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Italien: Bachab in Richtung Bangladesch?

Sie sind schlagkräftiger, zahlreicher und wohl auch grausamer als die deutsche RAF. Sie entführten, demütigten, töteten Italiens Spitzenpolitiker Aldo Moro, sie haben Rückhalt im Land. Doch können die Roten Brigaden Italien beherrschen? Vorerst kittet ihr Terror Christdemokraten und Kommunisten nur noch stärker aneinander.
aus DER SPIEGEL 20/1978

Wir sind ein Volk von Helden, Seefahrern und Heiligen.

Benito Mussolini

Dem Italiener Aldo Moro stand der

Sinn nach keinem dieser drei italienischen Berufe -- nicht in den 2074 Tagen, da er Regierungschef, und schon gar nicht in den 55 Tagen, da er Gefangener war.

Anhänger wie Gegner erklären den Erfolg des erfolgreichsten Christdemokraten nächst dem legendären De Gasperi mit Moros unschlagbarer Fähigkeit hinzuhören, auszuweichen, abzuwarten, zu vermitteln, zu vertagen. »Weiß alles«, lautet ein vielzitiertes Urteil über ihn, »sieht alles, versteht alles, analysiert alles und entscheidet nichts.«

Moro stammte aus Apulien, wo Lethargie und aufreizende Gelassenheit schon einen Vorgeschmack vom Orient vermitteln. »Pandit Moro« nannten christdemokratische Parteigenossen ihren Präsidenten, und der sarkastische Indro Montanelli befand, Moro habe bereits, als er sein erstes Ministeramt übernahm, zu sterben begonnen und seither »nie wieder damit aufgehört«.

Das einst originelle Zitat, lange vor Moros Martyrium aufgeschrieben, klingt heute fade. Denn seit vorigem Dienstag, 13.40 Uhr, als Aldo Moro. von elf Kugeln getötet, in einem roten Renault 4 an Roms Via Michelangelo Cactani gefunden wurde, steht fest, daß dieser eintscheidungsschwache, salbungsvolle, aber politisch gewiefte Christdemokrat Held wider Willen der bislang größten politischen Entführungs-Tragödie des Jahrhunderts ist.

Dabei hatte die Welt. schon bevor das grausige Ende des Dramas in Sicht gekommen war, mit schicksalsschweren Superlativen nicht gespart. »Das ist kein Guerillakrieg, das ist ein wahrer Kriegsakt«, urteilte Italiens sozialdemokratischer Ex-Staatschef Giuseppe Saragat. Der liberale Publizist Luigi Barzini sah sein Land »bachab gehen in Richtung Bangladesch«.

In Rom bat, einmalig, der Heilige Vater Paul nicht vor dem Allerhöchsten, sondern vor leibhaftigen Terroristen »auf Knien« für Moro, während in Peking der deutsche Fern- und Nahbeobachter Herbert Kremp den Gefangenen als kompromißlerischen »Promoter einer Übergangskultur« verächtlich gegen die soldatische Seele« Hanns Martin Schleyers stellte.

Kein Zweifel -- der deutsche Arbeitgeberpräsident war robuster als der italienische Parteipräsident. Schleyer hatte zwar per Tonband Klage über »die Menschenquälerei ohne Sinn« geführt, und Frau Waltrude Schleyer via »Bild am Sonntag« »die auch von ihm gewünschte Entscheidung (für) nunmehr erforderlich« erklärt -- eine immer noch dezente Aufforderung an die Verantwortlichen nachzugeben.

Um wie viel existentieller, ungehemmter, drängender dagegen das Rettungsverlangen Moros und seiner Familie. Prophetisch wünschte der Gefangene dem Parteisekretär Zaccagnini, daß sein »Blut über Sie, die Partei und das Land« komme, in Rachegeist-Manier verbat sich seine Familie gegenüber Staat und Partei jede öffentliche Zeremonie.

