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»Inquisition und Zensur«

aus DER SPIEGEL 21/1991

Von seinem winzigen, mit Erinnerungsstücken und Büchern vollgestellten Zimmer hat der Politikprofessor James David Barber einen schönen Blick über den neogotischen Campus der Duke-Universität in Durham, Bundesstaat North Carolina. Wie Scholaren einer längst vergangenen Zeit können hier die Studenten, in Diskussionen über das Schöne, Wahre und Gute vertieft, unter Arkaden und Magnolien wandeln.

Die Idylle trügt. Für Professor Barber ist die heile Welt der Forschung und Lehre bedroht - von akademischen Eiferern und Bilderstürmern, die sich als Gedankenpolizisten aufspielen und das intellektuelle Erbe der westlichen Zivilisation abwerten wollen, von »Menschen, die weder den Mut noch die Fähigkeit haben, in die Politik zu gehen, aber an den Universitäten Politik zu machen versuchen«.

Barber, ein liberaler Mann, früher Vorsitzender von Amnesty International USA und als Verfasser eines Standardwerks über den »präsidentiellen Charakter« ein hochangesehener Wissenschaftler, sieht sich als Mitstreiter in einem Krieg, den er als epischen Kampf um die Zukunft der amerikanischen Universitäten versteht.

Ausgetragen wird er an allen wichtigen Colleges und Hochschulen des Landes, in Duke wie in Harvard, in Berkeley (Kalifornien) wie in Ann Arbor (Michigan).

Den Neuerern, die das akademische Establishment herausfordern, geht es um eine unerbittliche Bekämpfung von Vorurteilen sowie um die Ausdehnung der Rechte von Minderheiten und Benachteiligten. Dabei reicht es ihnen nicht, im täglichen Umgang auf dem Campus Rücksicht auf die Gefühle und den Stolz von Minoritäten zu nehmen. Deren Selbstbewußtsein soll vielmehr »affirmativ« gestärkt werden - auch durch eine radikale Umgestaltung von Lehrplänen und Unterricht.

Die Reformer erhoffen sich dadurch ein Ende historischer Diskriminierung und Schutz vor den sich häufenden Übergriffen gegen Minderheiten an amerikanischen Universitäten.

Doch dahinter verbirgt sich auch ein Frontalangriff auf die lange als selbstverständlich vorausgesetzte Überzeugung, daß die abendländische Tradition in der Kulturgeschichte der Menschheit den zentralen Platz einnehme.

Lehrpläne und Pflichtlektüre für amerikanische Studenten kleben nach Meinung der Reformer zu sehr am europäisch-weißen Kulturerbe. Dagegen setzen sie das Ideal einer »multikulturellen« Gesellschaft. Aus den Universitäten wollen sie das »Labor für ein neues Amerika« machen, in dem Repräsentanten aller Kulturkreise gleichberechtigt neben den europäischen Geistesgrößen der Vergangenheit stehen sollen.

Prominente amerikanische Schriftsteller wie William Faulkner oder Ernest Hemingway sind bereits ins Feuer der Umkrempler geraten. Statt eines Henry James möchten die Curriculum-Stürmer lieber einen nigerianischen Autoren als Pflichtlektüre, statt Thomas Jefferson wollen sie den algerischen Befreiungstheoretiker Frantz Fanon: Nichts mehr im traditionsverpflichteten Kanon der Universitäten ist heilig, alles steht zur Disposition.

Angeführt wurden die Herausforderer nicht von Studenten, sondern von Professoren und Lehrbeauftragten, Kindern der sechziger Jahre, die inzwischen Karriere gemacht haben. Hinter ihnen stehen feministische Studentinnen, Homosexuelle, Schwarze und Asiaten, Latinos und Linke.

Schon üben viele Universitäten unter ihrem Einfluß öffentliche Selbstkritik: »Sexismus und Rassismus« seien Folge der weißen Einheitskultur Amerikas, klärt eine Universitätsschrift in Durham Studienanfänger auf.

Der neue Verhaltenskodex, dem die Anhänger der »multikulturellen« Universität folgen, gebietet dagegen »politisch korrekte« Einstellung in Wort und Tat, Lehre und Forschung. »Politically correct«, im abkürzungswütigen Amerika »PC« genannt, heißt, an den Universitäten alle Anzeichen von verstecktem Rassismus, Sexismus und Klassenvorurteilen aus Sprache und Verhalten zu eliminieren.

