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GEMEINSAMER MARKT / WÄHRUNG Ins Gebet versunken

aus DER SPIEGEL 52/1970

Walter Scheel wagte eine Jahresbilanz vor Silvester. »Das Jahr 1970 war für Europa ein erfolgreiches Jahr, wir haben große Fortschritte gemacht«, so sprach der deutsche Außenminister am Montagmittag vergangener Woche in Brüssel beim Mokka. Schon 14 Stunden später wurde er korrigiert. Um vier Uhr 11 am Dienstagmorgen verkündete Scheels Ministerkollege Karl Schiller den vorläufigen Konkurs der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Schiller: » Die Geister haben sich nicht gefunden.«

Am 1. Januar nächsten Jahres, das hatten die Mitglieder des Sechser-Klubs ursprünglich geplant, sollte damit begonnen werden, den europäischen Zollverein zu einer Wirtschafts- und Währungsunion auszubauen. Eine Kommission führender EWG-Währungsexperten unter Leitung des luxemburgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner hatte vor neun Wochen jenen Plan vorgelegt, nach dem Europa bis 1980 in drei Stufen zu einem einheitlichen Währungs- und Wirtschaftsraum zusammengeschweißt werden sollte (SPIEGEL 43/70).

Werner und seine Kollegen hatten damals vereinbart, daß die europäische Geld- und Währungspolitik am Ende der Harmonisierungsphase, möglichst 1980, zentral von Brüssel aus gesteuert werden müsse. Nach diesem Plan wäre es in zehn Jahren nicht mehr möglich, daß etwa der französische Finanzminister eine Abwertung des Franc beschließt. Und es wäre auch undenkbar, daß die Frankfurter Bundesbank über die Höhe des Diskontsatzes in der Bundesrepublik befindet. Es sei unerläßlich, so hatte die Werner-Kommission geschrieben, »diese Befugnisse auf Gemeinschaftsorgane zu übertragen.

Denn nur mit einem einheitlichen Zentralbanksystem würde die Gefahr gebannt, daß sich einzelne EWG-Länder hohe Inflationsraten leisten wie etwa bisher die Franzosen und die Italiener und damit auch die stabilen Währungen anstecken. Schon in den vergangenen Jahren trieben die EWG-Nachbarn mit ihrer Nachfrage nach Maschinen aus dem Ruhrgebiet, nach Autos aus Wolfsburg und nach Haushaltsgeräten aus München in Westdeutschland die Preise hoch.

Nur flexible Wechselkurse hätten die Mark automatisch für Ausländer verteuert und so den Inflationssog abgeblockt. Weil indes in den nächsten zehn Jahren die Wechselkurse zwischen den EWG-Währungen, die bisher noch um 1,5 Prozent schwanken dürfen, vollends zementiert werden sollen, wird die Ansteckungsgefahr für die Mark immer größer.

Eine europäische Zentralbank, die nach Karl Schillers Wünschen so unabhängig sein sollte wie die Frankfurter Bundesbank, könnte das Risiko dadurch verringern, daß sie strikt bei jeder inflationären Preissteigerung das europäische Geld knapp und teuer macht. Anders als die Frankfurter Währungshüter hätte eine europäische Zentralbank die Chance, mit einer derartigen Politik auch Erfolg zu haben,

Denn ein vereinigtes Europa wäre anders als die Bundesrepublik allein, die etwa 24 Prozent ihres Bruttosozialproduktes exportiert, nur noch geringer von der Inflation in den übrigen Staaten abhängig. Und das heiße Geld von jenseits des Atlantik, das die Politik einer europäischen Zentralbank womöglich ähnlich durchkreuzen würde wie derzeit die Taktik der Deutschen Bundesbank, könnte durch flexible Wechselkurse der Euro-Währung gegenüber dem Dollar abgewehrt werden. »Dieses Konzept«, so sagt Europa-Planer Werner, »war zwar kein Evangelium, aber logisch und konsequent.«

Jetzt jedoch ist die Expertise, auf die sich die Europäer in monatelangen Beratungen geeinigt hatten, nur noch Makulatur. In der EWG-Nachtsitzung am Montag letzter Woche offenbarten die Franzosen, daß sie zwar die Vorteile des Werner-Plans zu akzeptieren bereit waren. Aber sie mochten nicht versprechen, in zehn Jahren einen Teil ihrer Souveränität aufzugeben und die Banque de France zu entmachten.

Frankreichs Finanzminister Valéry Giscard d"Estaing wollte sich nur darauf einlassen, die erste Stufe des Harmonisierungsplanes am 1. Januar zu beginnen, in der zunächst die Bandbreiten, innerhalb derer die Tauschverhältnisse der EWG-Währungen schwanken dürfen, um 0,3 Prozent verengt werden sollen.

Wie die Endstufe eines wirtschafts- und währungspolitisch vereinigten Europas auszusehen habe, darauf wollte sich Giscard jedoch nicht festlegen lassen. Die Deutschen dagegen waren mit der Parole nach Brüssel gereist, daß »das Ziel klar zu sehen sein muß, wenn wir zum 1. Januar 1971 die erste Stufe in Kraft setzen« (Scheel). Aber um die spätere Installierung eines gemeinsamen Zentralbanksystems gab es kein Verhandeln mehr. Schiller: »Da sind wir zum Halten gekommen.«

Am Ende konnten sich die Europa-Strategen noch nicht einmal über ihren nächsten Tagungstermin einigen. Die Luxemburger hatten die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr für das nächste Europa-Rendezvous vorgeschlagen. Doch der niederländische Außenminister Luns winkte ab: »Ab 23. versinke ich immer ins Gebet.«

Als daraufhin die Franzosen vorschlugen, nach Brüsseler Krisen-Tradition »die Uhren anzuhalten« und 1971 so zu tun, als sei noch 1970, lehnten Scheel und Schiller dankend ab. Auf diese Weise wollten die Deutschen, die bis Jahresende turnusmäßig die Präsidentschaft im Ministerrat haben, die Verantwortung für die weiteren Beratungen an diejenigen weitergeben, die für das Scheitern der Währungspläne verantwortlich waren: die Franzosen. Denn Frankreich übernimmt am 1. Januar den Vorsitz im Ministerrat.

»Der Werner-Plan war ein Kompromiß«, so Schiller, »nun müssen wir versuchen, einen Kompromiß vom Kompromiß zu finden,« Und Pläneschmied Werner klagte: »Schade um die Arbeit,«

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