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Artikel 21 / 69

INTRERN DR. X

aus DER SPIEGEL 27/1966

6. Fortsetzung

Donnerstag, 19. Januar

Das Wochenende begann mit einem großen Krach mit der diensthabenden Röntgenassistentin, dem großen, knochigen Mädchen Adeline.

Frank und ich waren gegen halb elf mit der Visite fertig, und wie es auf dieser Station üblich ist, hatte ich einen ganzen Haufen kleiner Aufgaben, die sich bei der Visite ergeben hatten. Frank sagte zum Beispiel: »Sehen Sie zu, daß diese Fäden heute irgendwann gezogen werden«, oder »Wir müssen den Dingsbums heute wieder in den Streck legen«, oder dergleichen mehr.

Mit alledem war ich bis ungefähr halb zwei beschäftigt und aß gerade ein spätes Mittagessen, als eine Patientin von Flagg gebracht wurde, eine dicke fette Person, die von einem Fußgänger auf dem Bürgersteig umgerannt worden war und sich auf ihr Hinterteil gesetzt hatte.

Als ich sie untersuchte, war ich ziemlich sicher, daß sie sich das Becken oder den Oberschenkelhals gebrochen hatte, deshalb rief ich Adeline an, sie sollte mit dem fahrbaren Röntgengerät kommen, solange die Patientin noch auf der Bahre in der Ambulanz lag. Sie hatte ziemlich starke Schmerzen, weniger, wenn sie still lag, aber sehr heftige, wenn sie sich bewegte.

Adeline huschte rein, machte ein paar Bilder, sagte der Telephonistin, sie solle mir ausrichten, wo die Aufnahmen zu finden seien, nämlich unten in der Röntgenabteilung im Fixierbad, und dann huschte sie wieder weg nach Hause.

Ich ging runter, um mir die Aufnahmen anzusehen, und stellte fest, daß auf der einen gar nichts und die zweite derartig überbelichtet war, daß ich unter der Lampe kaum einen Teil des Oberschenkelknochens erkennen konnte, aber gar keine Einzelheiten. Eine dritte Aufnahme war ganz verschwommen und zeigte nur den mittleren Teil des Oberschenkelknochens; Hüftgelenk und Becken waren nicht drauf.

Deshalb rief ich Adeline an, sie solle zurückkommen und die Aufnahmen noch mal machen. Sie war sehr unverschämt am Telephon und sagte, gute Hüft- und Beckenaufnahmen könne man von dem fahrbaren Apparat auch nicht erwarten.

Von wegen »könne man nicht«, antwortete ich, ich hätte es schon erlebt, daß sie ganz anständige gemacht habe, und Adeline sagte nur »Sch...« und hängte einfach ab.

Zwanzig Minuten später erschien sie. Inzwischen hatte ich mir überlegt, daß es keinen Zweck habe, noch mal denselben Mist zu bekommen. Wider besseres Wissen habe ich mir also den Pfleger geholt, und dann schleiften wir die Patientin zur Röntgenabteilung runter und hievten sie auf den Tisch des größten, schönsten und neuesten Apparats, den sie da hatten.

Ja, und dann mußte das spindeldürre Frauenzimmer zehn Aufnahmen hintereinander machen, bis sie endlich eine lesbare zustande gebracht hatte, denn sie machte einen Fehler nach dem anderen - falsche Belichtungszeit, falscher Aufnahmewinkel und was nicht alles.

Auf der zehnten Aufnahme nach neun Versagern war dann zu sehen, daß die Patientin zwei Beckenbrüche hatte. Und währenddessen wurde Adeline immer wütender und wütender, als ob ich persönlich es so eingerichtet hätte, daß diese Frau an einem Samstagnachmittag, an dem Adeline Dienst hatte, gestürzt ist.

Sonntag nacht war mir eine ganze köstliche Stunde Schlaf vergönnt, und dann begann der Spaß mit Mr. Tandberg - einem vierundfünfzigjährigen Mann, den Dr. Gillies vor ein paar Tagen mit Herzschmerzen aufgenommen hatte, die als Infarkt diagnostiziert wurden.

Mr. Tandberg war schon vorher spinnig gewesen, und nachher war er ganz bestimmt spinnig, irrsinnig vor Angst, daß er jede Minute aus dem irdischen Jammertal abberufen werden könnte, und infolgedessen konnte und wollte er unter keinen Umständen einschlafen.

Die Schwester vom ersten Stock rief an, um mir zu sagen, daß Mr. Tandberg die verordnete Schlafpille genommen habe und nicht schlafen könne, also ging ich rauf und versuchte, ihn zu beruhigen; er war ganz aufgebracht, daß er nicht schlafen konnte, aber er wollte auch gar nicht schlafen.

Ich verordnete ihm 130 Milligramm Luminal und sagte der Schwester, sie solle sich Mühe mit ihm geben.

Um eins rief sie wieder an: Mr. Tandberg sei immer noch nicht eingeschlafen, er habe Herzschmerzen und sei außer sich und was sie tun solle? Ich sagte, sie solle ihm zehn Milligramm Morphium geben, und versuchte, wieder einzuschlafen.

Um zwei rief die Schwester an und begann, mir eine lange, traurige Geschichte zu erzählen und Schritt für Schritt zu berichten, was Mr. Tandberg getan habe, seit sie mich um eins angerufen hatte. Ich fragte sie, warum sie mir das alles erzähle, und sie meinte: »Nun, Ich dachte, Sie wollten auf dem laufenden sein!« Daraufhin erklärte ich ihr, sie möge sich zum Teufel scheren, und drehte mich auf die andere Seite.

Um halb drei rief Miß Wood an und sagte, Mr. Tandberg bestehe darauf, daß man einen Krankenwagen bestelle, der ihn nach Hause bringe; wenn man

das nicht täte, werde er im Schlafanzug von dannen gehen und sie wegen Freiheitsberaubung verklagen.

