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»In seiner Art schon ein genialer Kerl«

Seine Denkmäler sind gestürzt, seine Schriften eingestampft. Und doch ist Josef Stalin, über ein Vierteljahrhundert lang Parteichef und Despot der Sowjet-Union, auch heute noch im Sowjetreich gegenwärtig. Die Russen haben die Vergangenheit, soweit sie Stalin heißt, nicht bewältigt. Er gilt ihnen als Sieger über Hitler.
aus DER SPIEGEL 52/1979

Wenige Sowjet-Bürger erinnern sich seiner noch leibhaftig, niemand diskutiert über seine Taten und Untaten, sein Name wird selten erwähnt -- mit gutem Grund: Seiner Herrschaft fielen ungefähr 20 Millionen Sowjetbürger zum Opfer, so viele, wie durch den Überfall Hitler-Deutschlands ums Leben kamen.

So grandios und erfolgreich wie Stalin hat nicht mal Hitler seine Umwelt getäuscht -- über den Tod hinaus. Noch heute glauben viele Sowjetbürger, daß die Hekatomben von Opfern nur ein angemessener Preis für den Aufstieg der Sowjet-Union aus Armut und Anarchie gewesen seien.

Stalins außergewöhnlichem Talent, seine Mitmenschen irrezuführen, unterlagen sogar die später hingerichteten Angeklagten seiner berüchtigten Schauprozesse: Sie glaubten, der große Diktator wisse von dem allen nichts.

Was für ein Mann: Roosevelt meinte, mit ihm »vernünftig reden« zu können, Truman sah in »Onkel Joe« den Gefangenen seines eigenen Politbüros. Aber Nachfolger Chruschtschow erklärte ihn 1956 in seiner sensationellen Abrechnung zum wahnhaften Massenmörder.

Sein Name wird historisch verbunden bleiben mit dem »Archipel GULag«, jenem Rußland der Zwangslager, in denen Millionen Arbeitssklaven zum höheren Wohl des Kommunismus arbeiteten und litten, mit den großen Schauprozessen der 30er Jahre, aber auch mit dem glorreichen Sieg über Hitler-Deutschland und der Ausdehnung des Reiches bis an die Elbe.

Stalins »gelbe Augen«, aus denen sein Widerpart Trotzki die schiere Mordlust las, wirkten auf den Moskauer US-Botschafter Davies ganz anders

* Linke Seite oben rechts mit einer Baumwollpflückerin, 12, die den Lenin-Orden erhielt; unten links mit Kriegsminister Woroschilow; rechte Seite oben rechts mit Politbüro-Mitgliedern, Mitte mit Lenin und Staatschef Kalinin, unten mit Dichter Maxim Gorki.

-- der empfand Stalins »braune Augen sanft und gütig«.

»Eine gewaltige Persönlichkeit, ein Asket, der das ganze riesige Reich fest in seinem eisernen Griff hält« war Stalin laut Hitler. Im Krieg sagte er mit einem gehörigen Schuß Bewunderung: »Stalin ist zur Hälfte ein wildes Tier, zur Hälfte ein Riese.«

War dieser Stalin nun ein Schurke von weltgeschichtlichem Format oder der treusorgende Landes- und Familienvater mit Pfeifchen im Mundwinkel und Tochter Swetlana auf dem Arm, wie ihn die offiziellen Bilder darstellten?

Ungewöhnlich, einmalig war dieser Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, der sich später »Stalin« (Der Stählerne) nannte, gewiß. Vor hundert Jahren, am 21. Dezember 1879, als Kind eines Schusters und einer Näherin in der kaukasischen Kleinstadt Gori geboren, Zögling am Theologischen Seminar von Tiflis, begann er mit 28 als bolschewistischer Terrorist, war mit 42 Generalsekretär der zur Staatspartei aufgestiegenen Bolschewiki, herrschte als Despot mehr als ein Vierteljahrhundert über Rußland und starb 1953 im Alter von 73 Jahren in seinem Amt. Dieser schreckliche Zar kam von ganz unten, von der letzten Stufe der Gesellschaft, keine Universität, keine Berufserfahrung, keine Weltläufigkeit hatte ihn für höchste Ämter qualifiziert. Unter seinen Parteigenossen war er denen, die ihn überhaupt kannten, unsympathisch wegen seiner scheinbaren Mediokrität -- außer seinem Förderer Lenin.

Er hielt sich gern im Hintergrund, gab sich in Kleidung und Rhetorik bescheiden und machte jene Arbeit, die seine intellektuellen Nebenbuhler scheuten: Akten zu lesen, mit Provinzdelegierten zu reden, Posten zu besetzen. Ehen damit schuf er sich unauffällig die Basis seiner Macht.

Über die nötigen Gaben eines Despoten, die zugleich eine Gefahr für ihn waren, verfügte der Georgier -- man könnte von einer hohen kriminellen Energie sprechen: mißtrauisch gegenüber seinen Freunden, brutal gegen seine Feinde, verschlagen, bar aller moralischen Bindungen. Er besaß Humor, doch selbst der war noch so vulgär wie sein Geschmack in Dingen der Kunst und Literatur, wie seine Vorstellungen von anderen Ländern, wie sein Urteil über die Juden, wie seine harten Trinkgewohnheiten.

Stalin war, auch darin seiner Umwelt überlegen, fleißig. Er arbeitete nachts und schlief am Tage. Und immer teilte er die Todesangst seiner Opfer: Er fürchtete, vergiftet zu werden.

Wie Stalin war, schildert der gebürtige Russe Michail Morozow, heute in der SPIEGEL-Dokumentation für die Sowjet-Union zuständig, in einer SPIEGEL-Serie, die im nächsten Heft beginnt.

