SPIEGEL: Herr Ben-Chorin, »wenn Israel sich der Macht verschreibt«, haben Sie gesagt, »könnte es auf die schiefe Bahn der Selbstverfluchung geraten.« Nach all seinen Kriegen, einschließlich der letzten Aktionen gegen den Libanon - ist Israel auf dieser schiefen Bahn?
Ben-Chorin: Die Gefahr besteht. Die Verteidigung unseres Lebens und unserer staatlichen Existenz kann uns niemand abnehmen; wir können hier nicht sitzen und warten, bis wir umgebracht werden. Doch grundsätzlich muß sich Israel des Prophetenwortes bewußt sein: »Nicht durch Macht, nicht durch Kraft, allein durch meinen Geist spricht der Herr der Heere.«
SPIEGEL: Hat sich Israel als Besatzungsmacht nicht moralisch korrumpiert?
Ben-Chorin: Kaum. Wohl aber gibt es junge Menschen bei uns, die sich weigern, Besatzer in den Araber-Gebieten zu sein. Auf ewige Zeit darf Israel nicht Besatzungsmacht bleiben.
SPIEGEL: Sie haben sich vor fast 50 Jahren vor den Nazis nach Palästina gerettet. Im heutigen Israel sind aber Juden immer noch existentiell bedroht. Ist das nicht deprimierend?
Ben-Chorin: Ja, das stimmt. Als junger Mensch, der in der zionistischen Jugendbewegung groß geworden war, wußte ich, daß es hier bewaffnete Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern gab. Wir haben allerdings geglaubt, daß dies nach der Gründung des Judenstaates anders würde.
SPIEGEL: Das war ein fundamentaler Irrtum.
Ben-Chorin: Ja, man muß heute zugeben: Das Programm des ersten Zionistenkongresses von 1897 wurde nicht erfüllt. Den Judenstaat haben wir bekommen, aber eine gesicherte Heimstätte nicht.
SPIEGEL: »Der Zionismus wollte die Judenfrage lösen«, haben Sie geschrieben, »aber er hat in Wahrheit nur die Judenfrage von Europa in den Nahen Osten transportiert.«
Ben-Chorin: Transportiert und von der Randspannung um eine religiös-nationale Minderheit innerhalb vieler Völker Europas zu einer ähnlichen Situation des isolierten Judenstaates im Nahen Osten geführt. Das heißt: Das Problem wurde transportiert und transformiert.
SPIEGEL: Sie wollten das jüdische und das palästinensisch-arabische Element miteinander verbinden. Diese »Revision des Zionismus«, die Sie für »unabdingbar« halten, hat bisher nicht stattgefunden und hat wohl auch kaum mehr eine Chance.
Ben-Chorin: Die Aufgabe bleibt. Denn es ist ja nicht so, daß der Antisemitismus mit der Gründung des Judenstaates verschwunden wäre. Der jüdische Staat wird von der arabischen und moslemischen Umwelt so stark abgelehnt wie einst die Juden in der Diaspora.
SPIEGEL: Gibt es noch eine Lösung?
Ben-Chorin: Ich denke da wie mein verstorbener Lehrer, der große Religionsphilosoph Martin Buber. Er strebte einen binationalen Staat von Juden und Arabern an. Auf die Dauer haben wir keine andere Möglichkeit, als einen solchen binationalen oder föderativen Staat mit einem _(* Das Gespräch führten die Redakteure ) _(Stefan Simons und Dieter Wild in ) _(Jerusalem. ) arabischen und einem jüdischen Teil aufzubauen. Wir kommen an dieser Wirklichkeit nicht vorbei.
SPIEGEL: Und das sagen Sie trotz Intifada, trotz der Explosion des islamischen Fundamentalismus, trotz der Gefahr, daß arabische Staaten die Atombombe in die Hände bekommen?
Ben-Chorin: Etwas anderes läßt sich gar nicht denken. Wir müssen es immer wieder versuchen, so wie jetzt, da wir mit den arabischen Nachbarn und der arabischen Minderheit im Lande, den sogenannten Palästinensern, verhandeln.
SPIEGEL: Wieso »sogenannte« Palästinenser?
Ben-Chorin: Ich sage »sogenannte« Palästinenser, weil ich auch ein Palästinenser war. Ich hatte einen palästinensischen Paß, wahrscheinlich schon bevor Herr Arafat einen besaß. Der Ausdruck Palästinenser ist so unpräzise wie der Ausdruck Israeli. Es geht immer um Araber und Juden.