Na, abgesehen davon, daß es unerfreulich war, mit der Mentalität eines Dreijährigen zu tun zu haben, war jedenfalls all dieses dumme Gerede nicht gerade gut für Mr. Tandbergs Infarkt. Ich zog mir also etwas an, ging rauf und versuchte, den Mann wenigstens einigermaßen zur Vernunft zu bringen.

Er war einfach verbiestert und hatte solche Angst wegen seines Infarkts, daß er tat, was er nur konnte, um in dieser Nacht nicht zu schlafen, denn er war überzeugt, daß er nicht wieder aufwachen würde, und trotzdem behauptete er, er würde alles drum geben, wenn er nur schlafen könne. Er war auch so schläfrig von den Medikationen, daß er fast mit Gewalt seine Augen offenhalten mußte, und so benommen davon, daß er nicht mehr zusammenhängend denken konnte, nicht einmal mehr auf dem Niveau eines Dreijährigen.

Deshalb schlug ich schließlich vor, die Schwestern sollten ein schönes, heißes Bad einlassen und ihn eine halbe Stunde darin einweichen. Die Schwester sagte: »Aber Herr Doktor, er hat doch einen Infarkt gehabt, und das bedeutet strikte Bettruhe.«

Nach einem Infarkt dürfe er auch nicht morgens um drei die Wände hochgehen, sagte ich, sie sollten ihn ruhig in die Badewanne stecken, und während er darin weicht, ihm einen ordentlichen heißen Grog einflößen. »Mit Alkohol drin?« fragte die Schwester, und ich sagte: »Ach du lieber Gott!« und ging wieder ins Bett. Mit einem idiotischen Patienten kann ich zur Not fertig werden, aber nicht mit einer idiotischen Schwester.

Um vier rief sie mich wieder an, um mir zu erzählen, sie habe Dr. Gillies angerufen, und er habe gesagt, er wolle versuchen, Mr. Tandberg am Morgen abzuschieben. Um fünf rief sie Carey an und um sechs Mrs. Tandberg, und inzwischen war es Frühstückszeit.

Dienstag, 24. Januar

Ich vergaß zu erwähnen, daß ich nach meinem Krach mit Adeline, der Röntgenassistentin, am Montag früh zur Röntgenabteilung runterging und mich des längeren und breiteren bei Ken Tourney, dem Chefröntgenologen, über das ganze Theater beschwerte und ihm die verpatzten Aufnahmen hinschmiß (die ich an mich genommen hatte, damit sie nicht »zufällig« weggeworfen würden), wobei ich selbst ein ganz schönes Theater aufführte.

Er werde sehen, was er tun könne, sagte er, und das tat er auch. Nachdem ich weg war, rief er das Mädchen rein und schmiß sie raus. Ich vermute, daß das nicht die erste Beschwerde über Adeline war, und mir tut es nicht mal leid, daß ich der miese Kerl war, der sie verpfiffen hat. Ich bin bloß froh, daß sie weg ist.

Und wenn sie schon dabei sind, Leute rauszuschmeißen, dann wäre es hübsch, wenn sie das auch mit ein paar dieser Operationsschwestern täten. Es mag nicht gerade der Güter höchstes sein, mit Archie Everett zu arbeiten, aber was ihm einige dieser Mädchen bieten, ist denn doch unzumutbar.

Er scheint immer dieses dicke Trampeltier Jeannette als Operationsschwester zu haben, und so ein pampiges, unverschämtes, sarkastisches Frauenzimmer habe ich mein Lebtag nicht gesehen. Ihr genügt es nicht, einfach untüchtig zu sein, nein, sie reizt ihn noch vorsätzlich und gibt sich nicht zufrieden, bis sie ihn so wütend gemacht hat, daß ihm die Hände geradezu zittern.

Frank Gloucester hatte davon offenbar die Nase ebenso voll wie ich, obwohl er nie etwas gesagt hat; aber heute morgen, als Jeannette mal wieder die Krallen zeigte und Archie bei einer schwierigen Operation einfach grauenhaft schikanierte, legte Gloucester plötzlich die Instrumente aus der Hand, sah Jeannette mit seinen strahlenden Augen scharf an und sagte ganz ruhig: »Jetzt reicht's aber.«

Jeannette hörte mitten im Satz auf und machte ihre Klappe den ganzen Tag nicht mehr auf. Ich wollte, er täte so was öfter oder Archie selbst würde sich aufraffen und ihr mal mit dem Knochenmeißel eine verpassen.

Donnerstag, 2. Februar

Etwas Komisches ist diese Woche passiert; komisch ist eigentlich nicht das richtige Wort - es gab mir moralisch Auftrieb, und so etwas hat es in letzter Zeit nicht häufig gegeben.

Es handelte sich um eine Mrs. Gomez, eine große, dralle - Person von etwa fünfundvierzig Jahren mit dunklem Teint und schwarzen Haaren, die auf ein kräftiges Orangegelb gefärbt waren. Am Montag war sie zu Dr. Tony Marin gegangen, weil sie beim Duschen oder sonstwann eine Verhärtung in ihrer linken Brust entdeckt hatte.

Marin untersuchte sie und schickte sie noch am selben Tag zu Jack Barley. Der bestätigte, daß die Verhärtung da war und eine Probeexzision gemacht werden müsse. Wie aus seiner kurzen Aufnahmenotiz hervorging, hielt er es mit ziemlicher Sicherheit für Krebs.

Nun, bei der Aufnahme sah ich, daß diese Frau wahnsinnige Angst hatte; sie wußte, daß die Verhärtung Krebs sein konnte, wußte, daß sie gerade im richtigen Alter dafür war, und wußte, daß Dr. Barley bei positivem Ausfall der Probeexzision nicht nur den Knoten, sondern die ganze Brust abnehmen würde.

Natürlich hoffte sie, noch rechtzeitig gekommen zu sein. Sie hatte den Knoten vorher nicht bemerkt und war gleich am nächsten Tag zum Arzt gegangen, aber offensichtlich versetzte sie der Gedanke an eine Brustamputation in Angst und Schrecken.