»Der unsterbliche Name Stalins wird immer in den Herzen des Sowjetvolkes und der gesamten fortschrittlichen Menschheit leben«, verkündete Radio Moskau aus Anlaß seines Todes. Sein präparierter Leichnam wurde zunächst neben dem Sarg Lenins im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau ausgestellt, nach acht Jahren aber verbrannt und hinter dem Mausoleum an der Kreml-Mauer beigesetzt. Erst seit 1970 steht auf seinem Grabstein seine Büste.

Amtlich ist die Erinnerung an ihn in der UdSSR zurückgedrängt auf wenige Zeilen in den Geschichtsbüchern: Er beging »Fehler und Irrtümer«, die inzwischen berichtigt wurden, aber sein Herrschaftssystem hat -- ohne die Auswüchse -- überlebt. Seine Ära gilt als »Periode des Personenkults«, der zwar seine allzu bizarren Züge verlor, in dem sich aber noch Leonid Breschnew somit.

Gelegentlich erscheint Stalins Bild in zeitgeschichtlichen Filmen und dieses Jahr auch in einem Kalender, den der Moskauer »Politverlag« in einer Auflage von 15 Millionen Exemplaren herausgebracht hat (siehe Photo Seite 120). Wie ein Heiligenbild wird sein Porträt von Jugendlichen verehrt, die ihn nicht kannten, oder von Veteranen, die sein Andenken hochhalten.

Aber es wird vorwiegend im Untergrund verkauft. Die Stalin-Denkmäler im russischen Reich sind geschleift, keine Stadt, Straße oder Fabrik trägt mehr seinen Namen, seine Bücher sind eingestampft -- außer in der Sowjetrepublik Georgien, seiner Heimat.

Und außerhalb Rußlands ehrt man ihn nur noch in China, wo sein Konterfei stets neben dem von Marx, Engels und Lenin hängt, und in Albanien, dessen Diktator Enver Hodscha in seinen Memoiren allein Stalin unter seinen Zeitgenossen gelten läßt. Hodscha über die Säuberungen der 30er Jahre: »Stalin war ein großer Mann, ein großer Revolutionär, und er wird es durch die Jahrhunderte bleiben. Stalins Fehler, wenn es sie gab, sind gering.« »Ich glaube, daß sein Grab Telephonanschluß hat.«

Kein Sowjetbürger würde amtlich so zu reden wagen. Denn die große Sowjet-Union hat ihren Sohn Stalin bislang nicht bewältigt, müht sich vielmehr, mit wechselndem Erfolg, ihn zu verdrängen, mag ihn, kann ihn aber auch nicht preisgeben wie die Deutschen ihren Hitler.

Der hat immerhin Deutschland zerstört, unter Stalin aber hat Rußland gesiegt. So ist es erklärlich, daß er, trotz der öffentlichen Beinahe-Verbannung, in Wahrheit immer präsent blieb.

»Weitsichtig war er gewiß, und in den Listen des Kampfes mehr als gewitzigt, hat er dem Erdball noch Erben die Menge vererbt«, reimte vor Jahren der Sowjetpoet Jewtuschenko. »Ich glaube sogar, daß sein Grab Telephonanschluß hat ... Ergeben hat Stalin sich nicht, und Tote, so glaubt er, seien restaurierbar. Wer expediert Stalin nun aus dem Herzen der Nachfolger?«

Im vergleichsweise liberal gewordenen Sowjetregime von heute lebt Stalin weiter -- er hat dessen Institutionen begründet und mit Macht ausgestattet (obschon die Machtausübung an der Spitze viel komplizierter geworden ist), er hat die Alleinherrschaft der Staatspartei, die Allgegenwart der Polizei, das Meinungsmonopol des Staates, den Vorrang des Militärischen etabliert, und damit die Kräfte des größten Volkes Europas in bürokratische Fesseln geschlagen. Er hat an die Stelle der marxistischen Sozialutopie und ihrer Weltrevolution neue Ziele gesetzt: Staatsräson und imperialen Anspruch Rußlands. Und er hat dazu die Revolutionäre des Oktober 1917 ausgerottet, in dessen Namen er auftrat.

Einer hat das vorausgesehen: Lenin, der das Gewaltsystem begründet und den »wundervollen jungen Georgier« im April 1922 selbst zum Generalsekretär der Partei berufen hatte. Acht Monate später warnte Lenin vor dem »großrussischen Chauvinisten« in seinem Testament:

Seitdem Genosse Stalin Generalsekretär geworden ist, vereinigt er in seiner Hand eine ungeheure Macht, und ich bin nicht davon überzeugt, daß er diese Macht immer mit der gebotenen Vorsicht zu nützen wissen wird.

Zehn Tage danach fügte er hinzu: Stalin ist zu schroff, und dieser Fehler ... ist in dem Amt des Generalsekretärs untragbar. Deshalb schlage ich den Genossen vor, einen Weg zu suchen, um Stalin von diesem Posten zu entfernen und einen Nachfolger für ihn zu ernennen, der geduldiger, loyaler, höflicher, aufmerksamer den Genossen gegenüber und weniger launenhaft ist.

Nach Lenins Tod 1924 wurde dieses Testament dem Zentralkomitee bekanntgemacht, doch Lenins alter Kampfgefährte Sinowjew plädierte dafür, Stalin im Amt zu lassen. Sinowjew, Parteisekretär von Leningrad (und Chef der Kommunistischen Internationale), und Kamenew, Parteisekretär von Moskau, bildeten nämlich im Machtkampf um die Lenin-Nachfolge eine Koalition mit Stalin gegen den großen gefährlicheren Trotzki.

