»Irgendwas Irres muß laufen«
Ein Fohlen in Mädchengestalt: schmalhüftig, langhalsig, langmähnig. Es ist 175 Zentimeter hoch, und mehr als ein Meter davon, scheint es, besteht aus Beinen.
Das Mädchen ist 14 Jahre alt. Seine Lippen sind trotziger gewölbt als bei der jungen Brigitte Bardot. Sein Augenaufschlag ist eine Mischung aus Pippi Langstrumpf und Greta Garbo. Ein Kindweib, eine Nabokov-Nymphe -- und zwar eine, neben der die regierende Teenie-Fee Brooke Shields wie eine Barbie-Puppe wirkt, der man versehentlich die Augenbrauen des Muppet-Schlagzeugers Animal angeklebt hat.
In Jeans und auf hohen Hacken stöckelt und stakst dieses Geschöpf über das Trottoir und steigt in einen alten Ford Taunus. Ein dicklicher Mann über 40 sitzt darin. Folgendes Zwiegespräch entspinnt sich:
SIE: Aber Bumsen ist nicht drin!
ER: Warum nicht?
SIE: Weil ich ''n Freund hab'', Möönsch!
ER: Du kannst mir ja einen blasen.
SIE: Da müßt ich kotzen!
ER: Dann bleibt ja nicht mehr viel übrig.
Dies und mehr ist seit Freitag letzter Woche in nicht weniger als 110 regulären Kinos der Bundesrepublik frei ab 16 zu sehen und zu hören.
Dies und mehr: Wie das Fohlenmädchen mit zwölf Jahren Haschisch schmaucht, Trips einwirft und Stimmungspillen frißt wie Popcorn. Wie es aus Neugier, Nachahmungstrieb und Liebe mit 13 anfängt, Heroin erst zu schnupfen, dann zu spritzen. Wie das Gift von der Kindfrau Besitz ergreift wie ein übermächtiger böser Geist und sie auf den Babystrich und in die Verkommenheit treibt, bis sie als eine Art Underground-Ophelia hohläugig und verstört durch Bahnhöfe und Bedürfnisanstalten irrt. Und bis, als schon alle Hoffnung verloren scheint, doch noch ein Wunder geschieht: Das Mädchen wird von seiner Mutter aus dem verdorbenen Berlin nach Schleswig-Holstein ausgeflogen und kommt bei seiner Oma auf dem Land wieder zu sich.
Der Hergang ist weithin geläufig. Denn was da nun auch als Film daherkommt, ist die meistgelesene Geschichte seit Schneewittchen und Winnetou, und noch dazu eine wahre: »Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«.
1,3 Millionen Exemplare dieser Geschichte sind seit dem Erscheinen Ende 1978 als »Stern«-Buch und über die Bertelsmann-Buchklubs unter die überwiegend jungen Leute gekommen. Kaum ein anderes Sachbuch reicht an solche Dimensionen heran -- von Schulfibeln abgesehen.
Doch im Unterschied zu den Fibeln ist »Christiane F.« nach Auskunft des Bremer Pädagogen Reinhard Bockhofer »das erste und einzige Buch, das S.231 viele tausend Jugendliche freiwillig gelesen und durchgelesen haben. Und oft sogar mehr als einmal«.
Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Schon deshalb ist nicht schwer vorauszusehen, daß der Film eine Menge Kinokarten und eine Lawine zusätzlicher Buchexemplare umsetzen wird. Doch das düstere Lichtspiel ist außerdem auch gut gemacht.
Regisseur Ulrich Edel, 33, und der Dokumentarfilm-erfahrene Kameramann Justus Pankau haben das 330-Seiten-Druckwerk an den Originalschauplätzen in eine wortkarge Bilderzählung umgeformt, die von Anfang an einen ständig wachsenden Sog entwickelt wie ein Fluß, der auf einen Wasserfall zurauscht. Je deutlicher der brausende Abgrund zu spüren ist, auf den es losgeht, desto weniger kann auch der Zuschauer dem Drang des Geschehens entrinnen.
Edel und Pankau beschwören West-Berlin als kahlen nächtlichen Neon-Dschungel, durch den die U-Bahnen kriechen wie klappernde Riesenschlangen mit Innenbeleuchtung. Beschwören die Disko »Sound« als qualmig wärmende Dröhnhöhle, in der die Jungen vor der Fremde draußen Zuflucht suchen. Wochenlang haben sich Edel und Pankau mit ihrem fluchenden Team allein in den öffentlichen Toiletten in der Zoo-Gegend herumgedrückt, um sie als gekachelten Orkus, als harnsauren Hades der Fixer-Existenz abzulichten.