SPIEGEL: Ein Staat, der je zur Hälfte aus Arabern und aus Juden bestände, widerspräche doch der zionistischen Grundvorstellung von einem jüdischen Staat.
Ben-Chorin: Stimmt, aber wir müssen Konzessionen an die Realität machen. Vielleicht lassen sich zwei miteinander verbundene Föderativstaaten mit weitgehender innerer Autonomie denken.
SPIEGEL: Damit fordern Sie Israels Rückzug aus den besetzten Gebieten.
Ben-Chorin: Ja, wenn es denn zu einer umfassenden Friedensregelung gekommen ist.
SPIEGEL: Für das schwierigste Problem, Jerusalem, haben Sie vorgeschlagen, den Heiligen Stätten eine »ökumenische Verwaltung« von Juden, Christen und Moslems zu geben. Dann müßte aber Israel auf einen Teil seiner Souveränität über Ost-Jerusalem verzichten.
Ben-Chorin: In der Tat. Ich habe mir dabei Rom zum Vorbild genommen. Niemand wird bezweifeln, daß Rom die Hauptstadt Italiens ist. Aber inmitten dieser Hauptstadt existiert die Vatikanstadt als eine selbständige, von Italien unabhängige Zone. _(* Der rechte Polizist vertreibt mit ) _(angelegtem Tränengasgewehr einen ) _(arabischen Jugendlichen. )
SPIEGEL: Die Altstadt Jerusalems als selbständiges Gebiet - wer soll darin herrschen?
Ben-Chorin: In einem Turnus von etwa zwei Jahren sollten sich ein Moslem, ein Christ und ein Jude an der Spitze dieser ökumenischen Verwaltung ablösen.
SPIEGEL: Der Jude wäre ein Israeli.
Ben-Chorin: Nein, vielmehr ein Repräsentant der jüdischen Diaspora, die ja zahlenmäßig noch immer viel größer ist als die jüdische Bevölkerung Israels. Die andere Seite mag diese »ökumenische Lösung« ablehnen - aber dann haben wir wenigstens eine Alternative aufgezeigt, also unsere Pflicht getan.
SPIEGEL: Ist das nicht eine Utopie?
Ben-Chorin: Manchmal braucht man eine Utopie. Auf dem ersten Zionistenkongreß in Basel hatte Theodor Herzl in sein Tagebuch notiert: »In Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in 5 Jahren, jedenfalls in 50 wird es jeder einsehen.« Genau nach 50 Jahren war Herzls Idee mit dem Uno-Beschluß zur Errichtung eines Judenstaates Wirklichkeit geworden.
SPIEGEL: In diesem Judenstaat gibt es aber, von den Arabern abgesehen, zwei Wirklichkeiten, zwei Welten: die der jüdischen Orthodoxie und die des liberalen Judentums. Israel dreigeteilt?
Ben-Chorin: Teilen wird dieser innerjüdische Gegensatz Israel kaum, aber ein Kulturkampf ist nicht zu verhindern. Ich bin für eine Trennung von Staat und Religion. Der moderne Staat darf in einer pluralistischen Gesellschaft nur eine Klammerfunktion haben. Der Staat Israel müßte sich gegenüber der Religion neutral verhalten.
SPIEGEL: Wie soll das gehen?
Ben-Chorin: Der Propst der lutherischen deutschen Kirche in Jerusalem hat die gleichen Rechte wie der lateinische oder der griechische Patriarch. Der Staat Israel mischt sich nicht ein. So müßte sich Israel auch gegenüber den religiösen Richtungen des Judentums verhalten.
SPIEGEL: Die ultraorthodoxen Juden, die den existierenden jüdischen Staat überhaupt ablehnen, üben aber über ihre politischen Parteien mächtigen Einfluß aus. Wie ist das möglich?
Ben-Chorin: Der freisinnige Teil der jüdischen Bevölkerung hat die Religion der Orthodoxie überlassen. Dabei entspricht dieser Zustand nicht im entferntesten dem wirklichen Kräfteverhältnis.
SPIEGEL: Sie hatten gehofft, daß sich das liberale »Reformjudentum« hier entwickeln würde. Sprach gegen dieses Reformjudentum in Israel auch, daß es ursprünglich aus Deutschland stammte?