Sie war so durcheinander, und ihr war so jämmerlich zumute, daß ich mich eine Welle mit ihr unterhielt, ihr zu erklären versuchte, daß es vor allem Wichtig sei, die Sache frühzeitig zu erkennen, daß es höchstwahrscheinlich nur eine harmlose Zyste oder ein gutartiges Gewächs sei, daß sie sich aber keine Sorgen machen solle, denn selbst wenn es Krebs sei, werde er in dem frühen Stadium durch das Abnehmen der Brust bestimmt geheilt.

Das Gespräch beruhigte die Frau ein bißchen; ich konnte geradezu sehen, wie Ihre Verkrampfung nachließ und sie fröhlicher wurde, und der Gedanke, eine Brust zu verlieren, erschien ihr nicht mehr so entsetzlich. Ich untersuchte sie dann und fand den Knoten, eine weiche, einzelne, walnußgroße Geschwulst, im äußeren oberen Quadranten ihrer linken Brust.

Mißlich war nur, daß ich glaubte, auch in der rechten Brust eine Geschwulst zu fühlen. Sie war viel kleiner als die andere; ich war nicht einmal sicher, ob ich nicht einfach die Unebenheit einer Rippe durchfühlte, aber dann ließ ich sie sich hinsetzen und vorbeugen und kam zu dem Ergebnis, daß da eindeutig eine Geschwulst war.

Und dann fing ich an zu überlegen. Alle Brüste von Frauen sind irgendwie klumpig und knotig, und ich wußte, daß Marin und Barley beide die Frau untersucht hatten, und wahrscheinlich hatten sie das Ding auf der rechten Seite nicht für bedeutsam gehalten, aber dennoch fand ich, daß ich es im Aufnahmebericht vermerken müßte, denn es war unbestreitbar da, ob es nun bedeutsam war oder nicht.

Deshalb schrieb ich in Druckbuchstaben auf das Verordnungsblatt: »Dr. Barley: Bitte Aufnahmebericht des MA vor Operation beachten« und hoffte, das würde ihm auffallen, auch wenn ich ihn nicht persönlich erreichte.

Und das tat es auch. Ich traf ihn im Umkleidezimmer vom OP am nächsten Nachmittag, ehe er Mrs. Gomez zur Probeexzision drannahm, und er sagte: »Na, mein Lieber, Sie haben mich überrundet; Marin und ich haben den Knoten in der rechten Brust beide nicht bemerkt.«

Heute morgen traf ich dann Luke Hamilton und Fred Olsen, und Fred grinste und sagte: »Na, ich höre, Sie sind ein großer Held!«

»Wie nett«, sagte ich, »aber wieso eigentlich?« Dann erzählte er mir, daß der große Knoten in der linken Brust von Mrs. Gomez eine harmlose Zyste war, aber der kleine in der rechten war Krebs, und Jack hatte die Brust ganz abgenommen.

Er sagte auch, es sei eine kleine, isolierte, einzelnstehende Geschwulst gewesen, und es hätten sich keine positiven Lymphknoten gefunden, und Jack glaubte, daß die Chancen einer Heilung ungefähr 80 Prozent seien gegenüber vielleicht 30 Prozent, wenn das Ding übersehen worden wäre, bis es nach ein paar Monaten groß genug gewesen wäre, um aufzufallen.

Donnerstag, 9. Februar

Hier auf der Orthopädie passieren die tollsten Geschichten; Mittwoch abend kam per Rettungswache ein Patient für Mel Tanner, ein achtzehnjähriger Junge mit einer Schußwunde im rechten Bein. Seine beiden Kameraden, auch ungefähr achtzehn, begleiteten ihn.

Wie es heißt, waren sie auf der Jagd gewesen, und der Junge hatte sein Gewehr, Kaliber 30-06, ungesichert getragen und sich selbst durchs Bein geschossen, als er über einen Zaun kletterte. Dies ungeachtete der Tatsache, daß zur Zeit nur die Kaninchenjagd offen ist und man den Kaninchen im allgemeinen nicht mit dem Kaliber 30-06 zu Leibe geht.

Na schön, irgend jemand hat also dem Jungen ins Bein geschossen, und eine so entsetzliche Röntgenaufnahme habe ich mein Lebtag nicht gesehen. Beide Unterschenkelknochen waren in Schaftmitte zerschmettert; ein etwa sieben Zentimeter langes Stück von jedem Knochen war einfach pulverisiert. Aber das Erstaunliche war, daß das ganze Innere des Beins einfach durchsetzt war mit winzig kleinen Kugelsplittern, und zwar vom Knöchel bis zur Hüfte.

Den Bruch selbst sauberzumachen war unerhört mühselig; dabei mußten Stücke vom zerfetzten Hosenbein fünf Zentimeter tief ausgegraben und aller mögliche Dreck herausgeholt werden, damit wenigstens etwas Aussicht bestand, daß der Knochen heilt, ohne daß zu allem übrigen noch eine Knocheninfektion kommt.

Dann erschienen heute morgen ein paar große, höfliche und ernste Männer und unterhielten sich eine Stunde mit dem Kerl. Sie waren vom FBI und schienen sehr begierig zu sein, ihn mitzunehmen, sobald er transportfähig wäre.

Offenbar hatte sich die Polizei für das Auto interessiert, mit dem diese Knaben unterwegs gewesen waren, und hatte im Kofferraum einen großen Haufen gestohlene Waren, einige Päckchen Marihuana-Zigaretten und überdies ein bißchen Heroin gefunden. Übrigens waren die beiden anderen Kumpane in der Nacht verschwunden, sobald sie diesen hier an der Krankenhaustür abgeliefert hatten.

Dienstag, 14. Februar

Am Montag kurz nach zwölf nahm L. D. Kaiser einen Patienten mit einer angeblich akuten Gallenblase auf. Er hatte gewiß Bauchschmerzen, aber es war nicht das typische Bild, und als Kaiser ihn offen hatte, stellte er fest, daß die Gallenblase prächtig aussah, aber eine Dünndarmschleife hatte sich an einem Verwachsungsstrang verfangen, und so etwas nennen sie eine Darmverschlingung.