Auf ihrer lobenswerten Jagd nach unzeitgemäßen Relikten des weißen Patriarchats scheuen die neuen Aufklärer allerdings auch vor Exzessen nicht zurück. Zehn grundsätzliche Verstöße zählt etwa ein Handzettel auf, den das renommierte Smith College in Massachusetts an Studenten verteilt. Als »Unterdrückung« deklariert das College auch den wohlgefälligen Blick aufs andere Geschlecht. Das sei »lookism«, worunter »die Konstruktion eines Maßstabs für Schönheit und Attraktivität« zu verstehen sei.

Ein Film, in dem eine Schwarze als Hausbedienstete vorkommt, mußte an der Harvard-Universität nach scharfen Protesten schwarzer Studenten abgesetzt werden. Eine Party von Mensa-Mitarbeitern unter dem Motto »Zurück in die fünfziger Jahre« erregte Anstoß, weil Schwarze in den amerikanischen Südstaaten damals offen diskriminiert wurden.

An der University of Connecticut wollten akademische Saubermänner Verhaltensregeln einführen, die »unangebrachtes Lachen« sowie »rücksichtslose Witze« auf den Index setzten.

Der Harvard-Historiker Bernard Bailyn behandelte in seinem Kurs über die Entwicklung der amerikanischen Bevölkerung den Brief eines Plantagenbesitzers aus dem alten Süden. Studenten verlangten, der Professor müsse auch den Brief eines Sklaven vorlesen. Bailyns Hinweis, daß Sklaven schon deshalb keine Briefe schreiben konnten, weil sie gehindert wurden, das Schreiben zu erlernen, fruchtete nichts - der Kurs wurde gestrichen.

Andere Universitäten belegen Sünder gegen den neuen Kanon mit empfindlichen Sanktionen. So drohte der Fachbereich Jura an der Universität Buffalo im Staat New York jedem mit »sofortiger und öffentlicher Verurteilung«, der sich »rassistische, sexistische, homophobe und antilesbische« Bemerkungen zuschulden kommen ließ - ein Katalog, den Kritiker für so allgemein gefaßt halten, daß seine strikte Anwendung zu einer Einschränkung der verfassungsrechtlich verbürgten Redefreiheit führen könne.

Viele amerikanische Professoren protestieren deshalb im Verein mit liberalen wie konservativen Medien. Hinter der Bewegung der »politisch Korrekten« wittern sie nicht ein Mehr an Aufklärung und Toleranz, sondern neue Unduldsamkeit, die heraufziehende Diktatur der Selbstgerechten.

Vor einem »Bildungssystem als politischer Tyrannei« warnt Professor Barber, vor einer Hexenjagd auf konservative Lehrer der prominente marxistische Historiker Eugene Genovese. Die PC-Gegner haben sich in einer eigenen Organisation zusammengeschlossen, der »National Association of Scholars«. Deren 1400 Mitglieder sind »dem rationalen Diskurs als der Grundlage akademischen Lebens« verpflichtet.

Auch die Regierung in Washington hat sich inzwischen in den Streit eingeschaltet: Der Ruf nach kultureller Vielfalt an den Unis könne »die Autonomie der Universität und die akademische Freiheit untergraben«, fürchtet Bildungsminister Lamar Alexander. Vor seinem Herzflimmern attackierte Präsident Bush an der Universität von Michigan den »Begriff ,politisch korrekt'«, der zu »Inquisition, Zensur und Unterdrückung« führe.

Wie die Diktatur der eurozentrischen Tradition zu brechen sei, hatte erstmals 1988 eine Allianz aus Frauen, Minderheiten und Linken an der Stanford-Universität in Kalifornien vorgeführt: Sie säuberte die Lehrpläne von den Werken »toter weißer Männer«. Erfolgreich forderten die Anführer die Aufstellung einer multikulturellen Bücherliste; statt Aristoteles und Lord Byron sollten Denker und Dichter unterdrückter Kulturen wie die guatemaltekische Indianerin Rigoberta Menchu oder die Afro-Amerikanerin Zora Neal Hurston gelesen und studiert werden.