Schritt für Schritt wurde Trotzki, der Organisator der Oktoberrevolution und Gründer der »Roten Armee«, entmachtet, aus dem Politbüro, dann aus der Partei ausgestoßen. Stalin ließ ihn verbannen, ausweisen, schließlich im Exil ermorden -- ein Muster für Stalins späteren Umgang mit allen seinen Konkurrenten.

Das war schon grausig gekonnt: Gleich nach dem Sieg über Trotzki verbündete sich Stalin mit den drei anderen alten Lenin-Gefährten Bucharin, Rykow und Tomski gegen Sinowjew und Kamenew. Als die hingerichtet waren, sah er sich stark genug, gegen Bucharin, den »Favorit der Partei« (Lenin), den Premier Rykow und Gewerkschaftschef Tomski vorzugehen.

Stalin wollte Rußlands Rückständigkeit innerhalb eines Jahrzehnts beseitigen, die fortgeschrittenen Staaten des Westens »einholen und überholen«, der erste Fünfjahresplan sollte eine Steigerung der Industrieproduktion um 50 Prozent erreichen -- mit den Mitteln des Terrors.

Die Gewerkschaften hatten nicht mehr die Interessen ihrer Mitglieder, sondern den Willen des Arbeitgebers Staat zu vertreten. Durch ein extremes Akkordsystem sollte das Letzte aus den Arbeitern herausgeholt werden. Wer sich mehrmals am Arbeitsplatz verspätete, den erwartete eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten.

Finanzieren sollten dieses Wirtschaftswunder Rußlands Bauern, die dafür freiwillig nicht zu gewinnen waren. Stalin verordnete ihre Enteignung und Zwangskollektivierung in halbstaatlichen Betrieben ("Kolchose") -- eine Rückkehr zur Leibeigenschaft.

Die Bauern streikten, schlachteten ihr Vieh ab. Eine Hungersnot brach aus, die über zehn Millionen Tote forderte. An mehreren Orten kam es zu Kannibalismus.

Doch wer sich der Kollektivierung widersetzte, wurde erschossen oder deportiert. Die Regierung ließ ganze Dörfer von Soldaten einschließen und die Übergabe mit MG-Feuer erzwingen. Bei der Kollektivierung kamen insgesamt 3,5 Millionen Bauern ums Leben, ebenso viele wurden als »Kulaken« (angebliche Großbauern) in Arbeitslager verbracht, wo sie fast alle starben.

Doch für seine Bauvorhaben in unwirtlichen Gegenden, für Kanäle und Eisenbahnen, Holzfällerei und Bergbau brauchte Stalin Millionen Arbeiter, die als Lohn lediglich bescheidenste Verpflegung erhielten. In der allgemeinen Verlustwirtschaft der UdSSR waren die Lager, so Ex-Kommunist Karlo Stajner ("7000 Tage in Sibirien"), die einzigen Betriebe, die Gewinn abwarfen. So wurden weiter Zwangsarbeiter rekrutiert -- aus allen Bevölkerungsschichten.

»Wir mußten dem Land die Sporen geben.«

Von 1936 bis 1950 lebten nach Schätzungen des britischen Forschers Robert Conquest, die durch die sowjetische Bevölkerungsstatistik weithin bestätigt werden, ständig etwa acht Millionen Sowjetbürger in Zwangsarbeitslagern. Die jährliche Sterbequote betrug rund zehn Prozent, so daß dort weitere zwölf Millionen Menschen ums Leben gekommen sein müssen.

»Wir mußten dem Land die Sporen geben, es war um hundert Jahre zurück in der Entwicklung und stand einer tödlichen Gefahr gegenüber«, begründete Stalin im Januar 1933 sein blutiges Regiment. Für diese Wiederkehr der Autokratie waren die Revolutionäre des Oktober 1917 nicht zu haben, für den bürokratisch-diktatorischen Aufbau eines rigorosen Staatskapitalismus waren sie nicht zu gebrauchen, und so ließ Stalin auch sie, die alten Bolschewiki, erschießen.

Während der Kollektivierung machte Stalins nächste Umgebung offenbar Anstalten, den Generalsekretär abzusetzen. Stalins Ehefrau Nadeschda Allilujewa protestierte offen gegen den Terror im Lande, wurde von Stalin schwer beschimpft und nahm sich darauf das Leben.

Der Nachfolger Sinowjews als Parteichef von Leningrad, Sergej Kirow, empfahl angeblich Abschaffung der Geheimpolizei; führende Genossen sahen in ihm wohl bereits einen Nachfolger Stalins.

Bis dahin hatte Stalin noch keinen einzigen Kommunisten erschießen lassen. Doch dann wurde Sergej Kirow in Leningrad ermordet -- mit Wissen, wenn nicht auf Befehl Stalins. Der Diktator berief sich selbst in eine Sicherheitskommission zur »Vernichtung der Volksfeinde«; sämtliche Parteimitglieder mußten sich einer Überprüfung unterziehen.

Während eine neue Verfassung dem Sowjetregime einen rechtsstaatlichen,

* Links: Kirow-Nachfolger Schdanow.

demokratischen Anstrich geben sollte, begann 1936 der erste Schauprozeß gegen 16 Alt-Genossen, darunter Kamenew und Sinowjew. Staatsanwalt Wyschinski forderte, »daß diese tollwütigen Hunde allesamt erschossen werden«. Sie wurden erschossen.

Angeblich hatten sie mit Trotzki und mit Hitler-Deutschland zusammengearbeitet. Im Januar 1937 fand der zweite Prozeß statt, gegen 17 Bolschewiken, darunter der deutsch-russische Revolutionär Karl Radek, im März 1938 der dritte gegen 21, darunter Bucharin und Rykow; Tomski hatte Selbstmord begangen.

