SPRENGSTOFF-ATTENTAT Ist was passiert?
Anfang Oktober gastierte im Bremer Kabarett »Excelsior« der Amsterdamer Telepath Carl Bor Kadlezek, der sich Burlisto nennt. Bis vor zwei Jahren war er noch Motor-Akrobat, nämlich Steilwand-Fahrer. Aber dann stürzte er in Luxemburg ab und holte sich eine Gehirnverletzung. Danach, gibt er an, habe er seine telepathische Begabung entdeckt. Er betätigte sich noch als Barmann, aber schließlich trat er doch als Telepath Burlisto in Kabaretts auf. So wie auch Anfang Oktober 1951 in der Hansestadt Bremen.
Burlisto wußte, wie man Propaganda macht. So tat er, was alle Telepathen gern tun: er ließ sich die Augen verbinden und verkleben und fuhr, nachdem er mit einem Berichterstatter der »Bremer Nachrichten« eine diesbezügliche Wette abgeschlossen hatte, mit dem Wagen AE-21 44 27 durch Bremens belebte Straßen und über gefährliche Kreuzungen.
Zwei, drei Tage später kam Burlisto in die Redaktion der »Bremer Nachrichten« im Druckereigebäude Schünemann. Er begegnete dort dem Chefredakteur des Blattes, dem 49jährigen Dr. Adolf Wolfard. Wolfard, ein ruhiger, ausgleichender Mann, war den Kunststückchen Burlistos gegenüber mehr als skeptisch. Burlisto reizte das. Um gleichsam eine Probe seiner telepathischen Kunst zu geben, sagte er plötzlich zu Wolfard: »Innerhalb einiger Monate werden Sie nicht mehr leben.« Der Zeitungsmann nahm das nicht ernst und machte sich ein wenig lustig darüber.
Das war genau einen Monat, bevor Wolfard hinter seinem Schreibtisch saß und ein rollenförmiges Paket in die Hand nahm, das den Vermerk trug: »Nur vom Empfänger persönlich zu öffnen«. Dr. Werner Wien, Feuilleton-Redakteur, saß seinem Chef gegenüber und witterte zunächst etwas Trinkbares in der Pappwurst. »Sieht nach einer Flasche Schnaps aus.« Wolfard: »Na, wollen mal sehen.«
Das waren Adolf Wolfards letzte Worte. Im gleichen Augenblick schoß ein meterlanger Feuerstrahl aus der Papprolle in die Höhe, und der Chefredakteur lag mit bis zur Unkenntlichkeit zerfetztem Oberkörper in der Ecke seines Zimmers.
»Unser toter Kollege könnte heute noch leben«, meint Dr. Arthur Brunk, verantwortlicher politischer Redakteur der »Bremer Nachrichten«. Er denkt dabei nicht an die Prophezeihung des Carl Bor Kadlezek, der sich Burlisto nennt. Brunk klammert sich an die Tatsache, daß am Mordtage schon um 8.30 Uhr ein gleiches Paket im Postamt Eystrup in Niedersachsen explodierte. Brunk: »Viereinhalb Stunden später wurde unser Dr. Wolfard zerfetzt. War das nötig? Spätestens um 9.30 Uhr hätte eine Eystruper Warnung durch ganz Deutschland gejagt sein müssen.«
Aber der Dr. Arthur Brunk, der diesen seinen Vorwurf gegen die Polizei in Artikeln ausspann, unterliegt einem gedanklichen Kurzschluß; denn als im Postamt Eystrup viereinhalb Stunden vor dem Tod des Chefredakteurs die Scheiben aus den Fenstern flogen, konnte zunächst noch kein Mensch ahnen, daß da eine Höllenmaschine in einem Paket explodiert sei.
Noch um 12.40 Uhr, genau 30 Minuten, bevor es den Dr. Adolf Wolfard zerriß, verbreitete DPA über Eystrup: »Auf das Postamt Eystrup wurde ein Sprengstoffanschlag verübt ... Es besteht die Möglichkeit, daß
das Attentat einen Raub der zur Rentenauszahlung in dem Postamt lagernden Geldbeträge ermöglichen sollte.«
Kein Mensch kam zunächst auf die Idee, daß der Sprengkörper in dem röhrenförmigen Post-Schnellpaket war, das am Abend vorher um 22.08 Uhr mit dem Zug aus Bremen in Eystrup angekommen und an den Mitinhaber der Marmeladenfabrik Goebbert & Co., Mayntz, adressiert war.
Die Postbeamten, die das Schnellpaket ausluden, hätten es, streng genommen, noch am gleichen Abend Herrn Mayntz zustellen müssen. Aber sie taten es nicht, sondern wollten es am nächsten Morgen der Postabholerin der Marmeladenfabrik, der neunzehnjährigen Margaret Grüneklee, mitgeben. Im gleichen Augenblick, als Margaret Grüneklee, Tochter des stellvertretenden Postamtsvorstehers Grüneklee, die Papprolle übernahm, explodierte die Papprolle.