Am stärksten aber ist das, was Regisseur und Kameramann mit den jungen Darstellern zuwege gebracht haben -lauter Laien, im Schauspielern wie im Fixen. Doch wie sie Junkie-Rituale und Suchtsymptome mimen, wirkt so penetrant authentisch wie ein Stich mit einer stumpfen, alten Injektionsnadel.
Und dann Natja Brunckhorst, das Fohlenmädchen aus Zehlendorf, die 14jährige Pennälerin in der Rolle der Christiane F.: eine Entdeckung, die nur zu gut in eine Zeit paßt, die halbe Kinder zu Sexsymbolen macht, eine Star-verdächtige Jung-Frau, die Christianes Drogenkarriere als Geschichte einer Besessenheit vorführt -- mit deutlichen Anklängen an den »Exorzisten«. Denn nicht sie tut alle diesen schlimmen Dinge, nicht sie flucht und hurt und kotzt, sondern der Teufel, der in sie gefahren ist, der Dämon »Äitsch«, das Heroin.
Aber worauf läuft das alles hinaus? Aufklärung? Abschreckung? Anmache? Ist dies wirklich ein Blick ins Innerste der heutigen Jugend -- oder doch mehr eine klassisch-kommerzielle Horrorstory im Punk-Gewand der Gegenwart?
Der Film vergrößert und vergröbert nicht nur die Ausstrahlung der Geschichte, die die Journalisten Kai Hermann und Horst Rieck nach dem Tonband-Bericht Christianes niedergeschrieben haben. Er vergrößert auch S.232 die Fragen, die schon der Erfolg des Buches aufgeworfen hat: Fragen nach Ursachen und Wirkungen dieser unerhörten Resonanz. Fragen auch nach den realen Personen: wie sie zu der Geschichte und den Folgen stehen und wie es mit ihnen weitergegangen ist.
Die wirkliche, die originale Christiane F. liegt auf einer halb entblößten, pockennarbigen Schaumstoff-Matratze. Sie hat einen roten Pullover an, Jeans und Jogging-Schuhe.
Der Raum ist eine mit Sperrmüll möblierte Altbauhöhle, schmal und hoch und mit einem Fenster zum Hinterhof. Die Stadt ist Hamburg. In der offenen Tür zur unbeleuchteten Diele hat sich ein ziemlich großer Hund niedergelassen, eine Art Collie.
Draußen stürmt und regnet es an diesem Sonntagabend Ende März. Auf einem hohen, dünnbeinigen Blumentopf-Ständer balanciert prekär ein Kofferfernseher. Rauschend und schwarzweiß flimmert der Kasten die neueste Folge der nicht endenwollenden Familiensaga »Die Waltons« in das halbdunkle Zimmer. Christiane F., selbst eine Saga, schaut zu und tauscht Kommentare aus mit einer neben ihr liegenden Freundin, die eine Hose aus Nappaleder trägt und in derselben Wohnung lebt.
»Ich liebe die Waltons«, sagt Christiane F. »Sie haben immer Zeit, aufeinander einzugehen. Die Eltern sind immer gerecht, und die Kinder nie gemein.«
Christiane spricht mit sanfter Ironie und unterbricht sich selbst mit einem Juchzer: Ein Pferd ist auf dem kleinen S.233 Bildschirm erschienen, ein Apfelschimmel. Hätte sie Lust, wieder zu reiten, wie als Kind in dem Ponyhof in Berlin-Rudow? »Quatsch, nöö. Ich liebe Pferde einfach nur so. Weil sie so ein total ästhetischer Anblick sind.«
Kann das wahr sein? Das soll die Christiane F. sein, ehemals Superdrogi und »child prostitute«, wie es im Titel der englischen Ausgabe der »Kinder vom Bahnhof Zoo« heißt?
Christiane und ihre Freundin haben identische Punk-Frisuren, an den Seiten starr nach oben gekämmt und auf dem Kopf eine Irokesenrolle. Sie haben ihre Augen schwarz ummalt. Sonst aber könnten die beiden gleich bei den heilkräftigen Waltons in der Glotze mitspielen -- besonders Christiane.