Noch niemals zuvor in der Geschichte des modernen Terrorismus und anders als im Fall Schleyer war ein Entführter vor der Exekution moralisch fertiggemacht worden -- wohl unter Anwendung besonders rücksichtsloser, auch stärkere Willen brechender Mittel. »Wir wissen nicht, was ein von den Roten Brigaden gefangener (KP-Chef) Berlinguer schreiben würde« hielt die nach links abgewanderte Ex-Kommunistin Maria-Antonietta Macciocchi der für Härte eintretenden KPI vor. Ein Indiz für die Verhältnisse, unter denen Moro festgehalten wurde: Er hatte am Tag seines Todes noch dasselbe Hemd an wie am Entführungstag.

Noch niemals zuvor hatten Terroristen die Angehörigen eines Opfers über fast zwei Monate hin in solche Wechselbäder von Furcht und Hoffnung gesteckt, noch niemals die Öffentlichkeit eines großen Landes unter ein solches Trommelfeuer von eigenen Kommuniqués (insgesamt neun) und Briefen des Entführten gehalten (16 bekannt gewordene, nach in Rom umlaufenden Gerüchten aber bis zu 70).

Noch niemals haben sich Täter derart makabre Schabernacks einfallen lassen wie jene, die Italiens Polizei per Kommunique Nummer sieben mit Spürhunden, Skipatrouillen und Froschmännern zur vergeblichen Moro-Suche an den schneeverwehten Duchessa-See in den Abruzzen lockten. Dutzende grausamer Witzemacher, die per Telephon abwechselnd Moros Freilassung oder seine Hinrichtung verkündeten, hängten sich an.

Und weiter: Noch niemals hatten sich der schwächliche, krisengeschüttelte italienische Staat und insbesondere die durch Dauer-Machtgenuß ausgezehrte Democrazia Cristiana (DC) zu einer solchen Kraftanstrengung aufgerafft wie in diesen Wochen, da sie der terroristischen Herausforderung selbst um den Preis des Lebens ihres Präsidenten widerstand -- und doch blieb der imponierende Aufwand vergebens.

Die 50 000 italienischen Polizisten und Soldaten, die Moro suchten und lebend nicht fanden, die Ausnahme-Dekrete Bonner Machart, von der römischen Regierung noch eiliger erlassen als die Gesetzesänderungen vom Bonner Parlament, die Solidarität zerstrittener Parteien, die ganze grandiose, erfolglose Mobilisierung verstärkten schließlich bei vielen Italienern nur das ohnehin eingewurzelte Gefühl, daß der Staat ohnmächtig sei.

»Man sagt uns, die Roten Brigaden seien so wenige. Aber sie schlagen fast nach Belieben zu. Die Frage ist: Können sie gestoppt werden und wie?«, sagte ein Bürger in Trastevere einem ausländischen Korrespondenten.

Italiens Rote Brigaden sind sicherlich in dem Sinn zu stoppen, als sie nicht die Herrschaft über ein noch so chaotisches Italien antreten können. 39 Prozent Wählerschaft der immer noch mächtigen Christdemokraten und 34

*An der Stehe in der Via Michelangelo Caetani, wo der Wagen mit Moros Leichnam stand.

Prozent Wählerschaft der von einer Revolutions- zur Ordnungspartei gewandelten KPI stehen dagegen. Außerdem haben sich die Roten Brigaden mit Aldo Moro, dem Parteipräsidenten und bis zu seiner Entführung wahrscheinlich künftigen Staatschef, bereits das ranghöchste bourgeoise Opfer geholt.

Selbst damit aber sind sie ihrem politischen Ziel, den stabilisierenden »historischen Kompromiß« zwischen den demokratischen Parteien und der KP zu verhindern, keineswegs näher gerückt -- im Gegenteil: Die symbolträchtige Ermordung des Architekten dieser Vorstufe des »historischen Kompromisses«, der Aldo Moro war, ließ Kommunisten und Christdemokraten nur noch weiter zusammenrücken.