Dies, obwohl die Konstruktion des Zünders so war, daß die Bombe eigentlich nur bei Abziehen des Deckels losgehen konnte. Am Boden der Bombe befand sich eine Taschenlampenbatterie. Von den beiden Polen der Batterie bildete ein dünner Draht einen Stromkreis, in den zwei Sprengkapseln eingebaut waren. Der Sprengstoff war hinter einer Gelatineschicht an der Pappwand des Behälters rundherum angebracht.
In der Mitte durchlief eine Glasröhre die Sprengstoffhülle, in der sich zwei Schlaufen in 25 mm Abstand gegenüberstanden (s. Zeichnung hierüber). Zog man nun den Deckel nach oben ab, so bekamen diese beiden Schlaufen Kontakt, schlossen den Stromkreis, in den die Zünder eingeschaltet waren und lösten so die Explosion aus. Die Bremer Kriminalpolizei meint, daß so ein Sprengkörper von jedem ehemaligen Pionier der Wehrmacht hergestellt werden könne.
Aber das alles wußte man natürlich noch nicht, als im Postamt zu Eystrup um 8.30 Uhr eine Explosion losknallte. Den durcheinandergescheuchten Eystrupern blieb nur im Gedächtnis haften, daß ein Adler-Trumpf-Junior-Wagen mit der Polizei-Nummer FB-21 4426 (AE-21 4427 fuhr Telepath Burlisto bei seinem Bremer Experiment) hundert Meter von der Post entfernt, an einer vor ihm geschlossenen Bahnschranke hielt.
Die Insassen, ein junger Mann und eine junge Dame, fragten vorbeilaufende Passanten: »War die Detonation stark? Ist jemand etwas passiert?« Dann ging die Schranke hoch, und der Wagen fuhr im allgemeinen Durcheinander fort. Die Polizei suchte zunächst im Großalarm nach diesem Fahrzeug, obwohl das Paket ja schon am Abend vorher in Eystrup angekommen war.
In Minden hörten die Insassen des Trumpf-Junior schließlich, daß sie gesucht wurden. Sie stellten sich sofort der Polizei und wurden verhaftet. Es waren der 24jährige Student Wolfgang Grafe und die Studentin Eleonore Baser aus Baden-Baden. Sie verdienten sich Geld, indem sie über Land fuhren und fotografierten. Das Auto hatte ihnen die Fotofirma für ihre Tour gestellt.
Als sie verhaftet wurden, war es schon Freitag, da war Dr. Wolfard, in dessen Zimmer die Höllenmaschine am Donnerstag um 13.10 Uhr explodiert war, schon lange tot.
Donnerstag um 13.25 Uhr, also 15 Minuten nach dem Attentat auf ihren Chef, hatten die »Bremer Nachrichten«-Männer alle Nachrichtenbüros verständigt, und um 14.15 Uhr waren alle Redaktionen im Bundesgebiet durch Fernschreiben gewarnt: »Achtung! Höllenmaschine unterwegs!« So konnte nachgeholt werden, was nach dem
Eystruper Anschlag praktisch nicht möglich war.
Eine gute Stunde vor Dr. Wolfards Tod hatte der dritte Empfänger einer Höllenmaschine, der Fabrikant Anton Höing in Verden, Besitzer des Kraftfutterwerkes Niedersachsen, sich erst mit einer graubraunen Rolle beschäftigen können, die ihm schon morgens auf den Tisch gelegt wurde. Ebenfalls mit dem Vermerk: »Nur von dem Empfänger persönlich zu öffnen.« Anton Höing lüftete den Deckel vorsichtig, und zwar, wie sich später herausstellte, um 231/2 Millimeter. Es fehlten 1,5 Millimeter, die er den Deckel mehr hätte nach oben ziehen müssen, dann wäre die Zündung ausgelöst worden.
Da Anton Höing an einen Scherzartikel dachte, schickte er einen Boten mit der Maschine, deren Zünder auf 1,5 mm zusammengezogen war, in den Keller. Die Polizei räumte das ganze Bürogebäude des Kraftfuttermannes, ein Feuerwerker der Bremer Kriminalpolizei transportierte die Bombe ab, und die beiden Spezialisten Leszcinski und Stoffers von der kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung Hamburg schlossen sich mit der Papprolle in einem Kellerraum des Bremer Polizeihauses ein. Als sie schließlich mit dem entschärften Sprengkörper wieder herauskamen, waren sie klitschnaß geschwitzt.
DP und CDU forderten inzwischen Debatten um die Wiedereinführung der Todesstrafe. 2 Tote genügten, die humanitären Anwandlungen des Parlamentarischen Rates genau so gedankenlos in Frage zu stellen, wie seinerzeit die Abschaffung der Todesstrafe beschlossen worden war. Die »Bremer Nachrichten« erleben es zum ersten Male in ihrer 209jährigen Geschichte, daß ein Verleger und Herausgeber gleichzeitig als Chefredakteur zeichnet. Im Impressum des Blattes steht seit Nr. 278 hinter »Hauptschriftleiter": i. V. Walter Schünemann.
Ein Angebot des Telepathen Burlisto aus Amsterdam, an der Aufklärung der Sprengstoffattentate mitzuhelfen, ist von der Bremer Sonderkommission »S« der Kriminalpolizei abgelehnt worden.