Sie wäre ideal als der hübsche Wildfang von nebenan mit dem schelmischen Gesicht und der frechen Schnute. Als bezaubernder Trotzkopf. Oder, mit Punk-Aufmachung, als Nina Hagens liebe kleine Schwester. Jedenfalls ist das ernste En-face-Photo von ihr auf dem Buchumschlag wirklich so, wie es gemeint war: zum Nichtwiedererkennen.
Christiane F. wird im Mai 19 Jahre alt. Sie wirkt mit ihrer zierlichen Gestalt von eben 160 Zentimetern noch immer wie höchstens 15, noch immer mehr als nur eine Spur kindlich bei allem Selbstbewußtsein. Wie muß sie erst gewirkt haben, als sie tatsächlich erst 15 war und an der Kurfürstenstraße zu Freiern ins Auto gestiegen ist?
Die ausdauernde Arg- und Ahnungslosigkeit von Christianes Mutter wird plötzlich begreiflich: Diesem Kind konnte man wahrhaftig nicht zutrauen, was es trieb, konnte man das Doppelleben nicht ansehen, das es führte -vormittags Schule, nachmittags Anschaffen. Man kann es Christiane noch nachträglich kaum abnehmen. Denn was sie erlebt hat, scheint an ihr vorübergegangen zu sein wie ein Gruseltraum von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen.
Trotzdem ist Christiane ganz und gar kein geläutertes Mitglied der heilen Welt ihrer Oma in »Stoltenberg-Country« geworden, wie es am Ende des Buches und des Films aussieht.
Sie hat zwar ganz richtig einen guten Hauptschulabschluß gemacht in der Kleinstadt da draußen. Sie hat, als der Bucherfolg begann, durch Protektion eine Lehrstelle bekommen in der Branche, die ihr so viel verdankt -- beim Buchhandel. Mit ihrer quicken Intelligenz hat sie auch als Hauptschülerin kaum Schwierigkeiten, in einer Ausbildung mitzuhalten, für die überwiegend Abiturienten genommen werden. Nur die Chefs der Buchladen-Kette, bei der sie lernt, wissen, wer sie ist. Ihr Spezialgebiet: Science-Fiction.
Doch die Liebe zum Land und zu ihrer Provinz-Clique, von der sie zum Happy-End ihrer Geschichte schwärmt ("Wir hassen alle die Stadt. Wir sind total auf dem Natur-Trip"), hat sich wieder gelegt. Es zog sie mächtig nach Hamburg und zum Punk, den sie im Buch noch tutig verwirft ("Mich hat es immer erschreckt, wenn ich merkte, daß Leute, die sonst ganz in Ordnung waren, im Punk den geilen Trip sehen").
Bei Abstechern zur Szene in Hamburg befreundete sie sich mit einem Musikanten in einer aufstrebenden Punkband. Sie besorgte sich eine Stelle in einer Hamburger Filiale der Buchhandelskette und ging, inzwischen volljährig geworden, mit der Band und einem anderen Mädchen in Wohngemeinschaft.
Irgendeine Schau, »irgendwas Irres«, meint sie, müsse halt in ihrem Leben laufen, damit sie es aushalten kann. Normalität ist ihr ein Greuel, und vor S.236 nichts hat sie größere Furcht als davor, »eine Nummer zu sein«.
Wie ein Rumpelstilzchen genießt sie es, berühmt, in aller Munde und dennoch unerkannt zu sein. Sie balanciert zwischen dem Wunsch nach Privatheit und ihrem Drang nach Selbstdarstellung und Anerkennung -- das wird durch den Film bestimmt nicht einfacher.
Tatsächlich liebäugelt sie mit einer Showrolle, seit Regisseur Edel und Filmproduzent Bernd Eichinger den Gedanken hatten (und wieder verwarfen), Christiane F. im Film sich selbst spielen zu lassen, »weil sie so gut war, wenn sie uns mit ihrer Freundin Stella vormachte, wie bestimmte Fixer-Rituale ablaufen, etwa, wenn eine die andere um Stoff anhaut und die andere so tut, als hätte sie selbst nichts« (Edel).
Christiane F. möchte ihre Buchhändlerlehre unbedingt abschließen, und das dauert noch fast zwei Jahre. Aber sie will auch »selbst mal auf einer Bühne stehen, wie es der David Bowie gemacht hat« -- David Bowie, ihr Idol von klein auf, David Bowie, der als Extra-Schauwert auch in dem Film über Christiane F. auftritt und »Heroes« und »It is too late« singt.