Ben-Chorin: Ich glaube nicht. Es ist ja auch ein Irrtum, anzunehmen, das deutsche Judentum habe allgemein der Reform angehört. Es gab vielmehr in Deutschland, etwa in Berlin, Breslau und Frankfurt am Main, eine nicht unbedeutende Orthodoxie, in Frankfurt gar eine »Austrittsorthodoxie«, die wie eine Art Freikirche außerhalb der jüdischen Großgemeinde stand.
SPIEGEL: Ihr Sohn ist Reformrabbiner. Empfindet er es nicht als deklassierend, daß seine Amtsfunktionen in Israel nicht anerkannt werden?
Ben-Chorin: Ach, wissen Sie, da gibt es einige Möglichkeiten. Manches Paar läßt sich im orthodoxen Rabbinat ganz unfeierlich trauen, so wie bei Ihnen auf dem Standesamt, und geht dann noch mal zu einer festlichen Trauung zum Reformrabbiner in seiner Gemeinde.
SPIEGEL: Jedenfalls haben Reformjuden wie Sie die Macht der Orthodoxie in Israel gewaltig unterschätzt.
Ben-Chorin: Ich habe die Indifferenz der Bevölkerung, vor allen Dingen der Jugend, unterschätzt. Die Herrschaft der Orthodoxen wird einfach hingenommen.
SPIEGEL: Indifferenz erklärt aber doch nicht den enormen Zulauf zu den religiösen Ultras.
Ben-Chorin: Im Talmud steht: »Israels Luft macht weise.« Das stimmt nicht. Israels Luft macht radikal. Auf der einen Seite haben wir heute ein völlig unreligiöses Judentum, ein Zion ohne Gott, auf der anderen Seite eine starre Gesetzes-Orthodoxie. Ihr ist es gelungen, einen Teil der _(* Im Juli mit Ignatz Bubis (vorn, 2. v. ) _(l.) und Johannes Rau (vorn, 3. v. l.). ) jungen Menschen für sich zu gewinnen. Die Jünger des berühmten ultraorthodoxen Lubawitscher Rabbi, der in Amerika lebt, betreiben hier wie anderwärts eine planmäßige innere Mission, eine Rückkehr zum fundamentalistischen Judentum.
SPIEGEL: Etliche dieser Radikalreligiösen haben weltlich oder liberal gesinnte Mitbürger wegen Verletzung religiöser Gesetze mit Steinen beworfen und auch die Polizei angegriffen, so daß man schon von einer »jüdischen Intifada« spricht. Kann die noch stärker werden?
Ben-Chorin: Ich halte das für denkbar, vor allem hier in Jerusalem. Bürgermeister Teddy Kollek ist jetzt 82, wir wollen ihm wie Mose 120 Jahre wünschen, aber das ist ja nicht realistisch. Was nach ihm geschieht, wissen wir nicht.
SPIEGEL: Fehlt diesem radikaleren Teil der Jugend, da der Judenstaat verwirklicht ist, ein Ziel?
Ben-Chorin: Ja, und da haben die orthodoxen Missionare angesetzt. Sie haben gefragt: Was ist das für ein Judentum, das nur darin besteht, in diesem Land zu wohnen und hebräisch zu sprechen?
SPIEGEL: Und die Antwort?
Ben-Chorin: Der Verlust aller Maßstäbe und Werte verlockt viele Jugendliche, einen festen Rahmen anderswo zu suchen, und den bietet im Judentum die Orthodoxie viel stärker als jede andere Richtung.
SPIEGEL: Ist das einer der Gründe dafür, daß Sie als liberaler Schriftsteller und Philosoph in Deutschland heute mehr Einfluß haben als in Israel?
Ben-Chorin: Sie kennen ja den Spruch aus dem Neuen Testament: »Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland.« Sie haben ganz recht, ich habe in Deutschland einen ungleich größeren Leserkreis als hier - das liegt natürlich vor allem an der Sprache: Ich habe immer deutsch geschrieben, nur 2 meiner über 30 Bücher wurden auch ins Hebräische übersetzt.
SPIEGEL: Sie nehmen eine Außenseiterposition in der historischen Streitfrage ein, ob es je eine Symbiose zwischen deutscher und jüdischer Kultur gegeben hat.
Ben-Chorin: Es hat sie gegeben. Sonst wäre gar nicht zu erklären, daß Schriftsteller wie Franz Kafka, Franz Werfel, Jakob Wassermann, Stefan und Arnold Zweig so viel gelesen wurden und daß Theaterleute wie Elisabeth Bergner und Fritz Kortner Lieblinge des deutschen Publikums waren.
