GROSSSTADT Ist doch irre
Täglich, pünktlich um 18.30 Uhr, erstrahlte im Fenster des Ein-Zimmer-Apartments in der Dieselstraße 56 in Hamburg-Barmbek die Lichterkette eines künstlichen Weihnachtsbaums. Eine Zeitschaltuhr knipste die Beleuchtung an und aus, fünf Jahre lang, im Winter wie im Sommer.
In diesen fünf Jahren lag Wolfgang Dircks in seiner Wohnung tot auf dem Sofa. Niemand vermißte ihn, nicht die Verwandten, nicht die Nachbarn, auch die Behörden nicht.
Der Tag, an dem der geschiedene Schlosser starb, ist vermutlich der 5. Dezember 1993. Die Fernsehzeitung lag aufgeschlagen mit diesem Datum auf dem Beistelltischchen, daneben eine geöffnete Büchse Holsten-Bier. Durch einen Zufall wurden vergangene Woche Dircks'' Überreste gefunden.
Nie zuvor hat in Deutschland ein Toter so lange unentdeckt in seiner Wohnung gelegen. Das Schicksal des Mannes, der inzwischen 48 Jahre alt wäre, trifft in der 1,7-Millionen-EinwohnerStadt Hamburg einen empfindlichen Nerv: Es symbolisiert für viele Bürger das erschreckende Ausmaß alltäglicher Anonymität und Kontaktarmut in einer Großstadt, in der jede zweite Wohnung von Singles belegt ist.
Geradezu geschockt sind diejenigen Menschen, die Tür an Tür mit Dircks wohnten. »Es ist doch irre, daß man so voneinander entfremdet lebt, daß man von seinem Nachbarn nicht mal weiß, daß er tot ist«, sagt Thorsten Thomsen, 34, ein Autoverkäufer, den nur eine Wand von Dircks'' Apartment trennt.
Thomsens Lebensgefährtin, die Bürokauffrau Nicole Striewski, 29, leidet nun unter der Vorstellung, daß die Überreste des Mannes die ganze Zeit im Nachbarraum gelegen haben: »Ich habe keinen Hunger, ich schlafe schlecht, nachts, wenn ich die Augen schließe, verfolgt mich das.« Striewski und Thomsen zogen vor viereinhalb Jahren in ihre Wohnung in der Dieselstraße 56. Zu diesem Zeitpunkt war Dircks bereits sechs Monate tot.
* Am Dienstag vergangener Woche.
Niemand hat etwas gemerkt. Die Anwohner rätseln, wieso kein Verwesungsge-
ruch entstanden war. Die Polizei erklärt, daß dafür die kühlen Temperaturen im Winter und die kaum aufgedrehte Heizung verantwortlich seien. Als es wieder wärmer wurde, sei die Leiche bereits »mumifiziert« gewesen, vermutet Polizeisprecher Reinhard Fallak.
Auch hatte niemand Nachforschungen darüber angestellt, wo Wolfgang Dircks abgeblieben sein könnte. Weder der Vermieter, in diesem Fall die Hanseatische Baugenossenschaft Hamburg (HBH), noch die Bank, die Post oder die Elektrizitätswerke hatten Veranlassung dazu: Miete und Strom wurden immer pünktlich bezahlt - von Dircks'' Mutter Wilma, 75, obgleich sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm hatte.
Der Sohn war mit seiner Mutter zerstritten. Endgültig überworfen hatte er sich mit ihr 1992, als sie ihn im Krankenhaus besuchte, wo er sich einer Hüftoperation unterziehen mußte. Seitdem konnte sich Dircks auch nur noch mit Krücken fortbewegen.
Er verbitterte zusehends und lebte zurückgezogen. Seit fast 15 Jahren war er Alkoholiker. Bier ließ sich der Rentner regelmäßig kistenweise von einem Taxifahrer in die Wohnung bringen.
Wer ihn auf häusliche Pflichten wie das Treppenhausputzen oder auf seinen Gesundheitszustand ansprach, erhielt wie der Nachbar Gerhard Vollert, 70, barsche Widerworte: »Der hat einen ziemlich abgebügelt.«
Gegenüber dem Lebensgefährten seiner Mutter wurde Dircks sogar handgreiflich. Seither traute sich der nur noch nachts in die Dieselstraße, um im Auftrag von Wilma Dircks die Rechnungen für Telefon und Strom aus dem Briefkasten zu fingern: Wie tief der Sohn auch absackte, seine Mutter finanzierte ihn bis zuletzt, sogar, ohne es zu ahnen, lange über seinen Tod hinaus.