Hat Christiane F. denn nicht ausgesorgt? Nicht mehr als Kai Hermann und Horst Rieck, mit denen sie sich das Autorenhonorar von bisher gut zwei Millionen Mark zu je einem Drittel teilen muß. Doch Christiane rührt dieses Geld kaum an.
Auch ihre Mutter in Berlin wohnt nach wie vor in der kleinen Altneubauwohnung nahe der Mauer in Kreuzberg und arbeitet wie je als rechte Hand des Chefs einer Gebäudereinigungsfirma. Die 36jährige Frau F. ist das, was man früher eine »patente Frau« nannte: lebhaft, interessiert, gescheit und mindestens so untypisch als Junkie-Mutter wie ihre Tochter als Junkie.
Ohne Vorwurf gegen Christiane erzählt Frau F. von ihrer zweiten Tochter, die nur ein Jahr jünger ist als die Erstgeborene und bei ihr lebt: ein Musterkind und eine wackere Schülerin, die zielstrebig aufs Abitur hinarbeitet. Nur daß sie immer mehr Katzen in die Wohnung schleppt.
»Eines Tages nicht lange nach Erscheinen der ''Kinder vom Bahnhof Zoo'' bemerkte ich, wie das Buch während des Unterrichts unter dem Pult weitergereicht wurde«, erzählt der Bremer Pädagoge Reinhard Bockhofer. »Ich dachte gleich: Na, da bahnt sich was an!«
Aber auch der Lehrer konnte nicht ahnen, daß sich dieser Text unter den Pulten und unter der Hand zu einem unverordneten Generationsbuch der Teenager entwickeln würde auf eine Art, die durchaus vergleichbar ist mit früheren Identifikationserlebnissen der Jugend. Vergleichbar mit Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen«, worin der S.237 bürgerliche Nachwuchs der Jahrhundertwende die Sexualnot seiner repressiven Erziehung gespiegelt und auf die Spitze getrieben fand. Vergleichbar sogar mit Goethes frühem Bestseller, dem »Werther«, der den Lebensüberdruß aus unerfüllbarem Liebessehnen nicht nur für die empfindsamen Jünglinge des 18. Jahrhunderts vorbuchstabierte.
Längst nicht mehr nur in Großstädten und schon von Zwölfjährigen wird »Christiane F.« verschlungen -- was in den behüteteren Zonen der Republik zu Fragen führt, die nicht nur mit Rauschgift zu tun haben.
»Neulich kommt ein Mädchen aus der 6. Klasse und erzählt mir, ja, sie habe die Christiane F. gelesen, aber manches nicht verstanden«, berichtet eine Lehrerin aus Ditzingen bei Stuttgart, die offenbar das Vertrauen ihrer Schüler besitzt. »Das Mädchen hatte soweit alles mitgekriegt, was mit dem Heroin-Drücken zusammenhängt. Sie wollte nur erklärt haben, was das heiße, ''es französisch machen'' und ''jemand einen runterholen''.«
In Hannover hatten einundzwanzig von zweiunddreißig Schülern einer 9. Klasse das Buch bereits gelesen, als der Lehrer sich entschloß, das Werk im Unterricht zu behandeln. Die meisten hatten die Story in einem Zug verschlungen. Kommentar des Pädagogen: »Bei dem Umfang (des Buchs) ist das für einen resignierten Deutschlehrer phänomenal.«
Häufiger kommt der Wunsch, die »Kinder vom Bahnhof Zoo« durchzunehmen, von den Schülern selbst. Doch kein Pädagoge wagt sich an den heißen Stoff, ehe er nicht die Eltern verständigt und deren mehrheitliche Zustimmung gefunden hat.
»Diese Zustimmung wird erstaunlich selten verweigert«, erklärt Reinhard Bockhofer in Bremen, der schon vor zwei Jahren einen didaktischen Leitfaden für die schulische Behandlung von Christiane F. erarbeitet hat. »Eine Schule, die auf ein so brennendes Problem nicht eingeht«, sagt er, »hat ihren Zweck verfehlt.«
Viele Pädagogen bauen dabei ganz auf Abschreckung. Lehrer Gerhart Roth von der Realschule Breuberg im Odenwald zum Beispiel ist im Religionsunterricht »sehr ausführlich auf die harten Stellen eingegangen«, damit die Kinder sich »richtig vorstellen S.240 können, wie brutal der Drogenscheiß ist«. Besonders die Entzugsszenen »mit dem Gestank, der Schreierei, dem Brechen« seien seinen Schülern unter die Haut gegangen. Einige seien »käseweiß« geworden: »Das hat die körperlich regelrecht mitgenommen.«
Andere Lehrer und nicht wenige Drogenberater aber wenden ein, das Buch schrecke zuverlässig nur solche Kinder ab, die sowieso nicht gefährdet seien. Labile Jugendliche dagegen würden von der Heroin-Christiane und sogar von deren Leiden eher zur Nachahmung angeregt.
