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SPD-PARTEITAG Ins Bein beißen

Das Godesberger Programm muß neu geschrieben werden. SPD-Programmierer Klaus von Dohnanyi Das ist ein Gag. Dohnanyi-Kritiker Herbert Wehner
aus DER SPIEGEL 21/1970

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands leistete sich auf ihrem Parteitag letzte Woche in Saarbrücken einen Gag.

Sie beschloß, ihr Godesberger Programm, die Neuzeit-Bibel der Partei, in wesentlichen Teilen »fortzuschreiben« (Partei-Präside Heinz Kühn). wenn nicht gar »über Godesberg hinauszustoßen« (Jungsozialist Norbert Gansel).

SPD-Chef Willy Brandt bestimmte die Richtlinien der Parteipolitik neu: »Was wir brauchen, ist ein gesellschaftspolitisches Gesamtkonzept, ein quantifiziertes Langzeitprogramm der deutschen Sozialdemokraten.« Und die Worte des Vorsitzenden einigten das über die Notwendigkeit einer neuen, progressiven Gesellschaftspolitik der SPD zerstrittene Parteivolk' von den linken Stürmern bis zu den rechten Verteidigern.

Brandts Chefansager Horst Ehmke juxte: »Jetzt fehlt nur noch, daß Udo Jürgens singt »Mit Willy, Willy, Willy geht die Sonne auf.« An Willy Brandts Sonne wärmten sich konservatives Partei-Establishment und progressive Jungsozialisten, deren Kontroversen um radikale, systemüberwindende Gesellschaftsreformen die Saarbrücker Heerschau in ein ideologisches Handgemenge zu verwandeln drohten.

Auch Wirtschaftsminister Karl Schiller, seit Monaten glücklos und schon politisch totgesagt, bekam vom Parteichef bestätigt, daß er der Partei-Solidarität wieder teilhaftig ist. Nach Schillers Rede lobte Brandt mit Handschlag: »Herzlichen Glückwunsch, Karl, das hast du gut gemacht.«

In Brandts »Langzeit«-Perspektive sehen beide Lager ihre Chance:

* Die Rechten hoffen, die Diskussion über die gesellschaftspolitischen Maximal-Ziele der Linken zu kanalisieren und ihre programmatische Annahme um zwei Jahre zu vertagen;

* die Linken hoffen, in der von Brandt eingeleiteten Programmdiskussion die Rechten zu überspielen und in den nächsten zwei Jahren eine permanente gesellschaftspolitische Debatte in Gang halten zu können. Die gemeinsame Geschäftsgrundlage für das Ausklammern des Konflikts auf dem Saarbrücker Parteitag hatte der SPD-Staatssekretär im Wissenschaftsministerium und Brandt-Intimus Klaus von Dohnanyi mit seinem Antrag Nummer 1335 geliefert. Danach soll der Parteivorstand eine Kommission berufen, die bis zum ordentlichen Parteitag 1972 Alternativvorschläge für ein »langfristiges, quantifiziertes und konkretisiertes gesellschaftspolitisches Programm« ausarbeitet. Alle diese Vorschläge müssen auf ihre Kosten berechnet und auf ihre wirtschaftliche Auswirkung untersucht werden. Von 1972 an wählt der Parteitag eine ständige Programm-Kommission mit dem Auftrag, von Jahr zu Jahr die gesellschaftspolitischen Zielprojektionen weiterzuentwickeln.

Den Linken kam die gemeinsame Plattform zupaß, nachdem sie durch taktisches Ungeschick und übereifriges Debattieren gleich am Anfang die schweigende Mehrheit der Delegierten verprellt und damit Skepsis gegen ihre eigenen Reformanträge gesät hatten.

Ursprünglich wollten sie den Parteitag dafür gewinnen, Großvermögen und hohe Einkommen entscheidend höher zu besteuern und damit die ungerechten Vermögensverhältnisse zugunsten der Kleinverdiener zu korrigieren sowie einen Vermögensfonds zur Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben aus Gewinnabgaben der Unternehmer zu bilden. Drastische Abgaben auf Grund und Boden sollten die Grundstücksspekulation bannen.

Aber schon am Eröffnungstag hatten sich die Jungsozialisten von Berufstaktikern wie Kanzleramtsminister Horst Ehmke in langatmige Debatten über die Verurteilung der US-Invasion in Kambodscha und der deutschen Waffenlieferungen für das Obristenregime in Griechenland verwickeln lassen. Als das Parteitagspräsidium schließlich verärgert eine Fülle von Anträgen in Rekordzeit durchpeitschte' rutschte dem Juso-Chef Karsten Voigt der Vorwurf der »Manipulation' heraus. Das Reizwort isolierte die Jusos.

Sie gerieten vollends ins Hintertreffen, als ihr Vize Norbert Gansel den Delegierten »mit kalter Arroganz«, so der gelernte Betonfacharbeiter und Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium Holger Börner, vorwarf: »Noch nie war eine Generation von Altsozialisten so arrogant und so tierisch ernst wie hier auf diesem Parteitag.« Die Masse der Delegierten solidarisierte sich mit ihren Oberen. Das Establishment triumphierte.