Er löste sie, und der Darm wurde wieder rosa, und dann stand er da und drückte eine Weile an dem Darm herum und kam zu dem Ergebnis, die Schlinge brauche nicht reseziert zu werden.

Aber dann - und alles geschah durch einen Einschnitt im rechten Oberbauch - beschloß er, bei der Gelegenheit gleich den Blinddarm zu entfernen, und dann fummelte er noch eine Stunde oder so herum und überlegte, ob er nicht doch die Gallenblase rausnehmen sollte, weil er schon grade dabei war. Ich vermute, daß er glaubte, der Patient erwarte es, aber er riß sich zusammen. Wir wissen immer noch nicht, wie oder warum dieser Mann die Darmverschlingung bekam.

Bei dem ständigen Patientenstrom, den wir hier haben, der schon geradezu lächerlich groß ist, und bei der Seltenheit irgendeines persönlichen Kontakts mit den meisten Patienten passiert es überraschend leicht, daß man sich das angewöhnt, was mich auf der Universität immer so wütend gemacht hat, daß man nämlich von einem Patienten wirklich und wahrhaftig als von einem Bein, einer Schulter' oder einer Gallenblase spricht.

Ich erinnere mich, daß die Chirurgen in Hopkins irgendeinen Tattergreis vorstellten und damit begannen, daß sie auf ihn zeigten und den Studenten sagten: »Meine Herren, dieser Magen war zum erstenmal in der Nacht des 5. November ins Krankenhaus aufgenommen worden ...«

Wenn mich irgendein Chirurg einem Haufen munterer, klug schnackender Studenten als »dieser Magen« vorstellte, dann würde ich wohl das nächstbeste stumpfe Instrument nehmen und ihm damit eins verpassen. Und trotzdem stelle ich fest, daß auch ich, sogar im Tagebuch, davon rede, was wir mit »dieser Gallenblase« machten und Everett mit »seinem Bein« gemacht hat.

Am interessantesten ist die Prothesenarbeit. Es ist einfach unglaublich, was in manchen Fällen getan werden kann. Vorige Woche hat Everett einen Mann operiert, der sich bei einem Sturz vor ungefähr einem Jahr den Oberschenkelhals gebrochen hatte; der abgescherte Oberschenkelkopf war inzwischen abgestorben und verfaulte buchstäblich.

Deshalb machte Everett nun die Hüfte auf, schälte das tote Knochenstück heraus und ersetzte-es durch eine Gelenkprothese. Dieses Ersatzstück sieht aus wie ein poliertes Kugellager aus rostfreiem Stahl. Es hat einen Durchmesser von etwa 3,7 Zentimeter und ist verbunden mit einem Stahlschaft, der die Größe und Form eines Eisenbahn-Schwellenbolzens hat; die Kugel, die in einem Winkel von 30 Grad schräg zum Bolzen steht, damit der Bolzen in den Knochenschaft getrieben werden kann, wird dann eine Ersatz-»Kugel« für das Hüftgelenk.

Ich mußte die ganze Zeit an eine Marionette denken und bekam guten Anschauungsunterricht, warum sie Everett den »blutigen Archie« nennen

- mein Lebtag habe ich nicht so starkes Schweißen gesehen und gleichzeitig so viel Gleichgültigkeit dagegen. Andere Chirurgen wollen das Operationsfeld hübsch trocken und ohne Blutung haben, ehe sie zumachen; Archie scheint schon zufrieden zu sein, wenn nicht gerade große Arterien lebhaft sprudeln.

Jedenfalls war der Eingriff entsetzlich, aber mit dem Apparat da drin soll der Mann angeblich wieder laufen können. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht, aber auf dem toten Knochenstumpf hätte er es bestimmt nicht gekonnt, und es wäre schön, wenn er es jetzt könnte.

Archie zählte uns alle Mängel dieser Prothese auf, während er sie einsetzte. Anscheinend drückt in manchen Fällen der harte Stahl auf die Gelenkpfanne und reibt den Knochen auf, so daß die Stahlkugel dann bis ins Becken »wandert«.

Man hat versucht, die Kugel mit Polyäthylen zu umkleiden, das der Knochenkonsistenz ähnlicher ist, aber der Kunststoff neigt dazu; im Laufe der Zeit mikroskopisch kleine Kratzer zu bekommen, so etwa wie ein silberner Löffel, und dann ruft er eine Reizung hervor, und zu guter Letzt hat der Patient ein_versteiftes Hüftgelenk.

Natürlich kann man diese Dinge nur in Erfahrung bringen, indem man sie erprobt, und vorläufig ist eben das Beste noch immer nicht gut genug.

Heute nachmittag hatte ich zum erstenmal das Vergnügen, Calvin Cornell zu assistieren. Die Patientin war eine Frau, der eine angeborene kleine Erweiterung, ein Aneurysma, an der Kopfschlagader (Arteria carotis) innerhalb des Schädels geplatzt war.

Cornell wollte ein Arteriogramm machen - eine Prozedur, bei der eine große Nadel in die Carotis im Halsbereich eingeführt und ein Kontrastmittel eingespritzt wird; dann werden in rascher Folge eine Reihe von Röntgenaufnahmen geschossen, die zeigen sollen, wo das Aneurysma sitzt, wie groß es ist, ob es eins oder mehrere sind und ob Komplikationen vorliegen.

Das Arteriogramm bei der Patientin zeigte offenbar, daß es nur eine einzige Auftreibung war, also öffnete Cornell sie und band die Carotis an dieser Seite ab. Irgendwelche besonderen Druckprüfungen hatten gezeigt, daß sie Imstande sein müßte, das zu ertragen.

Aber kaum hatte er die Arterie abgebunden, stellte sich auf einer Seite eine fast vollständige Lähmung ein. Als ich heute nachmittag wegging, saß Cornell am Schreibtisch im dritten Stock und murmelte halblaut vor sich hin, ob er die verdammten Ligaturen wieder abnehmen sollte.

Wenn er das tut, wird das Aneurysma natürlich Im Handumdrehen wieder platzen, und dann ist es um die gute

Frau geschehen. Dabei fände ich es doch immerhin besser, wenn sie trotz einseitiger Lähmung noch eine Zeitlang leben könnte.