»Brutal angemacht« fühlte sich eine 15jährige aus dem Stuttgarter Vorort Hallschlag von dem Buch, das sie »viermal hintereinander« verschlang. Sie hatte sich aber schon einer Fixerclique angeschlossen und drückte ein halbes Jahr lang Heroin. Dann aber stieß sie zu einer Ex-Drogi-Gruppe, die der junge »Sozi« (Sozialhelfer) Klaus Kurzweg betreut, und ist inzwischen wieder »clean« (Heroin-frei).
In Berlin erzählen städtische Drogenberater von einer »13jährigen aus Bad Harzburg«, die, von dem Buch animiert, nach Berlin ausriß und zwei Tage nach ihrer Ankunft Äitsch schnupfend auf dem Straßenstrich aufgegriffen wurde. Auch habe man zwei zehnjährige Mädchen erwischt, die mit einer Spritze und Wasser »Christiane F.« und »Drücken« gespielt hätten, wie Kinder sonst Doktor oder Cowboysund-Indianer spielen.
Auch Goethe wollte ja mit dem »Werther« vor Gefühlsüberschwang und Selbstmitleid warnen und mußte hinterher erleben, daß man ihm vorwarf, er habe junge Männer mit seinem bewegenden Text zum Selbstmord angestiftet. Gemessen am Erfolg seiner Leiden des jungen W. aber hielten sich solche Imitationstaten sehr in Grenzen.
Mit den Leiden der jungen F. scheint es sich ähnlich zu verhalten. Trotz der Millionenauflage wird nirgends ein so dramatischer Anstieg der Heroinsucht beobachtet, wie es ihn in den Jahren nach 1975 gegeben hat -als auch Christiane auf Äitsch kam. »Es hat sich herumgesprochen, daß Heroin uneingeschränkte Kacke ist«, sagt ein Drogenberater in Hamburg. »Auch die Kiffer nennen Äitsch nur noch ''Gift''.«
Reinhard Bockhofer sieht auch unter den Lehrern eine Mehrheit, die den Nachahmungseffekt für geringfügig hält im Vergleich zu den positiven Wirkungen des Buches. Denn im Schock-Jargon der Großstadtjugend mit seinen beiden Schlüsselworten »geil« und »Bock« werde dennoch sehr differenziert ausgesprochen, was der jungen Generation so tierisch auf den Geist geht.
Das allein sei therapeutisch -- wie schon bei Christiane, als sie sich vor Kai Hermann und Horst Rieck viele Stunden lang die Seele freiredete. Gefährdete würden bei der Lektüre auf ihre Gefährdungen aufmerksam. Probleme würden bewußt und damit eher lösbar gemacht. Und wenn auch die Eltern das Buch läsen, könne es sogar die Sprachlosigkeit in den Familien überwinden.
»ntergeschoß Gropiusstadt. Stimme Christiane: Gropiusstadt, das » » sind Hochhäuser für 45 000 Menschen, dazwischen Rasen und » » Einkaufszentren. Von weitem sieht alles neu und sehr gepflegt » » aus. Doch zwischen den Hochhäusern stinkt es überall nach » » Pisse und Kacke. Am meisten stinkt es im Treppenhaus ... »
So fängt der Film an: mit den Hochhauskindern, die ihre Notdurft im Treppenhaus verrichten, weil sie in die Hose machen, bis sie mit dem Lift in den achten oder elften Stock zum heimischen Klo hinaufgefahren sind. Doch das ist auch schon alles, was vom ersten Viertel des Buches übriggeblieben ist, das Christianes Vorgeschichte schildert, ehe sie mit der Fixerszene in Berührung kommt.