NRW-Ministerpräsident Kühn: »Wir haben hier viel mehr erwartet. Das war kläglich.« Präsidialamts-Staatssekretär Dietrich Spangenberg: »Die müssen erst mal von Onkel Herbert Unterricht in Taktik bekommen, damit sie nicht in den ersten fünf Minuten die Mehrheit des Parteitags gegen sich aufbringen.« Und Bundesminister Egon Franke, als jüngst abgewählter Niedersachsen-Vorsitzender der SPD prominentestes Juso-Opfer, höhnte: »Die Weltrevolution ist noch mal an uns vorbeigegangen.«

Juso-Vorstandsmitglied Wolfgang Roth übte Selbstkritik: »Die lange Kambodscha-Debatte war ein grober Fehler.« Norbert Gansel sagte es deutlicher: »Wir sind ganz schön den Bach runtergegangen.« Doch Juso-Chef Voigt verteidigte das provokante Verhalten gegenüber den Altfunktionären: »Die Jungsozialisten in den Ortsvereinen müssen sehen, daß wir uns hier nicht anpassen, sondern die Konfrontation suchen, dann kriegen auch sie mehr Mut.«

Dennoch konnten der taktische Fehler des ersten Tages und seine Folgen nicht verhindern, daß die Agitation der Jungsozialisten für ein neues Selbstverständnis der SPD Früchte trug. Sie erreichten, daß der Vorstand öfter überstimmt wurde als auf jedem Parteitag der letzten zehn Jahre. Die Linken setzten durch, daß

* alle Gremien, bis auf den Vorstand, während des Parteitags öffentlich tagten,

* das rechtlich umstrittene Blockwahlsystem bei der Vorstandswahl demokratisch aufgelockert wurde,

* die 50-Pfennig-Kilometer-Pauschale für Arbeitnehmer, Symbol der von Wirtschaftsminister Schiller versprochenen »sozialen Symmetrie«, wieder eingeführt und

* der öffentliche Nahverkehr zugunsten der Werktätigen von der Mineralölsteuer befreit werden soll

Den Haupttreffer landete die linke Opposition, als die Mehrheit gegen den Willen des Establishments beschloß, noch bis Ende 1971 solle ein Sonderparteitag über eine Reform der Vermögens- und Steuerpolitik beraten.

Um so williger griff die Parteiführung Dohnanyis »Langzelt-Programm 72« als Entlastung auf. Es scheint ihr einen zweijährigen Aufschub des überfälligen Konflikts um die Gesellschaftspolitik zu garantieren. SPD-Vorstandsmitglied Kühn: »Der Sonderparteitag 1971 wird damit lediglich eine umbenannte Expertentagung ohne Beschlüsse, denn die Partei kann sich doch nicht selbst ins Bein beißen:«

Überdies erhofft sich die SPD-Führung von der Auflage, alle finanziellen Auswirkungen von Reformanträgen offenzulegen, eine Disziplinierung der Progressiven. Freilich: Wenn der Reformeifer, wie von der Parteispitze erwartet, angesichts des hohen Finanzbedarfs resigniert, droht die große Gesellschaftsreform wieder einmal an leeren Kassen zu scheitern.

Sie muß aber nicht. Nach Meinung der Linken ist die Chance, gerade wegen der erzwungenen Feststellung des Bedarfs die Notwendigkeit einer Steuererhöhung für Reformen unabweisbar klarzumachen, mindestens ebenso groß. Der Renommier-Linke Jochen Steffen zu Finanzminister Alex Möllers These, die derzeitige Steuerlastquote dürfe nicht erhöht werden: »Das ist doch keine heilige Kuh.«

Mit dem Ergebnis, daß die SPD über die Gesellschaftsreform nun gleich auf zwei Parteitagen, 1971 und 1972, diskutieren muß, erreichten die Linken innerparteilich mehr, als die Führung ihnen hatte einräumen wollen (Steffen; »Der Parteivostand hat sich an den linken Rand der Mitte begeben"). Mehr auch, als am letzten Tag des Saarbrücker Parteikonvents nach außen in Erscheinung trat. Denn bei der Neuwahl des Vorstands hielten die Senioren die Reihen fest geschlossen.

Egon Frankes »Kanalarbeiter«, die Funktionärsgruppe der Bundestagsfraktion, übten Stimmensolidarität ein.

Im Saarbrücker Kolpinghaus konspirierten Jusos und »Asos« (Hut Brandt über die Alt-Linken) Abend für Abend unter dem Zeichen des Kreuzes. Es nutzte nichts. Bei den Wahlen der Stellvertreter Willy Brandts am Donnerstag letzter Woche ging Norbert Gansel mit 65 zu 256 Stimmen gegen Helmut Schmidt unter. Kühn: »Das kommt davon, wenn man einen Hansel oder Gansel aufstellt.«

Bei der Wahl der 32 übrigen Vorstandsmitglieder brachten die Linken neu außer Ihrem Bildungsstar, dem ehemaligen Berliner Schulsenator Carl-Heinz Evers, und der attraktiven Oberstudienrätin Vera Rüdiger (Günter Graß: »Die Jeanne d'Arc aus Hessen") einen wider seinen Willen entliehenen Kandidaten durch: Entwicklungshilfe-Minister Erhard Eppler, für den die rote Kolping-Familie Unterschriften gesammelt hatte.

Der zu Vorstandswürden aufgestiegene Berliner Bürgermeister Klaus Schütz fühlt sich dennoch nicht sicher: »In Saarbrücken war es noch einfach. Schwer mit den Linken wird es nach der nächsten Bundestagswahl, egal ob wir sie gewinnen oder verlieren.

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