»Ist das der Anfang von Klein-Chicago?«
Einer am Rande, der Kaufmann Ortwin Künzel, hatte bei der Polizei geplappert. im Prozeß wollte er passen, weil »ich einen Wink mit dem Zaunpfahl bekommen habe« und »jetzt verdammt um mein Leben fürchte«. Sicherheitsbeamte nahmen den bedrohten Zeugen am Frankfurter Stadtrand in ihre Obhut, fuhren ihn heimlich zum Justizgebäude und brachten ihn nach seinem Auftritt vor Gericht wieder weg zum Flughafen.
Zwei aus dem Milieu, der Preisboxer Oswald Büttner und der Privatdetektiv H., wollten der Polizei überhaupt nichts sagen -- streng nach dem Ganoven-Grundsatz »nichts gesehen, nichts gehört«. Prompt steckte die Justiz beide vier Wochen lang in Untersuchungshaft -- mit der Begründung, sie begünstigten die Täter.
Mal rührend besorgt, mal rigoros zupackend -- so verfahren Polizei und Staatsanwaltschaft mit Zeugen eines Mordes, in den die Frankfurter Unterwelt verstrickt ist, der Einblick in Mafia-Umtriebe und Millionengeschäfte internationaler Gangstergruppen gibt.
Auf der Anklagebank vor der 21. Großen Strafkammer des Frankfurter Landgerichts sitzt seit Mitte Juli der Italiener Paolo Lippera, 29, ein römischer Ganove mit weitem Betätigungsfeld -- Erpressung in Italien, Autodiebstahl in den Niederlanden, Juwelenraub im Bundesgebiet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, am 30. Januar 1973 in der Frankfurter Diskothek »New Fashioned« den Jugoslawen Josef Tudic, einen berüchtigten Zuhälter und Schläger aus dem Bahnhofsviertel. mit zwölf Messerstichen getötet zu haben.
Der Fall zeigt exemplarisch, wie Frankfurter Unterweltskreise miteinander Umgang pflegen. Zwar ist die Gewaltkriminalität in der Stadt Frankfurt nicht höher als in Hamburg, München und Berlin. Aber wenn die Großen der Halbwelt am Main miteinander abrechnen, geht es härter zu als anderswo. Die Frankfurter Staatsanwältin Adelheid Werner, Leiterin der Abteilung Schwerpunktkriminalität: »Hier gibt es immer wieder Hinrichtungen von Ganoven«
Mit bestialischer Bestrafung nach orientalischem Muster müssen Gang-Kumpanen rechnen, die nicht spuren. So wurde der Offenbacher Hehler Wolfgang Zisch in einem Waldstück bei Kronberg (Taunus) von Geschäftspartnern gefoltert, mit Schrotflinte und Pistolen erschossen, und der Leiche verbrannten sie noch Gesicht und Hände.
Die kriminelle Subkultur erzwingt mit Folter, Mord und Leichenschändung die Beachtung ihrer allgemeinen Geschäftsbedingungen. Neben den Hochhäusern der Banken, in denen die Finanzmärkte der Republik kontrolliert werden, steuern die Mächtigen der Unterwelt von Bars und Bordellen aus bundesweit das organisierte Verbrechen.
Nur selten gelingt es der Kripo, die straff gegliederten Syndikate aufzubrechen. Und selbst bei tätlichen Auseinandersetzungen innerhalb der Gangs stoßen die Beamten stets an eine Mauer des Schweigens. »Da kommt immer mal eine Anzeige«, berichtet Staatsanwältin Werner, »daß Stühle und Messer geflogen sind, aber nie waren Hände dran.«
Auch im Mordfall Tudic scheint es nach der bisherigen Gerichtsverhandlung fraglich, ob dem Angeklagten Lippera der Mord mit dem Messer nachgewiesen werden kann. Gewiß ist aber schon jetzt, daß neue Schlaglichter auf die schlagkräftige Frankfurter Bahnhofs-Mafia fallen werden, deren Macht bis in den Gerichtssaal reicht. Die Angst der Belastungszeugen bestimmt den Prozeßverlauf.
