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FRANKREICH / JOHANNA VON ORLEANS Intime Sicht

aus DER SPIEGEL 53/1970

Der Historiker Comte Pierre de Sermoise reiste ins Lothringische nach Pulligny-sur-Madon. Dort wurde er -- im November 1968 -- von Ortsvorsteher Girot und Maurermeister Florentin erwartet.

In mehrstündiger Arbeit legten sie in der mittelalterlichen Dorfkirche eine verwitterte Grabplatte frei. Sie trug das Symbol der Franziskaner-Bewegung und die Inschrift: PRIEZ POUR L'AME D ... LLE -- was der Graf als »Betet für die Seele der Jungfrau« deutete.

In dieser Gruft, behauptet der in Paris lebende Forscher, ruht die Jungfrau von Orléans. Mit einer revidierten Biographie* will er Frankreichs Nationalheldin entzaubern, jene Jeanne d"Arc, die das Land von den Engländern befreit hat und angeblich 1431 in Rouen verbrannt wurde. De Sermoise dagegen behauptet: Die Jungfrau wurde gar nicht verbrannt, sondern heiratete und starb erst 1449 -- also 18 Jahre nach dem angeblichen Feuertod in Rouen -- auf einem Schloß in Lothringen einen natürlichen Tod.

In der Version des Grafen kommt die Jungfrau auch nicht 1412 im Bauerndorf Domrémy zur Welt, sondern schon fünf Jahre früher im Pariser Privatpalais der lasterhaften Königin Isabeau. Und dank ihrer hohen Geburt -- die allerdings dem Volk verheimlicht wurde -- durfte Johanna von Orléans in ihrem Wappen die Krone des Königshauses tragen.

Die ländlich-sittliche Abkunft des inspirierten Hirtenmädchens hält de Sermoise für eine Täuschung, die erst nach Johannas Ableben in die überlieferte Legende »montiert« worden sei. Den Scheiterhaufen bestieg Johanna nach seinen Thesen nur in Propaganda-Meldungen der Engländer.

»Mit Verbissenheit, manchmal gegen die eigene Sache kämpfend«, destillierte der Autor seine Überlebenstheorie aus Indizien: In Rouen, dem Schauplatz von Johannes Hexenprozeß, sind bis heute keine Belege über Johannas Verbrennung am 30. Mai 1431 gefunden worden. Die örtlichen Archive verzeichnen für die Jahre 1430 bis 1432 fünf Hexenverbrennungen einschließlich der Ausgaben für Brennholz und Henkerslohn. Drei Opfer hießen Jeanne, aber keine Jehanne la Pucelle oder Jeanne d'Arc.

Umgekehrt behaupteten schon im 15. Jahrhundert manche Chronisten, Johanna sei vor der Hinrichtung geflohen -- was de Sermoise dem diplomatischen Geschick des Gerichtevorsitzenden Pierre Cauchon zugute hält. Dieser, schreibt er, habe eine andere Hexe schwer bewacht und dicht vermummt zum öffentlichen Richtplatz führen lassen. Johanna -- so die Theorie -- entwich und wurde unter Aufsicht des Burgunderherzogs Philipp des Guten fünf Jahre lang in Savoyen unter Verschluß gehalten. Dort werde das Château Montrottier in einer örtlichen Schloßchronik »prison de la Pucelle« (Gefängnis der Jungfrau) genannt.

Nach einer zeitgenössischen Handschrift des Dechanten von Sankt Theobald »in Metz tauchte die Jungfrau am 20. Mai 1436 wieder auf. Mehrere Zeugen, darunter ihre Adoptivbrüder Pierre und Jean d'Arc, erkannten sie als »Pucelle Jehanne da France, die König Karl nach Reims führte«.

Sie logierte bei Herzogin Elisabeth von Luxemburg auf Schloß Arlon. Diese arrangierte nach derselben Quelle die Hochzeit mit dem Lothringer Edelmann Robert des Armoises.

Als verheiratete Dame wurde Johanna Im Sommer 1439 »an der Stätte ihres Ruhms gefriert. Wie die damaligen Rechnungsbücher der Festung Orléans bezeugen, bewilligte der Stadtrat am 1. August eine Dankesgabe von 210 Goldpfunden an Jehanne des Armoises ... für das Gute, was sie dieser Stadt während der Belagerung angetan hat«.

Nach diesem letzten Auftritt in Frankreich, so ermittelte der Graf, ein Nachfahre der Familie des Armoises, aus der eigenen Adelsgeschichte, zog sich Johanna ins Privatleben zurück

* Pierre de Sermoise: »Les Missions secrètes de Jehanne la Pucelle«; Verlag Robert Laffont, Paris; 828 Selten; 18 Franc. und verschied 1449 kinderlos auf einem Familienschloß bei Metz.

Ein Jahr später beantragte König Karl beim Heiligen Stuhl, die als Ketzerin verurteilte Johanna reinzuwaschen. Der Vatikan ließ sich mit seinem Spruch sechs Jahre Zeit. Dazu da Sermoise: »Das kirchliche Rehabilitationsverfahren Johannas war nichts anderes als der politische Abklatsch ihres Ketzerspruchs mit umgekehrten Vorzeichen,« Diesem Zweck dienten nach seiner Ansicht auch die Zeugenaussagen, mit denen die Krönungszeremonie von Reims nun als das Werk einer Glaubensmärtyrerin verklärt werden sollte.

