KRIEGSVERBRECHER / WARNDIENST Ist benachrichtigt
Bonn suchte den früheren SS-Hauptsturmführer Alois Ennsberger, 53 -wegen Kriegsverbrechen 1951 in Frankreich in Abwesenheit zu 20 Jahren Freiheitsentzug verurteilt und von Österreichs Justiz heute der Ermordung von Juden beschuldigt.
Bonn suchte den früheren SS-Obersturmführer Heinz Pfanner, 55 -- unter anderem wegen »Tötung mit Vorbedacht« von französischen Militärgerichten 1950 in Abwesenheit zweimal zum Tode verurteilt und heute von der Staatsanwaltschaft Wien wegen Kriegsverbrechen zur Festnahme ausgeschrieben.
Bonn suchte den früheren SS-Hauptsturmführer und Leiter von Eichmann-Kommandos, Alois Brunner, 55 -- wegen Massenmordes nach dem Kriege von französischen Gerichten zweimal in Abwesenheit zum Tode verurteilt und heute als NS-Verbrecher auf westdeutschen, tschechischen und griechischen Fahndungslisten verzeichnet.
Doch Bonn suchte Brunner, Pfanner und Ennsberger nicht, um ihre Bestrafung zu ermöglichen, sondern um sie vor Bestrafung zu bewahren.
Über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) ließ das Auswärtige Amt (AA) nach insgesamt 800 Deutschen und Osterreichern fahnden, die in Abwesenheit von französischen Gerichten wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden waren: um sie »über Schwierigkeiten zu unterrichten, die ihnen im Ausland drohen können« (AA).
Die diskret behandelte Staatsaktion (DRK-Kode: »Warndienst west") ließ -- unlängst aufgedeckt -- im Ausland neues Mißtrauen gegen die Deutschen keimen. Für die Schweizer »Weltwoche« war die »ungeheuerliche Skandalgeschichte« das »wohl trübste Kapitel deutscher Vergangenheitsbewältigung«. Der Wiener Korrespondent der »New York Times« kabelte nach Amerika, »heimliche Naziorganisationen« hätten das Deutsche und das Österreichische Rote Kreuz »infiltriert«.
Der »Bund Jüdischer Verfolgter des Naziregimes« protestierte in einer Depesche an Außenminister Willy Brandt »gegen Begünstigung und Warnung von NS-Verbrechern«. Und Eichmann-Jäger Simon Wiesenthal, Leiter des Jüdischen Dokumentationszentrums in Wien, schrieb »mit vorzüglicher Hochachtung« an Bundeskanzler Kiesinger. er fürchte, sein »Vertrauen in das neue Deutschland falsch investiert« zu haben.
Während der österreichische Justizminister Hans Klecatsky sofort eine strafrechtliche Untersuchung der Rote-Kreuz-Affäre in seinem band anordnete, nahm Bonn die Vorwürfe gelassen hin. Außenamtssprecher Jürgen Ruhfus fand, die Warnaktion sei »kein Prozeß, der zu kritisieren ist«. Und die DRK-Suchdienst-Leitung, der Wiesenthal in Wien »ein Verbrechen an der Idee des Roten Kreuzes« anlastet, hatte -- so Suchdienst-Chef Dr. Kurt Wagner letzte Woche -- »ein volles gutes Rotkreuzgewissen bei dieser Sache«.
Die Sache hatte 1949 begonnen. Damals stimmte der Bundestag einem CDU/CSU-Antrag »betreffend Maßnahmen für Deutsche, die in Auswirkung des Krieges im Ausland zurückgehalten werden«, zu, und die Bundesregierung richtete eine (später dem AA angegliederte) »Zentrale Rechtsschutzstelle« ein. Das geschah, wie der damalige Bundesjustizminister Dehler erläuterte, »nicht ... um Kriegsverbrechern Schutz zu gewähren, sondern um diesen Menschen die primitivsten Rechtsgarantien wenigstens von unserer Seite aus zuteil werden zu lassen«.