Seitdem tobt der Kampf um die angebliche Zerstörung oder Bewahrung des westlichen Kulturerbes fast überall mit wachsender Schärfe. Polemische Ausfälle leisten sich beide Seiten. »Wenn die Zulus einen Tolstoi haben, werden wir ihn lesen«, beschied etwa der Literaturnobelpreisträger Saul Bellow diejenigen, die statt Shakespeare und Milton lateinamerikanische und afrikanische Dramatiker in den Lehrplan aufnehmen wollten.

Barber hat gegen eine Erweiterung des akademischen Kanons um exotische Autoren nichts einzuwenden, wehrt sich aber gegen Versuche, die Meinungsfreiheit zu beschneiden und Vorlesungen zur Indoktrination der Studenten zu benutzen. Voriges Jahr geriet er über die einseitige Literaturauswahl der universitätseigenen Buchhandlung so in Wallung, daß er alle Werke, deren Titel den Namen »Marx« aufwiesen, aus dem Regal zog und ihre Entfernung verlangte - nach seiner Zählung war es etwa jedes siebte Buch. »Das war natürlich schon ungewöhnlich«, lächelt der Professor etwas verlegen, »so etwas tut man normalerweise hier nicht.«

Die Aktion empörte vor allem Barbers Widersacher im Fachbereich angloamerikanische Literatur. Dort zerlegen Dekonstruktivisten und Marxisten, Feministinnen und Rezeptionstheoretiker Texte, bis sie jeden zeitübergreifenden Wert verlieren oder als Dokumente männlicher und rassistischer Unterdrückung enttarnt werden. Unter der Leitung von Barbers Intimfeind Stanley Fish gilt der Fachbereich Anglistik als derzeit heißester Tip für Literaturstudenten in den USA.

An der einst so beschaulichen Duke University wurde ein »Komitee zur Verhinderung von Diskriminierung im Klassenzimmer« eingerichtet. Die Menschenrechtsverteidiger sichteten prompt »gegen schwarze Studenten gerichtete respektlose Gesichtsausdrücke oder Körpersprache«.

Als sich etwa Dukes Universitätsarchitekt Larry Nelson abfällig über die Manierismen eines schwulen Jobsuchenden ausließ, griffen die Uni-Oberen hart durch: Nelson wurde einen Monat ohne Gehalt suspendiert und zu »freiwilliger Arbeit« - angeblich in eine Suppenküche - abkommandiert. Zusätzlich mußte er sich einem »Kurs zur Sensibilitätserweiterung« unterziehen.

»Solange es nicht ausartet, sorgt PC wahrscheinlich schon für größere Rücksichtnahme aufeinander«, verteidigt die Studentin Erin Sullivan die neuen Verhaltensregeln an der Hochschule. Als Nachteil empfindet sie, daß die Studenten von vornherein genau wissen, »was sie in ihren Seminararbeiten zu schreiben haben": Ist der Professor als PC bekannt, so hat es der Inhalt ebenfalls zu sein.

Gleich neben der Campus-Kirche ist die Redaktion der Studentenzeitung The Chronicle untergebracht. Redakteur Ben Pratt gesteht unumwunden ein, es gebe an der Uni noch immer »ein großes konservatives Element, das sich nicht artikuliert«. Entweder, meint er, paßten sich die Studenten »an die vorherrschende Norm an«, oder sie »halten sich aus der Politik völlig heraus«.

Das Oberlin College im Norden des Staates Ohio, traditionell eine der liberalsten Hochschulen des Landes, hat »schon immer Studenten mit einem sozialen Gewissen angezogen«, sagt Dekan Douglass Gardner. Teuer und elitär ist das College, hervorragend das Lehrangebot für die 2800 Studenten. Schwarze und Frauen wurden hier früher und in größerer Zahl als sonstwo in Amerika zugelassen.

Kaum irgendwo ist die PC-Revolution so weit fortgeschritten wie hier. Verwaltung mitsamt Professorenschaft sind sich einig im Bekenntnis zur Vielfalt, ja sehen sich schon an der Schwelle des »neuen Amerika«.