SPIEGEL: Wurden aber diese Künstler überhaupt als Juden wahrgenommen?
Ben-Chorin: Sie wurden als Teil der deutschen Kultur ihrer Zeit empfunden und haben meist bekannt, wenn nicht gar betont, daß sie Juden waren.
SPIEGEL: Ist der Holocaust demnach nur ein »dämonisches Zwischenspiel« in den deutsch-jüdischen Beziehungen gewesen, wie Sie geschrieben haben, und nicht deren absolutes Ende?
Ben-Chorin: Das Dritte Reich hat schließlich nur zwölf Jahre gedauert. Es war als Tausendjähriges Reich proklamiert worden, ging aber sehr schnell in Schutt und Asche unter. Heute versucht man, dem Judentum in der Bundesrepublik wieder Raum zu geben. Gerade in diesen Tagen wurde in Aachen der Grundstein für eine neue Synagoge gelegt. Der gute Wille sollte auch von unserer Seite anerkannt werden.
SPIEGEL: Das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland ist keineswegs so normal, wie viele Sonntagsredner behaupten. Als während des Golfkriegs die deutsche Friedensbewegung gegen Waffenlieferungen an Israel demonstrierte, waren viele Israelis schockiert.
Ben-Chorin: Das deutsch-israelische Verhältnis ist ein zartes Pflänzchen. Es ist Wetterstürmen noch nicht gewachsen. Die derzeitigen Ausbrüche des Fremdenhasses und damit natürlich auch wieder des Antisemitismus in Deutschland wecken hier alte Ängste. Wir, die wir uns um ein gutes Verhältnis zwischen Israel und Deutschland bemühen, müssen sehr wachsam sein.
SPIEGEL: Keine »Normalisierung« zwischen Deutschen und Israelis?
Ben-Chorin: Eine Kollektivschuld kann es meiner Meinung nach nicht geben, auch keine Kollektivscham, wohl aber eine Kollektivverantwortung. Was ich von den Deutschen verlange, ist kritische Solidarität, mehr als anderen Ländern gegenüber. Ich wüßte nicht, warum die Deutschen Nicaragua gegenüber eine kritische Solidarität haben sollten; sie sollten sie sehr wohl aber Israel gegenüber haben.
SPIEGEL: Sie haben sich immer für den Dialog eingesetzt: den Dialog zwischen Deutschen und Israelis, Christen und Juden. Viel aktueller und nötiger scheint ein Zwiegespräch zwischen Juden und Moslems, Israelis und Arabern.
Ben-Chorin: Die dialogischen Beziehungen zwischen Deutschen und Israelis, Judentum und Christentum gehören für mein Gefühl keineswegs der Vergangenheit an. Es war aber immer mein Bestreben, den Dialog zu einem Trialog zu erweitern, also das islamische Element einzubeziehen. Leider ist das bislang nicht gelungen: Das theologische Gespräch zwischen dem Islam und dem Judentum ist politisch blockiert.
SPIEGEL: Und der wachsende religiöse Fundamentalismus macht alles noch schlimmer.
Ben-Chorin: Sicherlich. Wenn man mir allerdings vor 50 Jahren gesagt hätte, wie positiv sich die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum gerade in Deutschland entwickeln würden, hätte ich das nicht für möglich gehalten. Ich meine, die arabisch-moslemische Seite müßte sich allmählich dessen bewußt werden, daß wir beide - Juden und Araber - Kinder Abrahams sind. Abraham hatte zwei Söhne: Ismael, den Stammvater der Araber, und Isaak, den Stammvater der Juden. Sie waren einander nicht hold. Aber an der Leiche ihres Vaters, in der Höhle Machpela in Hebron, haben sie gemeinsam getrauert und sich versöhnt. Es ist meine Hoffnung und mein Gebet, daß sich diese Versöhnung wiederholt.
SPIEGEL: Herr Ben-Chorin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Y
* Das Gespräch führten die Redakteure Stefan Simons und Dieter Wildin Jerusalem.* Der rechte Polizist vertreibt mit angelegtem Tränengasgewehr einenarabischen Jugendlichen.* Im Juli mit Ignatz Bubis (vorn, 2. v. l.) und Johannes Rau (vorn,3. v. l.).