Geleitet wird die Rechtsschutzstelle (Jahresetat 1967: 440 000 Mark) seit Mitte der 50er Jahre von einem Juristen, der im Rechtsschutz für Kriegsverbrecher versiert ist: vom Vortragenden Legationsrat 1. Klasse Dr. Johannes Gawlik, 62, der während der Nürnberger Prozesse Angehörige der Himmlerschen SS verteidigte.
Die Dienststelle Gawliks sorgte dafür, daß Deutsche, die im Ausland wegen Kriegsverbrechen angeklagt waren, Rechtsbeistand bekamen. Und sie sammelte Prozeßunterlagen über Kriegsverbrecher-Verfahren, um beispielsweise in Abwesenheit verurteilte Deutsche warnen zu können, »damit die nicht«, so das AA heute, »blindlings irgendwo hinfahren, wo sie dann verhaftet werden«.
So ließ sich Gawlik von 1962 bis 1964 über »Vertrauensanwälte« (AA) der deutschen Botschaft in Paris Listen mit den Namen von 800 in Abwesenheit von französischen Gerichten verurteilten Deutschen, darunter ehemaligen SS- und SD-Männern, kommen. Doch weil dem Rechtsschützer Gawlik Heimatanschriften der Verurteilten fehlten, konnte er damals· nicht wirksam warnen,
Ungewarnt blieb denn auch beispielsweise der ehemalige Kompaniechef-Fahrer Heinrich Gaad aus Altenkirchen im Oberlahnkreis, der wegen Beteiligung an der Erschießung von sieben Partisanen und Geiseln im Vogesendorf La Bresse von einem Militärgericht in Metz kurz nach dem Krieg in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war.
Als Gaad, mittlerweile Fahrer eines Ausstellungswagens der Buderus'schen Eisenwerke in Wetzlar, am 15. September 1964 mit einem Firmen-»Opel Blitz« im französischen Roanne Station machte, holte ihn die Polizei aus dem Hotelbett. Nach drei Monaten Haft in einer erneuten Verhandlung von der Mitwirkung an der Geisel-Erschießung freigesprochen, beschwerte sich Gaads Anwalt beim AA über »mangelnde Fürsorge und mangelnden Schutz für deutsche Bürger« und verlangte Entschädigung, weil sein Mandant von der Rechtsschutzstelle nicht gewarnt worden war.
Um künftige Regreßansprüche nach Gaad-Art auszuschließen, bat die Gawlik-Dienststelle den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, aus der 10-Millionen-Namen-Kartei die Anschriften von Frankreich-Gefährdeten herauszusuchen. Als Orientierungshilfe stellte Gawlik dem DRK einen Auszug aus der französischen Originalliste zur Verfügung. Dieses Exzerpt enthielt, im Gegensatz zum Original, weder Dienstgrad noch Strafgrund oder Strafhöhe der 800 Verurteilten.
Das DRK, somit -- nach eigenen Angaben -- in Unkenntnis über verbrecherische Taten mancher der Gesuchten, erklärte sich prompt zu den Anschriften-Recherchen bereit. Denn, so der Bonner Suchdienst-Vize Joachim Leusch, »das gehört zu unseren Aufgaben, wenn es sich um den persönlichen Schutz von Bundesbürgern handelt«.
Otto Ohlsen, Leiter der Hamburger DRK-Suchdienststelle und einst Major im Wehrmacht-Generalstab, übernahm die Ausführung des »Warndienstes West«. Binnen eines dreiviertel Jahres waren 280 der gesuchten Anschriften festgestellt, und in allen Teilen des Bundesgebietes warnten Vertrauensleute aus den DRK-Kreisverbänden mündlich -- gegen Quittung -- die Frankreich-Belasteten vor Reisen über den Rhein.
Einen der Gefundenen, der in Bonn wohnt, benachrichtigte beispielsweise Suchdienst-Vize Leusch selber; es war ein ehemaliger Kriegsverwaltungsrat, der während des Krieges in Lyon, so Leusch, »ein paar Schweine requiriert hatte«, aber nicht ahnte, daß er dafür später von den Franzosen verurteilt worden war.