Ganz gewiß aber ist der Terrorismus der Roten Brigaden auch schwerer zu stoppen als etwa der Terrorismus der westdeutschen RAF. Denn anders als in der Bundesrepublik hat der rabiate ultralinke Protest in Italien objektive soziale und nicht nur intellektuelle Ursachen: das ungenierter zur Schau gestellte Wohlleben der Reichen, die unausgeglichene wirtschaftliche Struktur des Landes, die ungebrochene Tradition militanter Staatsfeindlichkeit.

So schifften sich, in Deutschland denn doch fast undenkbar, vergangenen Sommer in Genua 300 Italiener auf dem Luxus-Dampfer »Eugenio C.« zu einer 74-Tage-Kreuzfahrt rund um die Welt ein. Preis pro Person: bis 50 000 Mark.

Das Schiff der Genueser Reederfamilie Costa hatte kaum den Hafen verlassen, da benachrichtigten italienische Sozialisten den Finanzminister in Rom: »Unter den Passagieren sind etliche, deren Einkommensteuer eilends zu prüfen ist, andere haben Bankrott angemeldet, ihre Arbeiter stehen vor der Notkasse an.«

Die reichen Steuerflüchtlinge waren zunächst entkommen -- nach ihrer Rückkehr, so hofften sie, war vielleicht wieder Gras über ihre Affären gewachsen.

So wie es unter Italiens Geldadel als Sport gilt, den Staat in großem Rahmen zu betrügen, hat es Tradition unter den kleinen Leuten, denen Mangel an Chancen und Geld den Aufstieg verwehrt, sich für ihre Leiden unter dem Staat Italien auf ihre Art zu rächen.

Da gibt es die Baraccati, die Slumbewohner der Großstädte, für die Prunk und Prassen der Reichen eine lebenslange Provokation sind. Oder die Braccianti, die Tagelöhner, deren eigenes Fleckchen Erde eine Familie nicht ernähren kann. Noch heute versammeln sie sich in manchen Dörfern Süditaliens jeden Morgen vor den mit Schnitzwerk und Rankengittern reich verzierten Portalen der Gutsherren und warten geduldig, bis der Verwalter heraustritt.

Der schreitet dann von einem zum anderen, sagt befehlend, die Hand ausstreckend: »Du, du, du auch! Das ist alles für heute.« Für die anderen fallen Arbeit und Bezahlung aus.

Auf dem Heimweg jedoch kommen sie an den fruchtbaren, aber unbestellten Feldern des Gutsherrn vorbei, der seine Staatszuschüsse zum Ausbau der Landwirtschaft womöglich lieber in ein großes Spekulationsgeschäft gesteckt hat. Da hilft den Zukurzgekommenen das kleine krumme Geschäft.

So leben in Neapel etwa 60 000 Männer, meist Familienväter, hauptberuflich vom Zigarettenschmuggel. Die geschmuggelte Stange Marlboro garantiert auch noch dem Straßenjungen oder den alten Mütterchen, die einzelne

Päckchen an den Ecken freihalten, ein wenn auch kümmerliches Auskommen. Die Polizei sieht weg.

Arrangiarsi, zurechtkommen, das war das Motto, unter dem die Italiener ihre Mißstände ertrugen: Übermut und Vetternwirtschaft der Großkopfeten, Borniertheit und Schlendrian einer unübersehbaren wildwuchernden Bürokratie.

So ging es, bis im heißen Herbst von 1969 Massenstreiks ausbrachen und Italiens Wirtschaftswunder, das dem Land immerhin den Aufstieg zur siebtgrößten Industrienation beschert hatte, ein jähes Ende setzten.

Die Fließbänder liefen zu schnell, schneller als sonstwo in Europa. »Man hatte nicht die Zeit, die Arme sinken zu lassen zwischen den einzelnen Arbeitsgängen«, sagte ein kommunistischer Gewerkschafter damals in Turin. Gleich kam auch Gewalt ins Spiel, wenn es auch vergleichsweise harmlos anfing, wenn etwa empörte Fiat-Arbeiter einen unbeliebten Abteilungsleiter in einen Papierkorb setzten.