Aber was ist das für ein neues Land, das ihnen vorschwebt? Eine Gesellschaft, in der Toleranz und Sensibilität vorherrschen, oder eine, in der verschiedene Gruppen und Subkulturen sich gegeneinander abschotten? Nach dreieinhalb Jahren in Oberlin kam der Student Jesse Malkin im März in einer Brandrede vor dem Verwaltungsrat des Colleges zu dem Schluß, Oberlin biete »eine verzerrte Art von Vielfalt« - nicht eine Vielfalt »des Denkens, sondern der Rassen und sexuellen Präferenzen«.

Wie in einer unendlichen Zellteilung ist die Studentenschaft in zahllose Gruppen und Untergruppen auseinandergewuchert. Getrennt nach Rassen und Lifestyles wachen sie eifersüchtig darüber, daß keine Gruppe die Tabus der anderen verletzt. »Ihr Selbstverständnis kreist immerzu darum, was politisch korrekt ist«, spottet Michael Fraser, der sein viertes und damit letztes Jahr in Oberlin verbringt.

Als Mitglied einer Gruppe homosexueller Studenten hat Fraser erlebt, wie die Studentenschaft immer mehr zerfaserte: Schwarze Schwule fielen vom Verein ab und gründeten eine eigene Organisation, desgleichen schwarze Lesben, asiatischstämmige Schwule und weiße Lesben. »Jetzt ist es nahezu unmöglich, die gesamte Schwulenbewegung auf dem Campus zu einer gemeinsamen Aktion zu bewegen«, seufzt Fraser.

Oberlins PC-Wächter sezieren in einem Dauerprozeß jeden Aspekt des Campus-Lebens - eine Kontrolle, die gleichermaßen befreiend wie einschüchternd wirken kann. Obwohl er als Schwuler automatisch einer »unterdrückten Gruppe« angehört, bezeichnet Fraser die Sittenhüter manchmal als »PC-Faschisten«.

Einer schwarzen Studentin wie Dana Singfield, die aus der Großstadt Baltimore nach Oberlin kam, boten das Leben auf dem Campus und das Lehrangebot dagegen Gelegenheit, sich ihrer Identität als Afro-Amerikanerin bewußt zu werden. Zu Hause in Baltimore sei schwarzen Schulkindern »überwiegend weiße Geschichte« eingetrichtert worden. »Einmal im Jahr haben wir einen Monat schwarze Geschichte gehabt«, erinnert sich Dana.

Dem Prodekan Michael Zimmerman bestätigt dieses Beispiel einer erfolgreichen Selbstfindung, daß Oberlin auf dem rechten Weg sei. Ein gerade beschlossener neuer Lehrplan macht den Studenten auch das Studium nichteuropäischer Kulturen zur Pflicht.

Den Vorwurf, amerikanische Universitäten politisierten das Lehrangebot, um damit den Forderungen der Minderheiten nachzukommen, weist Zimmerman zurück. Das Curriculum sei schließlich »immer politisch gewesen«. Und wenn Oberlins Studenten kein klassisches Griechisch oder Latein lernten, so lernten sie dafür »eine Menge mehr über den Rest der Welt«. Oberlin bilde »für das 21. Jahrhundert«.

Das wird zweifellos ein Jahrhundert sein, in dem die USA zunehmend von Menschen geprägt sein werden, die ihre Wurzeln in der Dritten Welt haben. Schon jetzt sind die Schüler in Kaliforniens öffentlichen Schulen mehrheitlich nicht weiß. Die Mehrzahl der Studienanfänger an der University of California in Berkeley sind Latinos, Schwarze und Asiaten. Allein die Einwanderungswelle der achtziger Jahre schwemmte Millionen Neuankömmlinge aus Fernost, Lateinamerika und Südasien in die USA.

Warum also, wundert sich der Anthropologe Renato Rosaldo von der Stanford-Universität, die Angst vor akademischer Vielfalt, vor neuen Lehrplänen, die Geschichte und Kultur außereuropäischer Völker stärker berücksichtigen? Im Vorlesungszimmer fänden die Professoren die multikulturelle Gesellschaft bereits vor: »Die Studenten sind doch schon da, und gefallen lassen sie sich auch nichts.«

Der Streit um die Lehrinhalte, glaubt Dana Singfield, sei deshalb nichts anderes als die »Angst weißer Männer vor dem Machtverlust«. o

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