher führen ließ, war in Rage geraten, als er Geld für eine Steuerzahlung herausrücken sollte.

Trostsuchend griff Frau Hannelore zur Schnapsflasche, doch ihr Gatte griff zur Gewalt und drang mit Fäusten auf sie ein. Blutend flüchtete die Frau aus dem Haus. Befund der Polizei: 2,4 Promille. Dieses Quantum genügte dem Stuttgarter Amtsgericht. Im Juli kam das Verdikt der ersten Instanz: acht Tage Gefängnis ohne Bewährung und Führerscheinsperre für fünf Monate wegen Trunkenheit am Steuer.

Die Berufungsrichter jedoch werteten die Tatumstände anders. Sogar der Staatsanwalt forderte Bewährungsfrist und eine Herabsetzung der Führerscheinsperre auf drei Monate.

Denn: »Die Angeklagte hatte in panischer Angst das Haus verlassen. Daß sie den einen Kilometer bis zum Arzt um Mitternacht nicht gelaufen ist, kann man ihr nicht verübeln, wenn man einmal bedenkt, wieviel nächtliche Überfälle schon auf Frauen verübt worden sind.« Und Kammer-Vorsitzender Schulz entschied gnädig: »Die Angeklagte hat keinesfalls frivol gehandelt, wie es leider 95 Prozent aller Fahrer nach Alkoholgenuß tun.«

Frivol dagegen schien ihm das Tun des Ehemannes nach der Flucht seiner Frau: Der hatte telephonisch die Polizei auf den weißen Fiat aufmerksam gemacht. Schulz: »Wer seine Frau schlägt, sie zum Weglaufen zwingt, dann aber die Polizei benachrichtigt, der möge auch eine kräftige Buße zahlen.«

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