Vermutlich wird Cornell heute nacht kein Auge zutun. Es ist schon vorgekommen, daß er die ganze Nacht dasitzt, immer wieder hineingeht und einen Patienten alle fünfzehn Minuten mit einer Nadel piekt, um festzustellen, ob eine derartige Lähmung sich bessert oder nicht.

Donnerstag, 16. Februar

Mittwoch um acht assistierte ich Archie Everett bei Mrs. Bellinghams Bein. Das war ein klassisches Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn ein Oberschenkelbruch nicht gleich von Anfang an richtig behandelt wird.

Die Patientin hatte Ihr Bein vor zweieinhalb Jahren gebrochen, ging damit zu Ike, und Ike machte eine offene Reduktion - setzte eine kleine, dünne Platte mit vier Schrauben ein, die es zusammenhalten sollten.

Anschließend brach dann die Platte oder die Schrauben oder sonst was, jedenfalls heilte der Bruch nicht. Später bildete sich bei Mrs. Bellingham ein falsches Gelenk etwa zehn Zentimeter oberhalb des Knies, so daß sie ihr Knie nicht mehr als 30 Grad beugen konnte, ohne daß sich das falsche Gelenk mitbeugte. Irgendwie brachte sie es fertig, damit zu gehen, aber abgesehen davon, daß es ihr einen gewissen Halt gab, nützte ihr das Bein nicht viel.

Nun hatte Ike sie an Archie überwiesen, der sollte etwas machen. Als die Patientin vor einiger Zeit bei ihm war, hatte er wohl eine Amputation und eine gute Prothese empfohlen. Damit hatte er sie vergrault - sie wollte sich das Bein nicht abhacken lassen. Jetzt hat Everett vor, statt dessen irgendeine andere Platte einzusetzen.

Man sagt, daß Everett manchmal im OP eine brillante Figur macht und an anderen Tagen den Eindruck erweckt, als wüßte er gar nicht, was er da eigentlich soll. Dies schien ein Tag der letzteren Kategorie zu sein. Wir spalteten die großen Streckmuskeln am Oberschenkel, um an den Knochen zu kommen, wobei das Blut nur so spritzte. Dann fand er eine faustgroße Knochenwucherung oberhalb und unterhalb des falschen Gelenks.

Ikes alte Platte war auch noch da, sie war in der Mitte durchgebrochen, und ein paar der Schrauben waren abgebrochen, also fummelte Archie ein paar Stunden herum, bloß um die Eisenwaren da rauszuholen.

Dann nahm er die neue Platte, die wie ein Stück einer schweren Scheunentorangel aussah, und begann, an der Knochenwucherung herumzumeißeln, um die Platte anzupassen. Krach, bums.

Er schien es auch nicht besser zu wissen als ich, wie man das Ding pas-' send machen könnte. Er kam richtig in Schweiß, schließlich gab er mir Hammer und Meißel und sagte: »So, Kollege, nun hauen Sie mal ein bißchen drauf rum.« - Also meißelte ich, und dann meißelte Frank, und die Kallusbrocken flogen nur so nach allen Seiten. Schließlich paßte die Platte wenigstens einigermaßen.

* Dann nahmen wir oben vom Becken ein paar gesunde Knochensplitter ab und packten sie herum. Die ganze Prozedur wirkte einfach ungemein roh, aber der Oberschenkelknochen sah tatsächlich ziemlich gut aus, als die Platte draufsaß. Die Patientin muß über zwei Liter Blut verloren haben, aber Archie meinte, sie hätte noch genügend, um sich wieder zu erholen.

Den Rest des Mittwochs verbrachte ich damit, mich um Patienten zu kümmern, zu denen ich am Dienstag nicht mehr gekommen war. Ging schließlich um Mitternacht ins Bett. Schlief tief und fest bis zwei, als ich aufstehen mußte, um mir einen Nörgler im zweiten Stock anzusehen, der morgens eine Schilddrüsenoperation gehabt hatte und jetzt überzeugt war, daß er sterben müsse.

Er behauptete steif und fest, er liege im Sterben und habe eine Herzattacke gehabt. Er sagte es der Schwester, und die meinte: Nein, nein, ich bin ganz sicher, daß das nicht stimmt«, und dann sagte er es der Aufseherin, und die Aufseherin sagte: »Nein, nein, schlafen Sie nur«, aber der Mann behauptete immer noch, er würde weiß Gott sterben, der Arzt solle kommen und Ihn für tot erklären. Also ging ich hinauf.

Ich hatte nicht viel Mitleid mit dem armen Kerl; er fing an, mir eine schreckliche Geschichte zu erzählen, daß er hierhergekommen sei, weil er überall gehört habe, die Pflege sei hier so gut, -er besitze sehr viel Einfluß in der Stadt, und wenn er nach Hause käme, würde er den Leuten sagen, wie miserabel dieses Krankenhaus sei; in diesem Stil ging es weiter.

Das machte ihn mir nicht gerade sympathisch. Ich hörte sein Herz ab und sagte ihm, er solle den Mund halten und schlafen.

Ehe ich wieder im Bett war, erschien eine einundzwanzigjährige Patientin von John Gillies in der Notambulanz, die Durchfall und Erbrechen gehabt hatte und jetzt über Bauchschmerzen klagte. Ihr Mann war Medizinstudent drüben an der Universität und er wich nicht von meiner Seite, während ich sie untersuchte.

Ich weiß nicht, ob er befürchtete, ich könnte seine Frau auf der Stelle vergewaltigen, oder ob er einfach klinisches Interesse für meine Tätigkeit bekundete. Ich kam zu dem Ergebnis, daß sie eine akute Darmgrippe habe und rief Gillies ar, um es ihm zu sagen.

Er machte sich aus irgendeinem Grunde Sorgen, daß es möglicherweise auch Meningitis oder Polio sein könnte, also steckten wir sie ins Bett, gaben ihr etwas Luminal und eine Kochsalzinfusion, und heute morgen fühlte sie sich viel besser.