Auf Flugblättern war ein Bucharin-Wort umgelaufen: »Stalin ist ein prinzipienloser Intrigant, der alles seinem Machthunger unterordnet ... ein neuer Dschingis-Chan, der uns erwürgen wird.«

Im Prozeß wagte allein Bucharin gegenüber dem Ankläger Wyschinski einige ironische Bemerkungen -- alle anderen Angeklagten aller anderen Prozesse legten sogenannte Geständnisse ab, entwürdigende Selbstbezichtigungen, und denunzierten unterwürfig Schicksalsgenossen.

Der ehemalige Berlin-Botschafter Krestinski widerrief einmal sein Geständnis; die Verhandlung wurde sofort unterbrochen. Am nächsten Tag gestand er und beklagte zudem sein »konterrevolutionäres Manöver« des Widerrufs.

In der Haft waren die Stalin-Opfer dem »Großen Konveyer« unterworfen, der pausenlosen Vernehmung durch wechselnde Verhörbeamte, Tag und Nacht, ein mitunter Wochen währender Schlafentzug. Ab August 1938 wurde die Prügelstrafe in das sowjetische Untersuchungsverfahren eingeführt.

So liquidierte Stalin die KPdSU, um sich eine neue zu schaffen, nach eigener Wahl. Von 1936 bis 1939 wurde die Hälfte der 1,2 Millionen alten Parteimitglieder verhaftet, nur 50 000 überlebten: Jeder zweite Verhaftete starb beim Verhör oder durch Hinrichtung, die anderen gingen im Lager zugrunde.

Die Bilanz dieser großen Säuberungen ist grausig, vor allem für Kommunisten:

* Von allen führenden Bolschewiki, die jemals von Parteigründung 1898 bis 1934 dem ZK angehört hatten, insgesamt 194 Genossen, ließ Stalin 104 erschießen, das sind (nach Abzug von 22 eines natürlichen Todes und sieben von eigener Hand gestorbenen sowie 16 mit ungeklärtem Schicksal) 69 Prozent.

* Von den 71 Mitgliedern des Zentralkomitees des Jahres 1934 ließ Stalin 44 hinrichten.

* Von den 1966 Delegierten des 17. Parteitages (1934) wurden 1108 verhaftet.

* Von den 115 Ministern des Sowjetstaates der Jahre 1917 bis 1934 wurden 61 erschossen.

»Das Opfer zu wählen«, so hatte Stalin früher einmal gegenüber Kamenew geäußert, »den Schlag umsichtig vorzubereiten, seine unversöhnliche Rache zu stillen und daun schlafen zugehen ... es gibt nichts Süßeres auf der Welt.«

Stalins Apologeten meinen, daß ihn nicht Mordlust trieb, daß vielmehr die Ausrottung der Bolschewiki ebenso wie die Expropriation der Bauern durchaus ihren ökonomischen Sinn gehabt habe -- gerade das jedoch widerspricht allen Tatsachen: Die kollektivierten Bauern haben sich bis heute außerstande gezeigt, Rußland -- das zur Zarenzeit Getreide und Butter exportierte -- ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. Die Staatsbürokratie erwies sich als unfähig, ein Land über die (schon zur Zarenzeit florierende) Rüstungsindustrie hinaus wirtschaftlich zu entwickeln.

1928, vor Beginn der Stalinschen Kraftakte, produzierte die Sowjetwirtschaft nach sowjetischen Angaben von den wichtigsten Gütern je Kopf ein Fünftel der in den USA hergestellten Mengen. Heute erreicht das sowjetische Sozialprodukt je Kopf immer noch ungefähr ein Fünftel des amerikanischen, die Wachstumsraten stagnieren, auch bei Stahl, Kohle, Erdöl.

Nicht einmal Stalins Zehnjabresziel für 1941, die rüstungswirtschaftliche Vorbereitung auf den drohenden Krieg, wurde erreicht, obwohl ab 1934 jedes Jahr eine Million Soldaten mehr rekrutiert wurde. »Hätten wir mehr Technik gehabt, wäre nicht soviel Blut geflossen«, läßt Sowjetautor Tschakowski in seinem Roman »Blockade« einen Leningrader Major sagen. Rußland wurde von der deutschen Invasion beinahe zermalmt; innerhalb eines halben Jahres standen die deutschen Aggressoren am Stadtrand von Leningrad und Moskau und hatten zwei Millionen Rotarmisten gefangengenommen. Daß Rußland dennoch siegte, war zum wenigsten das Verdienst des Diktators Stalin: Ihm wandte sich das russische Volk erst zu, als es nur die Wahl zwischen fremdem oder russischem Terrorregiment hatte.

Rußland siegte kraft der Tapferkeit seiner Soldaten, der Leidensfähigkeit seines Volkes, der Hilfe seiner westlichen Alliierten. Stalins persönlicher Beitrag zum Sieg aber, vor allem sein Gewicht als nationale Symbolfigur, wird durch Stalins Versäumnisse und Fehler mehr als wettgemacht. Er hatte sein Reich eben nicht auf den Krieg vorbereitet. Er ließ kurz vor Kriegsbeginn noch die Führung der Roten Armee liquidieren -- drei der fünf Marschälle wurden erschossen, 16 der 17 Armee-Kommandeure, 60 der 67 Korps-Kommandeure, 136 der 199 Divisions-Kommandeure. Zwei Drittel aller höheren Offiziere vom Obersten an aufwärts wurden ins Gefängnis geworfen.