Mitautor Kai Hermann bedauert das, weil ihm gerade dieser Teil besonders wichtig ist. Für ihn (und ihn nicht allein) ist Christiane F. so etwas wie das klarsichtige Kind aus Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, das Kind, das sagt, wie es ist: »Aber der Kaiser hat ja gar nichts an!«
Christianes Beobachtungen aus ihrer Hochhaus-und-Gesamtschul-Kindheit haben den gleichen entlarvenden Biß. Nie ist die gedankenlose Inhumanität moderner Architektur so bloßgestellt worden wie mit der Treppenhaus-Scheißerei und mit dem Kochlöffel, den die Kleinen immer mit sich führen müssen, weil sie anders die Bedienungsknöpfe in den Fahrstühlen nicht erreichen können.
Nie sind die Beziehungslosigkeit und das pädagogische Vakuum zwischen Lehrern und Schülern auf einer Gesamtschule so schlicht und »eutlich konstatiert worden: Ich lernte von Kessi das » » Schuleschwänzen ... Erst hatte ich Bammel davor. Dann merkte » » ich aber schnell, daß es fast nie rauskam, wenn man einzelne » » Stunden schwänzte. Nur in der ersten Stunde wurde » » eingetragen, wer fehlte. In den nächsten Stunden hatten die » » Lehrer ja viel zuviel Schüler, um einen Überblick zu haben, » » wer nun da war und wer nicht. Vielen war es wohl auch egal. »
Die Verheerungen unerfüllter Erfolgs- und Prestigesucht in der neudeutschen Gesellschaft hat noch kein Berufsschriftsteller ätzender beschrieben als Christiane am Beispiel ihres Vaters, der aus Frankfurt an der Oder stammt, selber entwurzelt ist und keinen festen Boden mehr unter die Füße bekommt. Der schnoddrige Ton enthüllt die Betroffenheit der Tochter mehr, als er sie verdeckt: »Von all seinen Träumen war ihm nur sein Porsche geblieben und ein paar aufschneiderische Freunde.«
Ohne die Vorgeschichte fallen die sozialen Ursachen unter den Tisch, von denen her die Drogenanfälligkeit Christianes und ihrer Generationsgenossen überhaupt erst begreifbar werde, meint Kai Hermann. So sehe es im Film aus, als habe sich Christiane einfach nur aus Langeweile und Abenteuerlust auf die Szene begeben.
»Das hat sie doch auch getan!« trumpft dagegen Hermann Weigel auf, der das Drehbuch geschrieben hat. »Christiane ist ein unheimlich starkes S.242 Mädchen. Sie war damals schon der Star in ihrer Clique. Die kann man doch nicht nur als Opfer ihres Milieus sehen. Wenn Gropiusstadt plus Scheidung der Eltern gleich Drogensucht ist, dann möcht'' ich wissen, warum Leute fixen, die in einer Villa in Grünwald mit intakten Eltern aufgewachsen sind.«
Weigel sieht in Christiane F. eher einen »femininen James Dean": eine Verkörperung jugendlicher Unrast und Auflehnung, eine kleine Steppenwölfin. »Man könnte höchstens sagen, daß sie an Drogen und ans Äitsch gekommen ist, weil das Milieu und die Gesellschaft ihr und den anderen viel zuwenig Möglichkeiten gibt, den Erfahrungshunger und die Spannungen der Pubertät legitim auszuagieren.«
Christiane stimmt mit Hermann Weigel überein. In ihrer Lust am Provozieren geht sie sogar so weit, die Hitlerjugend und die Jungmädel der dreißiger Jahre um ihre Ideale zu beneiden, auch wenn es falsche und mißbrauchte Ideale gewesen seien: »Wenn ich mir Bilder von der Hitlerjugend angucke, dann sehe ich nur strahlende Gesichter. Die müssen doch echt begeistert gewesen sein.«
Christiane glaubt, daß die Jugend in der Nazizeit mehr ihren speziellen jugendlichen Bedürfnissen entsprechend hat leben können als heute: »Und dann setzt sich wie neulich irgend so ein Arsch im Fernsehen hin und sagt, er könne nicht begreifen, wieso die Jugend heute diese freieste Gesellschaft, die es je auf deutschem Boden blablabla, wieso sie diese fabelhafte Gesellschaft als Käfig sieht.«
Aber das ist wieder eine brachiale Vereinfachung. Alice Miller, die scharfsinnige Schweizer Psychoanalytikerin, argumentiert denn auch in ihrem neuen Buch ("Am Anfang war Erziehung"), daß Christiane F. und ihr vormaliger Hang zur Selbstzerstörung letztlich nicht überzeugend zu erklären sei ohne die klägliche Rolle, die der Vater in ihrer Kindheit und in der Kindheit so vieler -- und besonders der weiblichen -- Drogenabhängigen gespielt habe.