Den Arbeitern wurde klar: Sie waren um so erfolgreicher, je entschiedener sie für ihre Forderungen kämpften. Und bald teilte sich auch dem letzten Italiener mit, daß, wer vom Staat etwas will, handeln muß, so hart es geht.

Mit Härte setzten Italiens Arbeitnehmer zum Beispiel durch, daß sie nicht entlassen werden dürfen. Deshalb freilich heuern die Firmen auch kaum neue Arbeitskräfte an -- eine Regelung, die vor allem den Jugendlichen keine Chance läßt.

Von 1,7 Millionen Italienern ohne Job wurden nur 200 000 regelrecht entlassen -- etwa nach dem Konkurs einer Firma. Alle anderen, meist die Jugendlichen (dazu zählt in Italien statistisch jeder zwischen 14 und 29 Jahren), standen noch nie in Arbeit, ein Heer von Unzufriedenen, ein Reservoir des Radikalismus.

Dem Problem der Jugendarbeitslosigkeit wollte die römische Regierung durch ein Gesetz (Nummer 285) beikommen, das den jungen Arbeitslosen einen Notarbeitsplatz garantieren sollte, etwa Schmierereien von den Denkmälern und öffentlichen Gebäuden zu entfernen.

Rund 650 000 arbeitslose junge Italiener trugen sich im vergangenen Sommer im ganzen Land in die Listen ein. Bis Ende 1977 aber erhielten nur 1279 von ihnen in der Privatwirtschaft einen Job nach dem neuen Gesetz.

Gemäß eigenem Werdegang konnte kaum einer beschäftigt werden, denn mehr als 40 Prozent der Bewerber, die oft ein Universitätsdiplom oder einen Doktortitel vorweisen können, wollten Angestellter oder Beamter sein, zumindest aber Bürodiener -- einer der gefragtesten Jobs in Italien.

Für körperliche Arbeit war kaum einer zu gewinnen. Industriefacharbeiter, Möbeltischler, Zimmerleute und landwirtschaftliche Fachkräfte sind rar. Der Aufbau einer eigenen Milchviehwirtschaft scheitert beispielsweise daran, daß sich zu wenige Italiener zur Tierpflege und zum Stallausmisten bereitfinden.

Am bedenklichsten erschien Italiens Politikern aber, daß fast jeder zweite arbeitslose Jugendliche die Initiative des Staates ignorierte und sich nicht in die amtlichen Listen eingetragen hatte.

Vergangenes Jahr hatte eine Versammlung italienischer Bischöfe angeordnet, in allen Kirchen solle dafür gebetet werden, daß künftig die Sonntagsgottesdienste zahlreicher besucht würden. Ministerpräsident Andreotti, der als Ehrengast geladen war, machte einen anderen Vorschlag. Lieber, so meinte er, solle am Sonntag dafür gebetet werden, daß die Italiener an den anderen sechs Tagen der Woche Arbeit fänden, »besonders unsere Jugendlichen«.

Die Wirtschaftsmisere, das Ausbleiben tiefgreifender Reformen und schroffe Klassengegensätze in chaotisch wachsenden Großstädten schufen den Nährboden für Radikalismen jeder Art. So erklärt sich, daß der Kreis der Aktivisten und Sympathisanten der Rotbrigadisten -- verglichen mit dem der RAF -- groß ist, vor allem in Norditalien, und hier vor allem in den Industriezentren.

Bei Fiat etwa, dem größten Unternehmen in Familienbesitz, aber auch in anderen Unternehmen wie der staatlichen Telephongesellschaft, werden oft terroristische Flugblätter verteilt, radikale Parolen an die Wand geschmiert. Dir Roten Brigaden, gesteht sogar die KPI in, seien heute »unter den gehobenen Kadern wie unter den Arbeitern verwurzelt«.

Für viele von ihnen ist der Staat nur der Machtapparat der Staatspartei DC, sie bekämpfen den Staat -- von alters her.