Stalin war es, der Hitler die Möglichkeit verschaffte, den Zweiten Weltkrieg zu beginnen, indem er ihm zum Schock aller Kommunisten mit dem deutschsowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 den Rücken deckte. Bis zur letzten Minute glaubte Stalin nicht an Hitlers Angriff auf die UdSSR, und als es dennoch geschah, war Stalin die ersten Tage des Krieges verschwunden: Er, der mißtrauisch gegen jeden führenden Bolschewisten gewesen war, hatte absurderweise dem Nazi Hitler vertraut -- das war aber nur sein zweitschwerster Fehler.

Sein schwerster war wohl, daß er in seltsamer Verblendung sogar geholfen hatte, Hitler stark zu machen. Ex-Kommunist Karl Wittfogel: »Stalins Politik ermöglichte es Hitler, an die Macht zu kommen.«

Der amerikanische Rußlandkenner George F. Kennan sieht es so: Stalin habe Hitlers Triumph zwar nicht herbeigesehnt, aber auch nichts getan, um ihn zu verhindern. Kennan weiter: »Niemand kann, glaube ich, Stalins Verantwortung für das Versagen der Weimarer Republik in ihrer dunkelsten Stunde ableugnen.«

Von Lenin hatte Stalin gelernt, daß es besser sei, mit deutschen Konservativen zusammenzuarbeiten, als eine sozialistische Revolution zu fördern. So forcierte Stalin die geheime, später von Ossietzkys »Weltbühne« aufgedeckte Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee bei der Flugzeug-, Panzer- und Giftgasproduktion.

Stalin, der Machtpolitiker« baute auf den deutschen Anti- Versailles-Nationalismus, in dem er eine »Mine unter Europa« sah -- er hoffte auf einen Konflikt Deutschlands mit England und Frankreich. Mindestens hat Stalin den deutschen Nationalsozialismus unterschätzt -- er stufte ihn als einen Ableger des italienischen Faschismus ein. Noch heute verkleinern die Kommunisten mit der »Faschismus«-Vokabel das einzigartige deutsche Phänomen.

Stalins Fehlurteil ging so weit, daß er die deutsche Sozialdemokratie, die stärkste demokratische Partei der Weimarer Republik, 1929 sogar für gefährlicher erklärte als die Nazis, indem er sie als »Sozialfaschismus« diskreditierte. Dadurch spaltete er die deutsche Arbeiterbewegung, machte er die KPD, die Stalins Definition begierig aufgriff. »zu einem getarnten Bundesgenossen Hitlers«, so die deutsche Kommunistin Ruth Fischer.

Ab 1931, so behauptet auch Margarete Buber, die Lebensgefährtin des deutschen Kommunisten Heinz Neumann, »tat Stalin alles, um die Kampfkraft der KPD systematisch zu schwächen und auf diese Weise eine kommunistische Revolution zu verhindern«. »Vordringen in Richtung auf den Persischen Golf.«

Nach Hitlers Machtergreifung sagte Stalins Außenminister Litwinow zu dem deutschen Botschaftsrat Hilger: »Was geht es uns an, wenn ihr eure Kommunisten erschießt?«

Nach einer Zählung des Kommunismus-Experten Hermann Weber wurden von den 50 Spitzenfunktionären der alten KP 22 ermordet -- sieben in Nazi-Deutschland, elf in Stalins Sowjet-Union.

Die Herrscher Deutschlands und Rußlands, die sich gleichermaßen auf Partei, Polizei und Propaganda stützten, hielten sich gar gegenseitig für »Kerle": Stalin nannte Hitler gegenüber Heinz Neumann 1932 einen »Teufelskerl«. Hitler befand noch am 22. Juli 1942 beim Abendessen in seinem Hauptquartier, Stalin sei »in seiner Art schon ein genialer Kerl«.

Als Hitler im Mai 1940 zum Angriff auf Frankreich antrat, wünschte ihm Stalins Premier Molotow per Telegramm noch guten Erfolg -- und kassierte nach dem deutschen Sieg im Westen seine eigene Beute: die baltischen Staaten und das rumänische Bessarabien. Die Kumpanei der beiden Autokraten zerbrach nicht an der Ideologie, sondern an der Unvereinbarkeit ihrer imperialistischen Programme.

Als Molotow Ende 1940 nach Berlin kam und den Balkan, den Bosporus sowie Finnland forderte, bot Hitler der Sowjet-Union, was den Realpolitikern im Land zu phantastisch erschien: em Vordringen »in Richtung auf den Persischen Golf«.

Nach dem Scheitern dieser gespenstischen Verhandlungen über den »Nachlaß aus dem britischen Weltreich« gab Hitler die Weisung »Barbarossa« für den Angriff auf die UdSSR.

Als alles vorüber war, warb Stalin schon wieder um die Deutschen: »Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.« Seine Nachfolger zitieren dieses Wort nicht mehr, aber sonst nahmen sie viel aus seinem Erbe an.

Die Männer, die Rußland heute regieren, hatte Stalin selbst noch zur Führung berufen. Drei der 14 Politbüromitglieder von heute waren schon zu Stalins Lebzeiten in diesem obersten Machtgremium der UdSSR: Der gegenwärtige Parteichef Breschnew brachte es zudem unter Stalin schon zum ZK-Sekretär, Premier Kossygin zum Vizepremier, Chefideologe Suslow zum ZK-Sekretär.

Und weiter: Der heutige Verteidigungsminister Ustinow war damals (seit 1941) Rüstungsminister, der Staatssicherheitschef Andropow arbeitete im ZK-Apparat, Planungschef Baibakow war Minister für Erdöl, der heutige Bonn-Botschafter Semjonow Vize-Außenminister wie auch der heutige Außenminister Gromyko.

Auch die als Breschrew-Nachfolger in Frage kommenden Funktionäre entstammen der Schule Stalins: Kandidat Kirilenko war am Ende der Stalin-Ära Parteichef von Dnjepropetrowsk, Kandidat Grischin ZK-Mitglied und Zweiter Sekretär des Gebietsparteikomitees Moskau; heute ist er Erster Sekretär des Stadtparteikomitees Moskau.