Wer vor der Polizei seine Beobachtungen noch zu Protokoll gab, kann sich jetzt vor Gericht nur noch schlecht erinnern. »Ich weiß nicht einmal«, veralberte die blonde Bardame Mirjana den Vorsitzenden, »was ich gestern gegessen habe.« Und Boxer Büttner, der von Modell-Athlet Tudic mehrfach Prügel bezogen hatte, war seinerzeit der Blick verstellt: »Ich hatte eine Frau neben mir«, hielt er das Gericht zum Narren, »die war oben ein bißchen offen. Da sind mir die Augen auf die Nase gefallen.«
Nur mühsam rekonstruierte Staatsanwalt Wolfgang Heinrich (Ganovenjargon: »Der eiserne Heinrich"), was sich in der Tatnacht vor 200 Gästen im »New Fashioned« zugetragen hatte. Danach war Lippera plötzlich auf Tudic zugesprungen, hatte ihm den Schädel unters Kinn gerammt und mit stoßartigen Bewegungen mehrfach ein Messer in Kopf und Körper gestoßen. Mit aufgeschlitztem rechtem Augapfel stand Tudic blutüberströmt auf der Tanzfläche und rief: »I've got beaten up« und »they had no fucken reason«. Minuten später verblutete Tudic auf dem Trottoir vor dem Tanzlokal, wohin ihn Büttner und H. gemeinsam geschleift hatten. Büttner: »Der hat die Augen auf Null gestellt, der Mann war fertig.«
Auch wenn Lippera allein auf der Anklagebank sitzt, sprechen Indizien eher dafür, daß die Hinrichtung in Unterweltskreisen geplant und vorbereitet war. Als Lippera mit seinem Komplicen Luciano Primi und einer blonden Begleiterin aus dem Lokal flüchtete, hielt sein Landsmann Egidio Paolo Della Puppa an der Tür Verfolger zurück: »Wenn die Polizei fragt, ihr habt nichts gesehen und nichts gehört.« Dann verschwand er mit den dreien in einem weißen Mercedes -- ohne Beleuchtung und im Rückwärtsgang.
Wo die Auftraggeber zu suchen waren, ahnten die Fahnder. als sie drei Tage später Della Puppa festnahmen. Ein Bruder des Inhaftierten, Franco Della Puppa. unterhält weitverzweigte Beziehungen zu international operierenden Verbrecherkreisen.
In Frankfurt gilt Franco Della Puppa als »anerkannter Unterweltfürst« (Staatsanwalt Heinrich), der vor vier Jahren schon als führendes Mitglied eines europäischen Gangster-Syndikats (Bundeskriminalamt: »Eurogang") verhaftet und später aus der Bundesrepublik abgeschoben worden war.
Von der zwielichtigen »Babalu"Tanzbar in der Frankfurter Moselstraße aus, inmitten des Dirnen-, Zuhälter- und Ausländerreviers, soll der französische Barbesitzer Felix Lesca mit Franco Della Puppa und Geschäftspartnern in Marseille, Paris, Neapel und Amsterdam ein kriminelles Unternehmen aufgebaut haben. das in der Vielfalt und Brutalität der abgewickelten Transaktionen bis dahin ohne \Torbild war. Einbruch und Diebstahl. Waffen- und Rauschgifthandel gehörten, so die Ermittlungen. ebenso zum Repertoire wie das Fälschen von Geld, Pässen und Kfz-Papieren, aber auch Prostitution und Zuhälterei.
