MÜTTERPASS Intime Notizen
Der Göttinger Medizin-Professor Gottfried Jungmichel hält das Dokument für geeignet, »das Leben sehr vieler Mütter und Säuglinge« zu retten. Ein Sprecher der bayrischen Landesärztekammer behauptet von eben diesem Papier, es gäbe »zur Besorgnis Anlaß«.
Das gleichermaßen gelobte wie geschmähte Druckwerk ist der sogenannte Mütterpaß - ein mehrblättriges, kleinformatiges Heft, das nach Ansicht seiner Befürworter in die Handtasche jeder werdenden deutschen Mutter gehört.
Wo immer die Schwangere niederkommt, der jeweilige Arzt findet Rat in ihrer Tasche: Der Paß soll frühere Krankheiten, unverträgliche Medikamente sowie Blutgruppe und Rhesusfaktor von Vater und Mutter verzeichnen und Angaben über Teilnahme an Mütter-Gymnastikkursen oder Mütterschulen enthalten.
Nachdem einige Bundesländer diesen Mütterpaß zunächst eingeführt hatten, ist er vor Jahresfrist mit Zustimmung der Ärzteverbände wieder abgeschafft worden. Neuerdings fordern Westdeutschlands Ärzte - gegen den Protest einiger Kollegen - das umstrittene Gesundheitspapier zurück.
Gegen den Paß spricht: Die Frauen können von möglicherweise ungünstigen Befunden beunruhigt werden; wenn es darauf ankommt, tragen sie das Heft nicht bei sich; Intimes, wie Zyklus oder Geschlechtskrankheiten, bleiben Neugierigen kaum verborgen - so die bayrische Landesärztekammer.
Dafür spricht: Die ausführlichen Angaben versetzen jeden Arzt jederzeit in die Lage, der Patientin ohne langwierige Untersuchung oder, in eiligen Fällen, ohne die Gefahr eines Mißgriffs beizustehen - so Professor Jungmichel.
Erprobt wurde der Schwangeren-Pa3 erstmals vor sechs Jahren an Rhein und Ruhr. Nordrhein-Westfalen führte das Dokument 1960 auf freiwilliger Basis ein und gab dafür jährlich drei Millionen Mark aus. Zuletzt hatten zwei Drittel aller Schwangeren das türkisfarbene, zwölfseitige Heft in der Tasche.
Der Erfolg war meßbar: Die Müttersterblichkeit ging nach Einführung des Passes, wenngleich nicht ausschließlich deshalb, um rund 20 Prozent, die Säuglingssterblichkeit sogar um fast 30 Prozent zurück. 1964 gaben Hessen und Saarland, letztes Jahr die Bremer ähnliche Pässe an werdende Mütter aus.
Doch bevor die Handtaschenhefte auch in anderen Bundesländern eingeführt werden konnten, wurde die Paß-Aktion jäh gestoppt. Kurz vor den Bundestagswahlen, im Herbst letzten Jahres, verabschiedete der Bundestag eine Novelle zum Mutterschutzgesetz und zur Reichsversicherungsordnung, nach der vom 1. Januar 1966 an die Kosten für die Untersuchung von Schwangeren den Ländern abgenommen und den Krankenkassen aufgebürdet wurden.
Den Ärzten kam die Neuregelung zupaß. Die meisten waren von Anfang an gegen Mütterpässe gewesen, weil sie »die Schreibarbeit scheuten« (Dr. Rolf Schlögell von der Kassenärztlichen. Bundesvereinigung). Auch schien ihnen ein Honorar von fünf Mark pro Paß (wie in Nordrhein-Westfalen) wenig angemessen. So setzten sie sich mit den Kassenvertretern zusammen, um ein neues Verfahren auszuhandeln.
Doch die Krankenkassen verlangten für mehr Geld noch mehr Schreibarbeit - statt eines Mütterpasses ein acht Seiten starkes Formular, das außer den in den meisten Mütterpässen vermerkten Angaben zusätzlich eine ausführliche Krankheitsgeschichte der ganzen Familie sowie Notizen über Größe, Gewicht und Beckenumfang der Patientin enthält. Dieses sogenannte Sprechstundenblatt - Kassen-Honorar für den Arzt: zwölf Mark - ist nicht mehr für die Handtasche der werdenden Mutter, sondern für die Kartei des Arztes bestimmt.
Da jedoch rund 80 Prozent aller Bundesbürger derzeit in Krankenhäusern und nur jeder fünfte unter Assistenz des behandelnden Arztes geboren wird, nannte Dr. Helmut Köker vom Berufsverband der Frauenärzte das Blatt »eine ausführliche, aber absolut unpraktische medizinische Dokumentation«. Unpraktisch deshalb, weil es »bei der Entbindung meistens nicht zur Stelle ist«. Und Professor Dr. Stoll,
Oberarzt an der Heidelberger Universitätsklinik, rügte: »Bei 2000 Geburten hat nicht ein einziges Sprechstundenblatt vorgelegen.«
Schließlich prophezeite der Vorsitzende des Verbandes der niedergelassenen Ärzte, Dr. Kaspar Roos, die »Gefahr eines möglichen Ansteigens der Sterbefälle«. Roos machte die Öffentlichkeit mobil und forderte die Wiedereinführung des Mütterpasses; die anderen Ärzteverbände zogen nach.
Die Landesärztekammer in München freilich ließ wissen, sie schließe sich dieser Forderung nicht an: Die Bayern halten sich für die Erfinder des Sprechstundenblattes und wollen ihm auch künftig treu bleiben.
Mütterpaß-Befürworter Roos
Blatt von der Kasse
Nordrhein-westfälischer Mütterpaß
Rat aus der Tasche