Durch den Zwiespalt zwischen Vaterhaß und Vaterliebe habe die kindliche und pubertäre Gefühlsverwirrung bei Christiane das erträgliche Maß weit überschritten. Gerade deshalb habe sie die Betäubung, das »Wegdrücken« und »Zuknallen« ihres inneren Tumults mit Heroin zuerst als so wohltuend empfunden. Gerade deshalb Christianes Kult um das »Cool«-Sein, um diesen mit geradezu religiöser Inbrunst ersehnten Zustand von Angstlosigkeit und Seelenruhe.
An der Ecke Potsdamer und Kurfürstenstraße versäumt die Bärenführerin im Stadtrundfahrtbus nicht den Hinweis, hier rechts beginne das Revier, in dem auch Christiane F. einst anschaffen gegangen sei. Die westdeutschen Touristen drückten sich die Nasen platt. Aber im Moment ist keine »Babystricherin« zu sehen.
Jeansblaue Rudel westdeutscher Schüler schieben suchend durch die öde Halle des Bahnhofs Zoo und finden außer Wermutbrüdern nur gelegentlich einen Strichjungen, der neben dem rückwärtigen Ausgang lehnt und die Seitenfront des Bundesverwaltungsgerichts anstarrt.
Sie sollen auf ihren obligaten Klassenausflügen nach Berlin die Mauer besichtigen und den Reichstag. Doch was sie in der alten Hauptstadt sehen wollen, sind die Wirkungsstätten und Leidenswege der Christiane F. Ganz Gründliche pilgern sogar nach Gropiusstadt hinaus, um den im Buch beschriebenen betonierten Spielplatz zu bestaunen.
In der Dröhnhöhle »Sound« an der Genthiner Straße lebt eine einheimische Gästeminderheit flott vom Andrang der Jungtouristen. Den verachteten Westdeutschen, die Christianes Trip einen Abend lang nachschmecken möchten, drehen die Berliner zu Überpreisen Mandrax und Captagon an.
Auch sonst ist nicht mehr viel übrig von der Zoo-Szene des Buches und des Films. Fortwährende Razzien haben S.245 die Fixer aus dem U-Bahnhof Kurfürstendamm vertrieben und »die Szene gesplittet«. Das heißt, die Fixer und Dealer haben sich aus der Zoo-Gegend auf andere Treffs in den Stadtbezirken zurückgezogen -- auf den Hermannplatz in Neukölln zum Beispiel.
Nicht nur die Ordnungsmacht drängt die Hartdrogen-Süchtigen an die Peripherie. Auch der neue Aktivismus der Hausbesetzer und der bunten Bewegung drückt sie beiseite: an den Rand des Blickfelds und des Interesses.
»Äitsch war für mich das Stärkste, was es gab. Äitsch war Gott. Aber ich wollte beweisen, daß ich noch stärker bin.« Das sagt eine aparte 18jährige mit einer Punk-Frisur und großen eigensinnigen Türkis-Augen. Sie trägt in dem Bahnhof-Zoo-Buch den selbstgewählten Namen Stella und war neben Babsi, die an einer Überdosis starb, Christianes engste Freundin. Die beiden halten auch weiterhin Kontakt.
Stella kam 1978 wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz zehn Monate ins Frauengefängnis. Dort schloß sie sich mit anderen Drogenabhängigen zusammen, die zunächst gegen den Widerstand der Gefängnisleitung eine Selbsthilfegruppe aufzogen und gerade durch diesen Widerstand Kraft und Zusammenhalt gewannen.
Nach dem Knast ging Stella in eine (nichttherapeutische) Wohngemeinschaft, machte in der Schule weiter und blieb »clean«. Mit ihrer ungewöhnlichen Intelligenz holte sie die verlorenen anderthalb Jahre rasch auf. Jetzt ist sie mit Notendurchschnitt 2,6 in der 10. Klasse und fest entschlossen, ihr Abitur zu machen.
Viele Drogenberater würden eine solche Geschichte am liebsten geheimhalten. Wie im Fall Christiane fürchten sie, die Rettung dieser Überlebenden könne die Illusion bestärken, die jeden ersten Schnief und jeden ersten Schuß begleitet: die Illusion, jederzeit wieder loskommen zu können vom Äitsch.