Zum abgeschirmten Kreis der Geschäftsleitung hatte nur eine Handvoll italienischer Gang-Funktionäre Zutritt. die wiederum das Fußvolk. meist Landsleute, befehligten -- wenn sie etwa Handlanger mit vorgehaltener Pistole zwangen, in Pelz- oder Juweliergeschäfte einzusteigen. »Doch die Eurogang« » weiß Staatsanwältin Werner, »war nur ein kleiner Anfang.«
Eine streng hierarchische Gliederung, wie sie für das organisierte Verbrechen typisch ist, vermuten die Frankfurter Ermittlungsbehörden hinter einer neuen Gangster-Gruppe. die sich im Bahnhofs-Lotterviertel zwischen Nepplokalen und Nuttenherbergen etabliert hat und mit dem Mord an Tudic in Verbindung gebracht wird: die Amor-Bande, eine Art Dachorganisation ehemals rivalisierender Gruppen, die Franzosen, Jugoslawen, Israelis und Italiener unter einen Hut gebracht hat. Staatsanwältin Werner (Unterweltsspitzname »Baby doll"): »Da gibt es keine Bandenkriege mehr, das ist heute alles viel straffer organisiert.«
Die Buchstaben a-m-o-r (rückwärts gelesen r-o-m-a) stehen nach Vermutung von Kripo-Fahndern für die Namen der führenden Bandenmitglieder und dokumentieren die Verbundenheit zu europäischen Kriminellenkreisen in Italien.
Das Buchstaben-Spiel enträtselte vor Gericht Vladimir Tudic, ein Bruder des Getöteten. Er hatte sich in Frankfurt als Schmuckverkäufer und Musikant Zugang zu den Gang-Kumpanen verschafft. Auch die Staatsanwaltschaft hat Erkenntnisse. wer das kriminelle Geschäft an der Spitze lenkt:
* Armand Atlan, 43, ein Franzose algerischer Abstammung, gelernter Metzger, der den Spielklub »Minora« betreibt, ist demnach der Chef der Bande und an allen Geschäften beteiligt;
* Fortunato di Massimo, 39, Teilhaber des »Minora"Klubs und selbst leidenschaftlicher Spieler, dirigiert als Mafioso die italienische Gruppe und beschäftigt als zweiten Mann Paolo Della Puppa; > Oswald ("Ossi") Büttner, 40, ehemaliger Metzger, Berufsboxer und Barbesitzer. im Prostituiertengeschäft engagiert und mit zahllosen Vorstrafen wegen gefährlicher Körperverletzung und Anklagen wegen Zuhälterei belegt;
H., 30, Chef einer Detektei für Europa und Übersee, unterhält einen ständigen Draht zur Unterwelt, wo er offenbar als Rechtsanwalt (steht für »r") geführt wird.
Allerdings hat die Staatsanwaltschaft bislang kaum Konkretes über die Arbeitsweise von Amor zusammengetragen. Technik und Taktik der Polizei sind dem kriminellen Management des Gegners kaum gewachsen. So blieben Razzien im zentralen Treffpunkt »Sabra«, einem Restaurant in der Moselstraße, ohne Erfolg. Anklägerin Werner: »Wir haben das Ding schon x-mal auf den Kopf gestellt, aber nie etwas gefunden.«
Diebes- und Schmuggelgüter. so weit reichen immerhin die Erkenntnisse, sind vorwiegend Münzen und Antiquitäten. Pelze und Schmuck. Gestohlene Rauchwaren werden beispielsweise aus der Bundesrepublik in südosteuropäische Länder gebracht, dort zu neuen Einzelstücken verarbeitet und als Rückimport wieder in den legalen Handel geschleust. »In Frankfurt gibt es bald kaum noch einen Pelz zu kaufen«. so ein Kripo-Fahnder, »der nicht schon einmal geklaut war.«
Ganz neue Crime- Methoden werden im syndikatsverdächtigen Bereich kreiert. Illegale Waffentransporte rollen nach Nahost -- und statt in labiler Währung wird mit harten Drogen bezahlt. Engen Kontakt nach Frankfurt, dem kapitalträchtigsten Rauschgift-Umschlagplatz in der Bundesrepublik. unterhält eine mutmaßliche Amor-Dependance in Marseille. Das südfranzösische Morphin-Geschäft leitet den Erkenntnissen der Kripo zufolge -- Franco Della Puppa.