Wolfgang Dircks wuchs im Hamburger Stadtteil Barmbek auf, hier leben vor allem Arbeiter, Rentner, Bürger und viele Arbeitslose. Der Vater, ein Maurer, trank viel und prügelte das Kind. Er fiel vom Gerüst und starb, als Sohn Wolfgang zehn Jahre alt war.
Der Sohn lernte bei der Werkzeugmaschinenfabrik Heidenreich & Harbeck Blechschlosser. Danach verpflichtete er sich als Zeitsoldat für vier Jahre bei der Bundeswehr.
Dircks wuchs zu einem stattlichen Mann heran, 1,90 Meter groß, schlank, dunkelblond. Beim Skiurlaub im österreichischen Ötztal lernte der Hanseat 1972 die drei Jahre jüngere Kellnerin Wilhelmine kennen.
Er verliebt sich in die zierliche, nur 1,56 Meter große Frau aus dem 600-Seelen-Dorf Längenfeld in den Alpen. Als er ein Jahr später aus der Armee entlassen wird, heiraten die beiden. Dircks zieht ins Ötztal - damals fangen seine Schwierigkeiten an.
»Er konnte sich nicht gut eingewöhnen«, sagt seine Ex-Frau heute, »die Menschen und das Leben im Dorf sind anders als in der Großstadt.« Außerdem drängte die Mutter, die damals noch ein enges Verhältnis zu ihrem einzigen Kind hatte, den Sohn zur Rückkehr.
Ein Jahr nach der Hochzeit übersiedelt das Paar nach Hamburg in die 45-Quadratmeter-Wohnung in der Dieselstraße. Dircks findet eine Anstellung in seiner Lehrfirma, sie arbeitet als Kellnerin in einem Kaufhausrestaurant.
Die unpersönliche Großstadt, in der sie an einem Tag bei der Arbeit fast so viele Menschen bediente, wie in ihrem Heimatdorf leben, hielt Wilhelmine Dircks nicht aus. Sie verließ ihren Mann und kehrte in ihre Heimat zurück. 1977 wurde die Scheidung auch offiziell vollzogen.
Danach faßt Dircks nie wieder richtig Tritt. »Er versuchte, seine Probleme mit Alkohol zu verarbeiten, und wenn er getrunken hatte, wurde er aggressiv«, erinnert sich sein Cousin Lothar, 46. Durch den Alkohol habe er auch seine Arbeit verloren, sich immer mehr zurückgezogen: »Er beschimpfte jeden, der ihm ins Gewissen reden wollte und drohte Schläge an.« Der Vetter habe sich die letzten 15 Jahre seines Lebens in seiner Wohnung regelrecht »zu Tode gesoffen«.
Was am Ende wirklich zum Exitus geführt hat, ob Herzinfarkt oder Schlaganfall, läßt sich nicht mehr feststellen. Die Staatsanwaltschaft schließt Fremdverschulden jedenfalls aus - sowohl der Schädel als auch die Rippen des Skeletts sind heil.
Im Haus verfestigte sich unterdessen die Legende, Wolfgang Dircks sei wegen seiner Gehbehinderung in ein Heim gekommen. Durch diese Erklärung fühlten sich alle entlastet. »Ich dachte, der ist bestimmt gut versorgt«, sagt die Sozialpädagogin Sonja Kollecker, 85, die dort seit 46 Jahren lebt.
Erst der Tod des Lebensgefährten der Mutter vor vier Wochen führte zur Aufklärung. Ohne eine zweite Rente konnte Wilma Dircks, die selbst gehbehindert und krank ist, das Geld für die Miete ihres Sohnes nicht mehr aufbringen. Als kein Geld mehr einging, ließ die Hanseatische Baugenossenschaft die Wohnung aufbrechen.
Der zuständige HBH-Mitarbeiter Erwin Willer öffnete die Tür und sah die Leiche unter einer Wolldecke auf dem Sofa liegen. Routiniert tat Willer, was »in solchen Fällen« zu tun ist, nichts anfassen und die Polizei rufen: »Verarbeitet wird später.«
SUSANNE KOELBL
* Am Dienstag vergangener Woche.