Aber ob nur Verantwortlicher für die Requirierung von ein paar Schweinen oder Mitschuldiger an der Deportation von Juden -- die Gewarnten können, wenn sie sich an den AA-Rat halten, nun sicher sein, für ihre in Frankreich verhandelten Verbrechen niemals büßen zu müssen.
Denn nach einem 1954 zwischen Bonn und den West-Alliierten abgeschlossenen »Überleitungsvertrag« kann die westdeutsche Justiz keine Kriegsverbrechen verfolgen, die schon einmal Gegenstand von Militärgerichtsurteilen oder auch nur abgeschlossenen Ermittlungsverfahren alliierter Strafverfolger gewesen sind -- auch dann nicht, wenn das ausländische Urteil gegen den -- abwesenden -- deutschen Beschuldigten nie vollstreckt werden konnte.
Zudem haben die DRK-Warnungen offenbar auch Kriegsverbrecher aufgescheucht, die nicht nur in Frankreich, sondern -- wegen anderer Taten -- auch in Deutschland und Österreich gesucht werden. So behauptet Simon Wiesenthal, daß ein in Übersee lebender, in der Bundesrepublik zur Verhaftung ausgeschriebener »Mitarbeiter von Eichmann« wahrscheinlich durch einen DRK-Besuch bei seinen deutschen Verwandten davon abgehalten worden sei, in die Heimat zurückzukehren, wo die Staatsanwaltschaft auf ihn wartet.
Und der Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen, Oberstaatsanwalt Adalbert Rücken, der von der AA/DRK-Aktion erst nachträglich erfuhr, erboste sich. »Wenn das DRK die Leute warnt und ... dabei Anschriften oder Aufenthaltshinweise erhält, die uns nicht bekanntgemacht worden sind, dann würde das unseren Ermittlungsinteressen entscheidend zuwiderlaufen.«
Nur durch eine Panne wurde der »Warndienst West« publik: Namen österreichischer Gesuchter, die das DRK vertraulich an das Wiener Rote Kreuz weitergegeben hatte, waren versehentlich im »Linzer Turm«, dem »Mitteilungsblatt des Frontkampferbundes der 45. I. D. Linz und Wels« erschienen -- unter der Überschrift »Eine Warnung der Österr. Ges. vom Roten Kreuz«. Bonns Suchdienst-Vize Leusch über die Wiener Fehlleistung: »Hätten wir doch den Osterreichern die Liste nicht gegeben.«
Denn als Wiesenthal-Freunde zufällig in diesem Blättchen die DRK-Liste -- unter anderem mit dem Namen des Eichmann-Komplicen Alois Brunner -- fanden, erhob sich Protest. Wiesenthal beschwerte sich beim österreichischen Justizminister über »eklatante Vorschubleistung und Begünstigung gesuchter Naziverbrecher« durch das Rote Kreuz,
In Bonn allerdings weist ·das Auswärtige Amt den Vorwurf zurück, es warne Verbrecher, ohne zu deren Verfolgung beizutragen. AA-Sprecher Ruhfus Ende März vor Journalisten: Als das Rote Kreuz die 800 Namen der Verurteilten bekommen habe, um sie zu warnen, sei »gleichzeitig ... dieselbe Liste über das Bundesjustizministerium auch den zuständigen deutschen Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt worden, damit eben die Strafverfolgung eingeleitet werden kann«.
Das stimmt nicht. Bei der »zuständigen« Strafverfolgungsbehörde, der Ludwigsburger Zentralstelle, trafen Kopien der französischen Originalliste erst ein, nachdem das Auswärtige Amt über das DRK alle greifbaren Gesuchten hatte warnen lassen: Die in Ludwigsburg vorliegenden Listen-Kopien weisen hinter manchen Namen teils in Lang-, teils in Kurzschrift verfaßte Anmerkungen des AA auf -- etwa: »Ist benachrichtigt«.
Das Auswärtige Amt, letzte Woche diesem Ergebnis von SPIEGEL-Recherchen konfrontiert, mußte die Aussage seines Sprechers widerrufen: Die Liste sei in der Tat »anfangs nicht nach Ludwigsburg geschickt worden«.