Freitag, 24. Februar

Donnerstag rief mich Miß Wood um halb drei in der Nacht an, ich solle mir eine Patientin ansehen, die Dr. Ronzoni kürzlich am Wasserkopf operiert habe und die gerade wegen einer bösen Ohrinfektion wieder aufgenommen worden sei. Der Fall kam mir irgendwie vertraut vor, und siehe da, es war meine alte Freundin Mary Turner.

Nach der Operation, bei der Ronzoni ihren Wasserkopf mit Hilfe eines hinter dem Ohr eingeführten Polyäthylenschlauches dräniert hatte, war Mary nach Hause entlassen worden. Offenbar ging es ihr schon gleich nach der Operation nicht sehr gut, und dann bekam sie diese Infektion im Ohr; jetzt hatte sie seit drei Tagen eine Temperatur von 39,5 Grad.

Ronzoni war der Meinung, es handle sich um eine Hirnhautentzündung (Meningitis), und bat mich, eine Lumbalpunktion zu machen. Das tat ich, und ihr Liquor war tatsächlich voller Eiter. Heute nachmittag nahm Ronzoni sie wieder in den OP und zog den Schlauch heraus.

Ich vermute, daß eine derartige Komplikation bei solchen Eingriffen nicht selten auftritt; die Patienten bekommen eine Nasen- und Racheninfektion, die aufs Ohr übergreift und von dort über den Polyäthylenschlauch aufs Gehirn. Mary ist also sehr krank, und es kann sein, daß sie ihre Meningitis nicht überlebt.

Dienstag, 28. Februar

Mary Turner hat es nicht geschafft. Am Samstag hatte sie zwischen 41 und 41,6 Fieber, und Luke Hamilton und Ronzoni verbrachten das Wochenende damit, ihr Alkoholumschläge zu machen und sie von Ventilatoren anblasen zu lassen, um ihre Temperatur zu senken. Trotzdem krampfte sie und starb schließlich.

Wahrscheinlich war es so das Beste; denn mit den paar in ihrer stark reduzierten Gehirnrinde übriggebliebenen Zellen, die obendrein von einem so hohen Fieber durchgekocht worden waren, hätte sie doch nur noch vegetieren können. Ronzoni wird diesen Fall als einen unglücklichen Fehlschlag eines Verfahrens verbuchen müssen, das gut hätte ausgehen können, wenn es keine Mikroorganismen gäbe.

Natürlich mußte mein Chirurgie-Pensum mit einem üblen Nachgeschmack enden. Auf Slaters Station lag eine Frau, die vor wenigen Monaten wegen eines Eierstockkarzinoms operiert worden war. Slater hatte festgestellt, daß der Krebs sich schon in der ganzen Bauchhöhle ausgebreitet hatte, und aus diesem Grund hatte er auch ihre Nebennieren herausgenommen, in der Hoffnung, dadurch die Weiterentwicklung des Tumors zu verlangsamen. Mit Hilfe einer Hormonersatzbehandlung hatte sie sich eine Weile so hingeschleppt, aber vor ein paar Tagen ging es plötzlich bergab mit ihr.

Montag nacht wurde ich gerufen, um sie mir anzusehen; ich dachte, sie liege im Sterben. Sofort rief ich Hank und fragte, ob er mit Irgendeiner Wundermedizin aufwarten könne. Er verneinte und sagte, er habe sie morgens gesehen und die Waffen gestreckt. Doch machte er den Vorschlag, ich sollte Randy Brook bitten, sie sich anzusehen, wenn Ihre Lage wirklich verzweifelt aussehe.

Ich rief Brook an, aber sie starb gerade, als er kam. Am nächsten Morgen sagte der Pathologe, es sei ein Jammer, daß niemand sich die Mühe gemacht habe, ihr die Flüssigkeit aus dem Brustraum abzupunktieren.

Wenn das geschehen wäre, hätte sie wohl so lange durchgehalten, bis die Nebennierenoperation ihre Wirkung getan hätte - mit anderen Worten, wenn die Leute, die sie betreuten, wirklich alles getan hätten, was man hätte tun können, statt die Flinte ins Korn zu werfen, dann hätte sie sicherlich noch eine Zeitlang in Ruhe leben können.

Darüber habe Ich inzwischen nachgedacht. Man kann sagen, was man will, aber weder Hank noch Randy haben sich für diesen Fall wirklich eingesetzt; Hank zum Beispiel hatte sich dafür entschieden, daß eine bewußte Vernachlässigung das Beste sei, und verhielt sich dementsprechend.

In diesem Fall hat die bewußte Vernachlässigung die Patientin um Wochen, vielleicht Monate ihres Lebens betrogen. Man kann wohl Hank daraus keinen Strick drehen, und dennoch scheint mir dieser Fall typisch zu sein für etwas, was mir und auch anderen Ärzten widerfährt, wenn sie glauben, es mit sehr schwer kranken Patienten zu tun zu haben. Es ist fast, als ließen wir uns in eine panische Hoffnungslosigkeit hineintreiben.

Ich frage mich, hat ein Arzt jemals das Recht, einen Patienten aufzugeben, hat er das Recht, seine Bemühungen um den Patienten abzubrechen, einfach weil er zu der Überzeugung gelangt ist, daß der sowieso sterben wird?

Wenn fünf Monate Chirurgie hintereinander zuviel waren, so waren zwei Monate Pädiatrie In der Kinderklinik bei weitem nicht genug. Nach dem überfüllten allgemeinen Krankenhaus waren die hellen, luftigen Korridore der Kinderklinik eine Erholung und ebenso die neuen Menschen, die neuen Patienten und die neue Arbeit, die ich dort vorfand.

Auf der Chirurgie war der MA ein Niemand, bloß eine Person mehr im OP. In der Kinderklinik waren die MA von Anfang bis Ende für die Versorgung der Patienten eingespannt. Hier lernte man zum erstenmal ein Gefühl der Befriedigung und des Teilnehmens kennen, das ich so lange entbehrt hatte.