In Turin organisierte 1917 Antonio Gramsci seine vom Staat verbotenen, von der Polizei verfolgten Arbeiterräte. In den Mailänder und Turiner Fabriken zogen die Kommunisten 1943 den antifaschistischen Widerstand auf. Der Staat sei die Hure der Bourgeoisie, sagte KPI-Führer Palmiro Togliatti über Mussolinis Staat.

Bis Ende der 60er Jahre pflegte auch die KPI ihr Image als kämpferische Avantgarde der Arbeiter und linken Intellektuellen. Sie rief zum gewaltlos gemeinten Kampf gegen den maroden Staat und die Macht der Multis auf. Der Staat, so skandierten dann die Studenten 1968 in Trient, Mailand und Rom, sei ein Knecht des Monopolkapitalismus.

1969 aber, nach dem großen heißen Herbst, begann die KPI allmählich ihre große Wandlung von der Konfrontation zur Partnerschaft, schon damals von den Ultralinken als Verrat an der Arbeiterklasse gebrandmarkt.

Heute schärfen KPI-Vertreter zur Abwehr des ultralinken Terrors ihrem Parteivolk ein: »Wir müssen den Staat verteidigen, um ihn zu verändern«, während die Roten Brigadisten die Losung ihres ehemaligen Führers Renato Curcio verbreiten: »Den Staat ändert man nicht, ohne ihn zu zerstören.«

Diese Kampfparole stand am Anfang der Roten Brigaden. Damals, im November 1969, trafen sich im kirchlichen Institut »Stella Maris« in Chiavari an der ligurischen Küste Apo-Anhänger zu einer Strategie-Diskussion.

Konferenzteilnehmer Renato Curcio und seine Freundin (und spätere Frau) Margherita Cagol wollten den gewaltsamen Kampf, trennten sich von den anderen und gründeten nach dem Vorbild der antifaschistischen »Brigaden« im spanischen Bürgerkrieg die Untergrund-Organisation »Brigate rosse«.

Unverzüglich gingen die Kämpfer gegen wirkliche oder angebliche Vertreter des kapitalistischen Systems vor: Am 17. September 1970 flog die Garage des Personalchefs der Firma Sit-Siemens in die Luft -- in ihrem Flugblatt schrieben die Roten Brigaden, man müsse »die Zerstörer der Einheit der Avantgarde der Arbeiterklasse« schlagen.

Auch bei der ersten Entführung -- das Opfer war ein Direktor von Sit-Siemens -- argumentierten die Täter politisch. Wie später dem Staatsanwalt Sossi und schließlich dem Politiker Moro wurde dem »Kapitalistenschwein« ein »politischer Prozeß« gemacht, das Opfer von einem »proletarischen Gerichtshof« pro forma »verurteilt«, dann aber freigelassen.

Das soziatrevolutionäre Pathos, mit dem die Brigadisten ihre Aktionen rechtfertigten, hatte teilweise ausgeprägt religiösen Ursprung: Viele der Brigadisten waren zuvor strenggläubige Katholiken gewesen, zumindest so erzogen worden.

»Es sind im Grunde religiöse Menschen, die zu Politik und Gewalt mit der Inbrunst von Fanatikern kommen«, meint Soziologieprofessor Franco Ferrarrotti, hei dem Curcio studiert hatte.

Curcio bekannte sich zeitweilig zum Katholizismus, seine Frau Margherita stammte aus einer katholisch-konservativen Bürgerfamilie in Trient. Sie heirateten nach katholischem Ritus, verzichteten auch nicht auf die Hochzeitsreise nach Florenz.

Zu den Gründern der Brigaden gehörten aber auch militante Jung-Kommunisten wie Alberto Franceschini. Er stammt aus der traditionell kommunistisch eingestellten Landschaft Emilia, schloß sich in Mailand Curcio an, gefolgt von sieben weiteren Genossen aus seiner Heimatstadt, meist Kinder ärmlicher Familien.

Sie alle verband blinde Begeisterung für Fidel Castro und Ché Guevara und tiefe Verehrung für Mao Tse-tung. Vor allem Curcio hatte schon zur Studentenzeit die Kulturrevolution im fernen China als Leitbild verstanden.