Sind sie auch seines Geistes Kinder? Kehrt Stalin wieder? Stalins Schüler stehen einem Reich vor, dessen Grenzen noch der Diktator selbst gezogen hatte kein Landstück mehr und außer Ost-Österreich auch kein bißehen weniger. Dreimal mußten sie seit seinem Tode die Sowjetarmee einsetzen, doch nur zur Sicherung des von Stalin geschaffenen Bestandes.

Es ist auch in den Grundzügen noch sein System, mit dem sie regieren. Der erste Versuch einer Liberalisierung Ende der 50er Jahre durch den großen Reformer Chruschtschow ist vergessen, Solschenizyn, der damals seine Lager-Erzählung »Iwan Denissowitsch« veröffentlichen durfte, ausgewiesen, Chruschtschow selbst, anders als Stalin, nicht ehrenhalber an der Kremlmauer beigesetzt, sondern auf einem Vorstadtfriedhof.

Als ob das System nicht ohne Personenkult leben könnte, hat sich der Mann, der heute Stalins Amt versieht, auch wieder Stalins Titel »Generalsekretär« zugelegt, zum Marschall ernannt und 33 Jahre nach Kriegsende Stalins »Siegesorden« verliehen. »Unfähig, eine große Nation menschlich zu regieren.«

Er ist gewiß kein zweiter Stalin; den freundlichen Leonid Breschnew verbindet in Wahrheit nichts mit jenem Mann, den sein Biograph Edward Ellis Smith ("Der junge Stalin") so beurteilte: Treulos auch gegenüber seinen ergebensten Gefährten, war er des Verrats und sogar des Mordes an Freunden und Kameraden fähig ... In Stalins Charakter gab es kein Wohlwollen für andere. Sein Antisemitismus, seine Verachtung der Bauern, seine Geringschätzung der Intellektuellen, sein Haß gegen Autoren, die es unterließen, ihn zu vergöttern -- man könnte endlos fortfahren -, zeigen seine Unfähigkeit, eine große Nation menschlich zu regieren.

Die Gefährten, die dem derzeitigen Generalsekretär lästig wurden, landeten nicht mehr in Straflagern, wurden nicht mehr erschossen, sondern in den Ruhestand geschickt -- wenn auch immer noch ohne öffentliche Angabe des Grundes wie zuletzt das Staatsoberhaupt Podgorny.

Nein, die Bauern werden nicht mehr planmäßig pauperisiert, doch ihr Land erhalten sie auch nicht zurück. Die Arbeiter werden nicht mehr nach dreimaligem Zuspätkommen eingesperrt, aber die Gründung einer selbständigen, streikfähigen Gewerkschaft ist nach wie vor strafbar. Die Juden werden nicht mehr wie in Stalins letzten Jahren verfolgt, aber wieder diskriminiert. Die Schriftsteller dürfen weiterhin nur publizieren, was der Partei gefällt.

Die Zwangsarbeit von Millionen ist kein notwendiges Element der Volkswirtschaft mehr: Arbeitskräfte für Sibirien lockt man mit Lohnzuschlägen. Aber die Zahl der Inhaftierten betrug am 1. Januar 1977 schon wieder 2,1 Millionen.

Die provisorische Willkürherrschaft Stalins wurde in Gesetze gefaßt und damit stabilisiert. »Die nicht engagierten Durchschnittsbürger können ruhig schlafen«, urteilte der Moskau-Beobachter Christian Schmidt-Häuer. Doch auch zur Zeit der blutigsten Säuberungen Stalins ging das Leben der Moskauer Durchschnittsbürger weiter.

Stalins Sklavenhaltergesellschaft läßt sich gewiß nicht restaurieren -- unter anderem, weil die Funktionäre selbst nicht mehr um Leben, Freiheit oder auch nur den Posten bangen möchten. Aber ein aufgeklärter Stalinismus wird ohne Aussicht auf Änderung an der Macht gehalten.

Weil das Regime ohne Stalins Funktionäre nicht funktioniert, weil die Partei sich nicht selbst absetzen will und kann, wurde kein einziger der Henker, Lagerbewacher oder Schreibtischtäter der Stalinzeit jemals vor Gericht gestellt, kein einziger auch verlor wegen seiner Teilnahme an Stalins Verbrechen auch nur sein Amt. Deshalb auch wurde die Diskussion über den Stalinismus schleunigst wieder abgebrochen -- weil notgedrungen die Fragen nach den gesellschaftlichen Ursachen des »Personenkults« laut wurden, und ob die »Fehler und Irrtümer« denn nicht wiederholbar seien: War alles wirklich nur das persönliche Versagen eines einzelnen Mannes?

So bleibt denn das Stalinbild der heutigen Sowjet-Union zwiespältig. Die derzeitigen Führer der UdSSR haben sich nie öffentlich von Stalin distanziert, sie wehren sich gegen eine Offenlegung seiner Taten. Selbst Chruschtschow hatte in seiner Geheimrede von 1956-die bis heute nicht veröffentlicht, aber auch nicht dementiert wurde -- nur Stalins Verbrechen gegen die Partei aufgedeckt, doch nichts gesagt über Stalins Verbrechen gegen das Volk.

Die Wirklichkeit wird verschwiegen. Gegen die im SPIEGEL veröffentlichten Memoiren des Komponisten Schostakowitsch beispielsweise, seine Schilderung von Todesangst und Denunziantentum nach einem Stalin-Artikel in der »Prawda« von 1936 und einem ZK-Beschluß von 1948, polemisierte die Moskauer »Literaturzeitung«, wobei sie die Verfolgungen so umschrieb: »Kritik des Jahres 1948, die Schostakowitsch und andere Komponisten des Formalismus beschuldigte«.