Keineswegs war alles in der Kinderklinik erfreulich. Es gibt wohl nichts Schrecklicheres als ein wirklich krankes Kind; und von solchen wimmelte es In der Kinderklinik. Wenn ich jetzt zurückblicke, muß ich leider sagen, daß In diesen zwei Monaten Tragödien die Erfolge wahrscheinlich überwogen. Aber eines habe ich in der Kinderklinik gelernt: Respekt vor dem Mut und der Tapferkeit unserer kleinen Patienten« und auch vor den geduldigen Männern, die sie behandeln, und diesen Respekt habe ich mir bis heute bewahrt.

Donnerstag, 1. März

Heute früh um 6.45 Uhr ging ich über die Straße zur Kinderklinik, einem funkelnagelneuen, modernen Gebäude mit 180 Betten, ausschließlich für Kinder vom Säuglingsalter bis zu ungefähr vierzehn Jahren. Jedes der anderen größeren Krankenhäuser in der Stadt entsendet Medizinalassistenten hierher zur pädiatrischen Ausbildung.

Im Gegensatz zum Graystone Ist die Kinderklinik in erster Linie ein Wohltätigkeitsunternehmen. Es gibt zwar auch hier zahlende Privatpatienten, aber mindestens 50 Prozent der Betten sind für »Hauspatienten« reserviert, die umsonst oder fast umsonst behandelt werden.

Ich bin vorerst im Ostflügel des zweiten Stockwerks eingesetzt, einer gemischt internistisch-chirurgischen Station, auf der teils Hauspatienten«, teils Privatpatienten liegen. Keine unfreundliche Atmosphäre, aber ich war gehemmt wie Immer, wenn ich mich in neuer Umgebung einleben muß.

Fast den ganzen Vormittag fühlte ich mich nicht sehr wohl, und besonders machte mich der Gedanke nervös, daß ich nun Hand in Hand mit MA aus anderen Krankenhäusern arbeiten würde, die alle viel tüchtiger und selbstsicherer aussahen, als ich mich fühlte, und Ich war auch etwas besorgt, was wohl plötzlich auf mich zukommen könnte.

Dieser Sorge enthob uns Dr. Bernstein, der Erste Assistent; er sagte uns, wir müßten zwar Verantwortung übernehmen, aber die Assistenzärzte würden immer sehr eng mit uns zusammenarbeiten. Wenn zum Beispiel ein Patient irgendwann nachts oder am Tage in die Notfallambulanz eingeliefert wird, untersucht ihn zuerst der MA, aber der Assistenzarzt muß ihn auch untersuchen, ehe eine Entscheidung getroffen wird.

Mir scheint das eine großartige Methode zu sein, etwas zu lernen; der MA hängt weder völlig in der Luft, noch kann er schwerwiegende Fehler begehen. Dennoch hat er Gelegenheit, sich seine eigene Meinung darüber zu bilden, was dem Patienten fehlt und wie man ihm helfen kann.

Nach dem Essen bekam ich zum erstenmal den Vorgeschmack einer Sache, die hier eine wahre Pest ist, nämlich Tröpfe anhängen. In der Kinderklinik verlangt man von den MA, daß sie einen Großteil der zeitraubenden Lehrbubenarbeit verrichten, die im Haupthaus von den Schwestern geleistet wird. Wir müssen alle Tröpfe anhängen, alle subkutanen Infusionen anlegen und alle Blutproben für Laboruntersuchungen entnehmen. Also rief um halb eins die Schwester von 2-Ost an, um mir mitzuteilen, daß ich bei einem einjährigen Kind einen Tropf anhängen und eine Blutprobe entnehmen solle.

Der Tropf erwies sich als wahre Sisyphusarbeit; dieser kleine Junge mußte erst fest in ein Bettlaken eingewickelt und völlig immobilisiert werden, ehe ich auch nur seinen Arm erwischen konnte, und er hatte die winzigsten Venen, die man sich vorstellen kann. Ich versuchte, eine 14er Nadel hineinzubekommen, stellte aber bald fest, daß die Nadel größer war als die Vene.

Schließlich versuchte ich auf Empfehlung der Schwester eine der kleinen Schädelvenenkanülen, die speziell für Infusionen bei Kindern hergestellt werden. Das sind winzig kleine Nadeln mit einer flachen Metallplatte dran, damit man sie auf der Haut des Kindes abstützen kann.

Dieser Tropf und eine subkutane Infusion kosteten mich anderthalb Stunden harter Arbeit. Die subkutane Injektion war nicht so schlimm - man steckt die Nadel einfach in das Fettpolster auf dem Oberschenkel des Säuglings und klebt sie mit Heftpflaster fest, damit die Infusion hineinlaufen und vom weichen Gewebe im Bein aufgenommen werden kann.

Aber das Entnehmen einer Blutprobe war eine ganz andere Angelegenheit. Ich mußte es bei einem acht Monate alten Würmchen machen, bei dem ich überhaupt keine Venen finden konnte; und im Labor wurden mindestens fünf Kubikzentimeter Blut gebraucht. Also wartete ich, bis der Assistenzarzt kommen konnte und mir zeigte, wie man die Vene an der vorderen Halsseite (Jugularvene) anzapft.

Na, ich werde mich wohl noch dran gewöhnen, aber ich glaube, man muß schon verdammt genau wissen, daß sie das Blut wirklich brauchen und es keine andere Möglichkeit gibt, es zu bekommen, denn diese Jugularpunktion ist so ungefähr die grausigste Prozedur, die mir bisher vorgekommen ist.

Man wickelt das Kind so fest in eine Decke, daß es nicht strampeln kann, dann legt man es mit dem Rücken auf den Tisch, schiebt den Kopf nach hinten über die Tischkante und dreht ihn auf die Seite. Dann kneift man das Kind, bis es heult, wenn es nicht sowieso schon heult. Es ist wichtig, daß es aus Leibeskräften schreit, weil dann die Jugularvene am Hals hervortritt, so daß man sie gut sehen und fühlen kann.