Kunstgemälde und kostbare Ikonen bietet die Bande über Mittelsmänner den Versicherungen an, die das Diebesgut arglos zurückkaufen, während die Hehler dicke Provisionen kassieren.
Auch die Polizei versucht neben hochtechnisierter Fahndung mit unkonventionellen Mitteln den Gangstern beizukommen. Ganoven erhalten Angebote, als V-Leute die Ermittlungsbehörden mit Informationen zu versorgen. Im Terrassen-Café an der Großen Eschenheimer Straße, einem beliebten Nachmittagstreff der Ganoven, sitzen Kripo-Beamte zur Kaffeestunde und lauschen. Telephone verdächtiger Personen zapfen die Ermittler an.
Wochenlang wurden alle Gespräche, die vom Frankfurter Anschluß 28 22 68 geführt wurden, abgehört und auf Tonband festgehalten. Die Mitschnitte gaben Unterhaltungen wieder, die Paolo Della Puppa zur Tag- und Nachtzeit mit Teilnehmern in den Niederlanden und Frankreich geführt hatte.
Besonders häufig wählte Della Puppa, der »Kopf der Frankfurter Mafia«, (Heinrich), die Nummer 00339331 60 97 in Frankreich, eine Adresse in Villeneuve-Loubet/Alpes Maritimes, unter der Interpol Paris schließlich den mutmaßlichen Messerstecher Paolo Lippera und dessen Komplicen aus dem »New Fashioned«, Luciano Primi, ermittelte. Die beiden waren dort unter falschem Namen bei einer holländischen Eiskunstläuferin untergeschlüpft. Vier Monate nach dem Mord in Frankfurt nahmen französische Kriminalbeamte Lippera und Primi an der Côte d'Azur fest.
Bundesdeutsche Fahnder fanden heraus, daß Lippera zusammen mit Luciano Primi und seinem Freund Enrico Man am Steuer eines weißen Mercedes wenige Wochen vor dem Mord aus Rom nach Frankfurt gekommen war. Lippera mietete unter seinem Decknamen Paolo Valdoni ein Appartement in der Hochstraße 39-41, nahe der Diskothek »New Fashioned«. In der Absteige entdeckte die Kripo später einen Schlüssel, der auch zur Wohnung Della Puppas paßte.
Zwar schreibt die Staatsanwaltschaft den Tod Tudics einem Mordkomplott der Mafia zu. Doch welches Motiv die Hintermänner zur Tat trieb, darüber rätseln die Ermittler noch immer. Eine Version besagt, Josef Tudic ("Jugoslawen-Jo") sei einem Racheakt zum Opfer gefallen, weil er in Rom vier Wochen zuvor einen Mafioso namens Carlo Faiella mit drei Pistolenschüssen getötet habe. Faiella galt in römischen Unterweltskreisen als Geldeintreiber des aus Frankfurt ausgewiesenen Eurogang-Chets Felix Lesca, der heute vom Tessin aus Geschäfte und Ganoven lenken soll.
Andere Hinweise aus der Unterwelt besagen, daß Tudic die Killerpraxis italienischer Mafiosi zum Verhängnis wurde, weil er ein Zwei-Millionen-Geschäft mit dem US-Ableger Cosa Nostra durchkreuzte.
Auch Staatsanwältin Adelheid Werner, die dafür kämpfen will, »daß jeder in Frankfurt in Ruhe sein Bier trinken kann«, hat kaum noch Hoffnung, die wahren Motive der Mörder im Lippera-Prozeß zu erfahren. »Möglicherweise«, befürchtet die resolute Anklägerin inzwischen, »ist das der Anfang von Klein-Chicago.«