So wurde der Parteitagsbeschluß von 1961, den Opfern des Stalinismus ein Denkmal zu errichten, nie verwirklicht und eine private Initiative Leningrader Bürger, das im Eigenbau zu tun, unterbunden. So gibt es auch längst keine »Rehabilitierung« von Stalin-Opfern mehr -- eine finanzielle Entschädigung gab es nie. Der von westeuropäischen Kommunisten unterstützte Antrag des Sohnes Bucharins, die Ehre seines Vaters wiederherzustellen, wurde voriges Jahr abgelehnt -- könnte heißen, daß Stalin das Politbüro-Mitglied Bucharin zu Recht erschießen ließ.

Ein Beamter der Parteikontrollkommission zu Bucharin junior: »Sie wissen, wie kompliziert die Situation gerade jetzt ist,«

Und so ziehen denn die Völker der Sowjet-Union weiter auf der von Stalin gewiesenen Straße, lassen sich weiter von Funktionären und Bürokraten kommandieren, nehmen die ihnen als Fortschritt angepriesene Mangelwirtschaft hin. Stalin hat sie wie die Zaren vor ihm gelehrt zu dulden -- zum Preis der Stagnation des Reiches.

Sie müssen weiter die Legenden vom treuen Landesvater glauben, die ihnen dieses Jahr der 20teilige Fernsehfilm vom »Großen Vaterländischen Krieg« ins Haus brachte. Die Serie zeigte Stalin wieder als den genialen Kriegsherrn -- und schloß mit dem beliebten Märchen, Hitler erlebe in der Bundesrepublik sein Comeback.

* Die Deutschen überreichen den Sowjets an der Demarkationslinie einen Blumenstrauß.

Sowenig in der Sowjet-Union eine Restalinisierung stattfindet, so klar wächst neuerdings die Schar jener, die sich doch nach Stalins starker Hand zurücksehnen.

Die jüngere Hälfte des Volkes weiß wenig über Stalins Missetaten. Schriftsteller Jewtuschenko fragte einmal Studenten, wieviel Menschenleben Stalin wohl auf dem Gewissen habe. »Zehn bis fünfzehn«, sagte einer. »Nein, viel mehr, bestimmt fünfzig oder hundert«, sagte ein anderer.

Nur einige Intellektuelle oder persönlich Betroffene erinnern sich mit Schaudern an die »Zeit der offenen Türen« -- so nennen die Russen die Jahre der morgendlichen Verhaftungen. Allerdings: Als ein französischer Mitarbeiter der Sowjetagentur »Nowosti« vor einiger Zeit auf der Suche nach Benzin an einem abgelegenen Ort der UdSSR im Morgengrauen an die Tür eines einsamen Hauses klopfte und das energisch wiederholte, weil er Licht gesehen hatte, öffneten die Bewohner nach längerem Warten -- und hielten ein gepacktes Köfferchen in der Hand. Fünftausend Offiziere

applaudieren seinem Namen.

Ehemalige Insassen des Archipel GULag, die überlebt haben, trösten sich damit, daß sie davongekommen sind, und erzählen sich wie alte Kriegskameraden, was sie damals alles erlebt und bestanden hätten. Ehemalige Frontkämpfer denken ohnehin nur an die Heldenzeit, in der Leben und Sterben noch einen Sinn hatten, in der es ein Ziel und einen Gott gab.

Und damals herrschte »Ordnung«. Die schlampige Arbeitsmoral, die allesfressende Korruption, Alkoholismus und Kriminalität -- »das hätte es unter Stalin nicht gegeben«, so heißt eine beliebte Redensart.

Damals war alles billiger, für einen Rubel konnte man sich vollessen und -trinken. Damals, so äußern sich Sowjetbürger immer wieder, wurde »energisch durchgegriffen«, die Jugend kam nicht auf dumme Gedanken, wir hatten eine Führung und ein Ziel, im Kreml brannte auch nachts noch Licht. Stalins Tenor? »Wo gehobelt wird, da fallen Späne.«

In Lkw und Taxis hängt Stalins Porträt gelegentlich an der Windschutzscheibe; ein Bild von Lenin oder gar Breschnew sah man dort noch nie. Hier und da verkaufen Hausierer eingerahmte Stalin-Bildchen für einen Rubel das Stück.

Auch amtlich ist der Georgier nicht mehr tabu, Kurz vor seinem 25. Todestag im vorigen Jahr erklärte Militärminister Ustinow im Kreml vor 5000 Offizieren und Kriegsveteranen in einem Rückblick: »Um alle Kräfte für die Abwehr und die Zerschlagung des Feindes zu mobilisieren, bildete man das Staatliche Verteidigungskomitee, zu dessen Vorsitzendem Genosse J. W. Stalin berufen wurde.«

Darauf brach ein Beifallssturm los -- zehn Sekunden lang. Ustinow mußte zweimal ansetzen, um mit seiner Rede fortzufahren. In der »Prawda«-Wiedergabe am nächsten Tag fehlte das Wort »Genosse«, der Applaus war protokolliert.

In den veröffentlichten Kriegserinnerungen der sowjetischen Generalität ist Stalin, der militärische Laie, der sich wie Hitler zum Oberbefehlshaber gemacht hatte, voll rehabilitiert.

Stalins Säuberungen werden vom Abreißkalender 1979 gerechtfertigt. Auf der Rückseite des Kalenderblattes vom 21. Dezember heißt es: Er »führte den Kampf gegen Trotzkisten, rechte Opportunisten, bürgerliche Nationalisten«.