Ich brachte die Nadel ohne allzu große Schwierigkeiten in die Vene, aber mittendrin hörte das Kind auf zu schreien; die Vene kollabierte, und das Blut lief nicht mehr in die Spritze. Ich packte es also ein paarmal am Kopf und kniff es, damit es wieder schrie, und schließlich bekam ich das noch fehlende Blut.

Der Assistenzarzt stand dabei, während ich das machte und dirigierte mich sehr sachlich; es schien ihm sogar Spaß zu machen, daß es mir so widerstrebte, dem Würmchen diese fünf Zentimeter lange Nadel in den Hals zu bohren. Aber mit dem Kind war er sehr lieb, und als ich fertig war, nahm er es hoch und streichelte es eine Weile.

Man hatte nicht das Gefühl von Hetze; er wartete, bis das Kind wieder vergnügt und friedlich war, ehe wir aus dem Zimmer gingen. Später sagte er: »Das ist meiner Ansicht nach der wichtigste Teil der ganzen Prozedur. Wenn Sie das eine tun müssen, dann müssen Sie sich auch die Zeit nehmen, das andere zu tun.«

Dieser Mann heißt Shenk - Joe Shenk-, ist klein, von kräftigem Körperbau, dunkelhaarig und trägt eine Hornbrille, lächelt überaus verbindlich und ist gutmütig, aber nicht unangenehm gutmütig.

Er hat eine besondere Eigenschaft, die mir bei einer Reihe sehr guter Ärzte aufgefallen ist: Er mag noch soviel zu tun haben und kann wer weiß wie abgehetzt sein, aber wenn er sich mit einem beschäftigt, dann tut er es wirklich und ist nicht zerstreut oder denkt an etwas anderes.

Ist er aber in Eile, dann sagt er es, und sagt auch, warum.

Nachmittags hatte ich zwei Neuaufnahmen. Der erste Patient kam um zwei als Notfall herein. Es war ein Säugling von drei Monaten mit einemangeborenen Herzfehler, der in seinem kurzen Leben schon drei- oder viermal im Krankenhaus gewesen war.

Beim letztenmal hatte er Herzversagen; jetzt war er wieder da, er hustete und wurde bei jedem Hustenanfall fast schwarz. Ich warf nur einen kurzen Blick auf ihn und saugte ihm gleich eine Menge Zeug aus den Luftwegen. Dann legte ich ihn auf der Stelle in ein Sauerstoffzelt.

Da drinnen wurde er rasch rosa und hörte auf, zu husten. Ich habe gar nicht erfahren, was für einen Schaden er nach Ansicht der Experten hatte, aber augenscheinlich verursachte der Schaden, was immer er auch war, daß ein Teil des Blutes an den Lungen vorbeifloß, und außerdem versagte das Herz.

Der andere Patient war ein Säugling mit einem schweren Ekzem, das er sozusagen zeit seines Lebens hat - er ist acht Monate alt. Shenk und ich sprachen beide mit den Eltern, um die Anamnese zu bekommen.

Das Kind hat schon lange ein Ekzem, außerdem ununterbrochen Magen- und Darmstörungen. Vermutlich kommt das von irgendeinem infektiösen Prozeß, über den man sich noch nicht klar ist (er hatte einmal einen Abszeß am Oberschenkel und anschließend daran überall Furunkel) - eine seltsame Geschichte.

Dann sahen wir uns den Kleinen an, und er war wirklich ein Häufchen Unglück, ein armseliges, weinendes, kratzendes Würmchen, übersät mit diesem trockenen, schuppigen Ekzem, an dem es kratzt, bis es blutet und näßt und verschorft, sich infiziert und voller Eiter ist.

Ungefähr die einzige Stelle, die frei davon war, war ein Büschel struppigen Haares, das oben aus dieser Schweinerei herauswuchs, und zwei traurige blaue Augen, die uns ansahen. Während der Untersuchung wimmerte er die ganze Zeit. Shenk und ich setzten uns wieder zusammen und stellten ein Progamm für das Kind auf.

Der Junge - er heißt Joey McCarran - wird jedenfalls eine Weile im Krankenhaus bleiben müssen; die Sache ist schon so lange im Gange, daß sie sich jetzt nicht plötzlich durch Zauberei beheben lassen wird. Auch ist es sehr wahrscheinlich, daß bei dem Ekzem ein psychosomatischer Faktor mitspielt. Er hat eine wirklich nervöse Mutter und so ein armseliges Würstchen von Vater, der sich verzweifelt bemühte, uns die Anamnese zu geben, während die Mutter ihn bei jedem zweiten Satz unterbrach und es besser wußte.

Zumindest bin ich nun etwas eingeführt, und mein Dienst verspricht interessant zu werden; ich werde viel lernen können, schon weil hier nicht soviel Druck auf einen ausgeübt wird.

IM NÄCHSTEN HEFT:

Ein Junge lernt das Hassen - Die Darmgrippe grassiert - Rettung durch Salz und Wasser - Teddy beißt mich In die Hand - Operation mit dem Taschenmesser

Gelähmte Patientin, Chirurg vor Röntgenaufnahme: »Hat der Arzt das Recht, seine Bemühungen einzustellen?«

US-Schwestern im Krankenhaus-Kasino*: »Grog - mit Alkohol drin?«

US-Arzt: »Ich höre, Sie sind ein Held«

Patient, Ärzte, Medizin-Studenten*: »Dieser Magen kam am Mittwoch«

Patient einer US-Kinderklinik*

»Es gibt nichts Schrecklicheres ...

... als ein wirklich krankes Kind": Kinderarzt, Patientin**

Patient, Schwester in US-Kinderklinik*

»Die Nadel war größer als die Vene«

* Im Children's Hospital Medical Center,

Boston (Massachusetts).

* Bei der Demonstration eines Falles im Johns Hopkins Hospital in Baltimore (Maryland).

* Im Children's Hospital Medical Center, Boston (Massachusetts).

** In der Pediatric Clinic, Tufts Medical Center, Boston (Massachusetts).

* Bei einer Tropf-Infusion von konserviertem Blut.

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