Ohne Frage waren beide, Stella wie Christiane, auch auf der Droge noch außerordentliche Charaktere mit viel unangeknackster Substanz. Ihre Berühmtheit hat ihnen den Rücken gestärkt. Aber daß sie es geschafft haben, kann ja nicht heißen und heißt auch nicht, daß es ihnen leichtgefallen ist, »clean« zu werden und zu bleiben.
Anderen, die nicht diesen Selbstbehauptungswillen haben, wird es freilich schwerer. Aber auch der weichmütige Detlef R., Christianes Freund, ist weg vom Heroin.
Seit dem Ende der Haftstrafe, die auch er abzusitzen hatte, lebt er in einer von der Sozialhilfe betreuten Wohngemeinschaft ehemaliger Abhängiger und Trebegänger. Er hilft bei Altbau-Renovierungen und ist dabei, den Führerschein zu machen. Er möchte Taxifahrer werden.
Mit Christiane hat er keine Verbindung mehr. Er fühlt sich von ihr ausgenutzt und behauptet, die Liebesgeschichte zwischen ihr und ihm sei längst nicht so heiß gewesen, wie sie es geschildert habe: »Die hat zu viele Groschenromane gelesen.«
Groschenromane, soviel ist wahr, liest Christiane F. trotz buchhändlerischer Geschmacksbildung noch immer lasterhaft gern. Zur Zeit steht sie auf »Bergromane«. Was ihr daran so behagt, ist die Gewißheit, daß es am Ende gut ausgeht -- diese Gewißheit, die in der Wirklichkeit keiner haben kann.
Christiane ist besorgt, daß die EDV, die in ihrer Ausbildung gerade dran ist, bald auch den Buchhändler-Beruf überflüssig machen könnte: »Dann kann jeder Kunde selbst in den Computer tippen, welches Buch er vom Zentrallager braucht.« Es sei gar nicht mehr lange hin, dann sei »die einzige Karriere, die man noch machen kann, echt nur die Drogenkarriere«.
An dem Film zu ihrem Buch mißfällt ihr, daß ihre Drogenkarriere darin nun wieder zu einseitig und melodramatisch als abschreckendes Beispiel dargestellt sei: »Ich sehe meine eigene Vergangenheit nicht so schwarz, wie andere es schwarzsehen sollen, damit sie es gar nicht erst machen. Für mich war es ja so, daß ich dem damals auch unheimlich viel gute Sachen abgewinnen konnte. Ich denke mir heute, daß ich viele wichtige Erfahrungen erst dadurch gemacht habe.«
Sie fürchtet auch, daß die hochgezogene Publicity um den Film das Mißtrauen der Jungen gegen die Vermarktung der Drogenszene verschlimmert.
Der »Stern« hat zwar versucht, diesem Mißtrauen entgegenzuwirken. Er hat 200 000 Mark für das pädagogische Begleitbuch zu den »Kindern vom Bahnhof Zoo« ausgegeben, das in 60 000 Exemplaren kostenlos verteilt wurde.
Doch auf eine Anfrage des Fernsehens, ob das Magazin vielleicht auf die Idee gekommen sei, einen Teil seiner Zoo-Gewinne für die Drogenhilfe zu spenden, antwortete der »Stern«-Chefredakteur Felix Schmidt: Es erwarte ja auch niemand von der Waffenschmiede Krauss-Maffei, daß sie aus den Überschüssen beim Panzerverkauf Beiträge zur Kriegsopferversorgung leiste.
S.240
Gropiusstadt, das sind Hochhäuser für 45 000 Menschen, dazwischen
Rasen und Einkaufszentren. Von weitem sieht alles neu und sehr
gepflegt aus. Doch zwischen den Hochhäusern stinkt es überall nach
Pisse und Kacke. Am meisten stinkt es im Treppenhaus ...
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Ich lernte von Kessi das Schuleschwänzen ... Erst hatte ich Bammel
davor. Dann merkte ich aber schnell, daß es fast nie rauskam, wenn
man einzelne Stunden schwänzte. Nur in der ersten Stunde wurde
eingetragen, wer fehlte. In den nächsten Stunden hatten die Lehrer
ja viel zuviel Schüler, um einen Überblick zu haben, wer nun da war
und wer nicht. Vielen war es wohl auch egal.
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S.233Christiane F. auf dem Kinderstrich in der Kurfürstenstraße.*S.240Christiane-F.-Darstellerin Natja Brunckhorst, Regisseur Edel,Detlef-Darsteller Thomas Haustein.*S.245"Stern«-Titel 40/1978.*