Der Dichter Feliks Tschujew verbreitete ein Lied: »Stalin wird wiederkommen":

Setzt Stalin wieder auf den Piedestal, wir jungen Leute brauchen dieses

Ideal ...

Ihr, die ihr stürztet einst die Statuen zu seiner Huldigung, auf Knien werdet ihr ein jedes Stück davon einsammeln und das Volk bitten um Entschuldigung.

Schriftsteller Iwan Stadnjuk begann damit schon. Er veröffentlichte die Novelle »Krieg«, in der ein deutscher Schriftsteller Stalin fragt, ob denn unbedingt überall sein Bild hängen müsse. Darauf Stalin ("scherzend"): »Was soll ich tun? Bauern sind nun einmal so: Wenn sie lieben, lieben sie grenzenlos, wenn sie hassen, gehen sie gleich auf die Barrikaden.«

Ob denn sein Bild eine Rembrandt-Ausstellung krönen müsse, beharrt der deutsche Besucher. Stalin schiebt das auf Intellektuelle, die immer irgendwelche Hintergedanken hätten. »Dies wird sich nicht wiederholen.«

Ob es denn so schwere Strafen für Unmutsäußerungen gehen müsse, möchte der Deutsche wissen. Stalin: »Wir machen mit unseren Gegnern nicht viel Umstände.«

Schließlich fragt der Gast, ob denn die Bilder des Mannes mit dem Schnurrbart so groß ausfallen müßten. Der antwortet: »Der Mann mit dem Schnurrbart kann den richtigen Weg weisen, wenn es nötig ist, auf die Barrikaden zu steigen.«

Manche meinen wohl, es sei wieder nötig -- auch außerhalb der Sowjet-Union. Das SED-Organ »Neues Deutschland« veröffentlichte im Juli ein Stalin-Bild im Feuilleton und zitierte den Meister im August zur DDR-Gründung: »Wendepunkt in der Geschichte Europas.« Die Ost-Berliner »BZ am Abend« nannte ihn einen »hervorragenden und weitsichtigen Analytiker«. In der Prager Parteihochschule Ruzyne steht schon wieder seine Bronze-Büste.

»Warum wird der Name Stalins so selten erwähnt?« fragte ein Leser vor kurzem das englischsprachige Sowjetblatt »Moscow news«. Antwort der Redaktion: »Niemand hier verwehrt Stalin seinen Platz in der Geschichte.« Auch diese Zeitung pries Stalins Siege über »Trotzkisten und rechte Opportunisten«, mithin seine blutigen Parteisäuberungen.

Offenkundig bremst die derzeitige Führung. Breschnews letztes Wort zum Thema Stalin erging vor zwei Jahren aus Anlaß der neuen sowjetischen Verfassung: Einige Jahre der Sowjetgeschichte seien verdüstert worden »von ungesetzlichen Repressionen« von Verletzungen der Prinzipien der sozialistischen Demokratie und der Leninschen Normen ... Dies wird sich nicht wiederholen.« Der dazugehörige Name kam nicht über die Lippen.

Andererseits wächst doch in der UdSSR auch die Stimmung, sich von den unbeholfenen Versuchen einer Öffnung nach Westen wieder abzukehren, die diffizilen Verhandlungen über Abrüstung aufzugeben, den »Gürtel noch

enger zu schnallen«, ohnehin ständig hinausgeschobenen Zielen von einem höheren Lebensstandard und nachfolgenden Bürgerrechten Valet zu sagen:

Unter Militärs und hohen Bürokraten, beim ruhebedürftigen Mittelstand wie im desorientierten Volk, selbst unter der Jugend und in extremen Dissidentengruppen geht die Losung um, Rußland müsse sich wieder zu althergebrachten Werten bekennen -- der Abschottung gegen den zersetzenden Geist aus dem Westen, dem Verzicht auf materiellen Lebensinhalt zugunsten vaterländischer Ideale und militärischer Macht. Die Chiffre eines solchen großrussischen Nationalismus könnte immer noch Stalin heißen.

Kein Zweifel, daß Stalin manche außenpolitische Volte seiner Erben nicht gebilligt hätte, das Überengagement in fernen Erdteilen, auf allen Weltmeeren und im Kosmos. Er hatte sich im wesentlichen mit der Wiederherstellung der Grenzen des Zarenreiches von 1914 begnügt, ging über die Eroberungen von 1945 nicht hinaus.

Er ließ keine Hilfsvölker Kriegszüge für Rußland führen und bedrohte nicht Amerika. Friedlichen Eroberungen durch Einschüchterung und erzwungene Kapitulation gab er den Vorzug. Seine Außenpolitik -- fehlerhaft zwar -- war von Vorsicht und Kalkül bestimmt.

Gegen das abtrünnige Jugoslawien die Sowjetarmee einzusetzen, scheute Stalin zurück; seine Nachfolger, immerhin, marschierten gegen Ungarn und die Tschechoslowakei.

Stalin hat Rußland daran gehindert, mit seinen Menschen und riesigen Ressourcen ein blühendes Reich zu werden; er war in gewissem Sinn der Verderber seines Staates und seiner nächsten Nachbarn -- doch die Außenwelt kann sich über ihn nur wenig beklagen: Ihm genügte die gebührende Rolle in Europa, nach der Weltmacht griff er nicht, der Westen brauchte ihn insofern nicht mal zu fürchten.

Sowjetdichter Jewtuschenko richtete einst an seine Regierung die berühmte Bitte, die Wachen an Stalins Grabstein »zu verdoppeln, zu verdreifachen, daß Stalin nicht aufsteht, und die Vergangenheit mit ihm«.

An Stalins Grab steht keine Wache.

* Zum 21. Dezember 1979, Stalins 100. Geburtstag.

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