Die Akten ihrer Kirchenprozesse verstaubten im Staatsarchiv. Bis zum 19. Jahrhundert bestand für eine offizielle Heldenjungfrau kein Bedarf mehr. Dann erst edierte der Historiker Jules Quicherat die Kirchen-Akten in einer fünfbändigen Quellensammlung. In Frankreich bahnte sich um die Figur Jeanne d'Arcs ein »veritabler katholischer und nationaler Kult« ("Le Monde") an. Frankreich entflammte sich wieder für Johannas Legende.

Kaiser Napoleon I. mobilisierte die Heldendungfrau zum zweiten Mal gegen die Engländer. Der Klerus verherrlichte »ihre beispielhafte Frömmigkeit zur Abwehr des Atheismus. Nach der Niederlage 1871 erhob die Republik das populäre Bauernmädchen zum historischen Symbol für die Wiedergewinnung Lothringens (obwohl der angebliche Geburtsort Domrémy im Herzogtum Bar liegt und auch damals bei Frankreich verblieb).

Audi Charles de Gaulle, der sich im letzten Krieg als Johannes Reinkarnation empfand, wollte sein Idol nicht im Ehebett sterben sehen. »Jeanne d"Arc«, so der General, »wäre nicht mehr Jeanne d"Arc gewesen, wenn sie geheiratet hätte.«

Die Forschungsergebnisse weniger Dissidenten, die für die Dame des Armoises fochten, seien von »Autokraten des Wissens« ignoriert oder verleumderisch entstellt worden, behauptet Forscher de Sermoise.

Der verstorbene Kirchenhistoriker Edouard Schneider meldete in Privatbriefen den Fund von Johannas mittelalterlichen Personalakten: das verschollene Register der kirchlichen Untersuchungskommission von Poitiers, die sie nach ihrem Erscheinen am Königshof durchleuchtet hatte. »Hohe Autoritäten des Vatikans«, schrieb er, hätten ihn aber vergattert, »die Legende nicht zu zerstören.«

Römische Verschwiegenheit hält de Sermoise für den Preis eines diplomatischen Tauschgeschäfts: Trotz staatlicher und kirchlicher Pressionen aus Paris hatte sich der Heilige Stuhl bis zum Ende des Ersten Weltkriegs geziert, Jeanne d'Arc heilig zu sprechen. Erst nachdem die Regierung mit der Wiederaufnahme der seit der Französischen Revolution abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zum Vatikan winkte, durfte Jeanne am 16, Mai 1920 heilig werden. Die Kosten der langjährigen Kanonisierungs-Zeremonie überwies Paris aus der Staatskasse: 30 Millionen Goldfranken.

Die Kirchenoberen, meint der Comte, hätten bei der Heiligsprechung wohlweislich Johannas historische Rolle als Glaubensmärtyrerin ausgeklammert, sie aber als Jungfrau bestätigt. Denn »die Kirche macht auf Ihrem Gebiet keinen Fehler«.

Das will de Sermoise auch nicht. Er läßt Johannas spätere Ehe unvollzogen, da sie an einem Gebrechen gelitten habe, das die Medizin heute als Pseudo-Hermaphroditismus bezeichnet. Der Biograph entnimmt das verschiedenen kirchenamtlichen Intim-Besichtigungen, denen sich die Pucelle während ihrer historischen Mission unterwerfen mußte. Der Abbé Villaret, ein offenbar gut informierter geistlicher Gewährsmann, präzisierte 1765 in einem Geschichtswerk den Befund:

nur das Äußere ihres Geschlechts, ohne dessen charakteristische Schwächen.«

Auch Ehemann Robert des Armoises entdeckte das, aber er machte aus seiner Not eine Tugend: Nach der Heirat zog er sich zu den Zölestiner-Brüdern zurück, deren Ordensregeln lebenslängliche Abstinenz gebieten.

Über die Entlarvung der Jungfrauen-Legende durch de Sermoise entrüsteten sich die Verehrer der Johanna, etwa die Königstreuen von der »Action francaise«. Sie witterten ein schmutziges Komplott gegen Jeanne in ihrer Wahrheit«. Radio Luxemburg sprach von einer »neuen Affäre Jeanne d"Arc«. Der Historiker Henri Guillemin trat de Sermoise öffentlich entgegen und verdächtigte ihn einer »kommerziellen Operation«.

Guillemin meldete sich zum 50jährigen Heiligenjubiläum Johannas mit eigenen Forschungsergebnissen**. Er vermenschlichte die Heilige als derbes Plebejermädchen« worauf »Les Nouvelles Litteratres« ihn einen »sexbesessenen Sechziger« schalt.

Guillemin hatte sie noch mehr entmythologisiert als der Comte de Sermoise: Die heilige Johanna habe, so Guillemin, als Maskottchen den königlichen Troll nach Orleans begleitet und beim Nachtlager den Soldaten gern ihre bloßen Brüste vorgewiesen.

** Henri Guillemin: »Jeanne, dite 'Jeanne d'Arc'«; Editions Gallimard, Paris: 251 Seiten; 20 Franc.

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