Zugleich aber orientierten sich die Untergrundkämpfer an der Taktik südamerikanischer Stadtguerrilleros, zumal der uruguayischen Tupamaros.

Wie diese sollten die Brigadisten in kleinen, autonomen Kampfgruppen (Zellen) operieren und sich selbst versorgen können. Die Kampfgruppen bleiben in der ihnen vertrauten Umgebung der Großstädte, haben verschiedene Verstecke und kaum Kontakt zur Oberwelt.

Als Renato Curcio im September 1974 von der Polizei gefaßt wurde. gelang es seiner Frau Margherita an der Spitze eines Kommandos der Roten Brigaden, ihn aus dem Gefängnis zu befreien. Wenige Monate später starb die Brigadistin bei einem Feuergefecht mit der Polizei. Auch ihr Mann Renato konnte am 18. Januar 1976 in einem Mailänder Vorort erst nach einer wilden Schießerei mit der Polizei erneut verhaftet werden. In Turin steht er mit 14 Genossen zur Zeit vor Gericht -- und sollte gegen die Geisel Moro freigepreßt werden.

Der Polizei gelangen bis 1976 beachtliche Fahndungserfolge. Doch seit der Verhaftung der Gründer-Generation nahm die Zahl der Gewaltakte weiter zu, die Brigadisten wurden aktiver, ihre Anschläge brutaler.

In den Brigaden sind laut römischem Innenministerium etwa tausend Personen aktiv -- eine Zahl, die den Recherehen der KPI zufolge viel zu niedrig liegt. Die Kommunisten zählen zum harten Kern der gesamten Terroristenszene etwa 700 bis 800 Mitglieder, den weitgestreckten Sympathisantenkreis schätzen sie auf etwa 10 000 Personen -- dagegen mutet die RAF wie eine kleine Sekte an.

Alle Schätzungen wurden Ende April noch von den Erzählungen des Rotbrigadisten Cristoforo Piancone übertroffen. Der Terrorist, nach einem Schußwechsel gefaßt, behauptete, die Roten Brigaden seien heute bereits eine regelrechte Untergrundarmee.

Zum ersten Mal plauderte ein Rotbrigadist aus der Untergrund-Schule: Jede Aktion der Brigade sei »bis zum letzten Augenblick immer der politischen Zweckmäßigkeit untergeordnet, die an der Spitze der Organisation erörtert und entschieden« werde.

Ob dies ebenso wie seine Zahlenangaben Untergrund-Latein ist oder Realität: Die kaltblütige Präzision, mit der nach der Entführung Aldo Moros der Psychoterror dosiert und die Einzelaktionen koordiniert wurden, stammt unzweifelhaft von Profis. Die würden, plauderte Piancone, im Ausland ausgebildet. Die Vermutung liegt nahe, daß dies in den Trainingscamps der Palästinenser und in Libyen geschieht.

Die Polizei begann sogleich nach der Entführung Aldo Moros und der Ermordung seiner fünf Leibwächter am 16. März die aufwendigste Verbrecherjagd seit vielen Jahren. Die Ausfallstraßen Roms wurden blockiert, ganze Wohnviertel Haus für Haus durchkämmt.

Doch den Fahndern unterlief, eindeutige Parallele zur Schleyer-Fahndung, eine Panne nach der anderen. So fanden sie am Nachmittag des 16. März in der Via Licinio Calvo, nahe dem Entführungstatort, ein Fluchtauto der Terroristen, einen blauen Fiat 132. Einen Tag später entdeckten sie wenige Meter entfernt ein weiteres Flucht-Automobil, das von den Terroristen unter der Nase der Polizei abgestellt und dennoch übersehen worden war.

Auch mit den Photos von 20 »verdächtigen Extremisten«, kurz nach der Entführung in Fernsehen und Presse gezeigt, hatte die Polizei wenig Glück: Zwei der Gesuchten saßen längst hinter Gittern, zwei andere Photos zeigten ein und dieselbe Person, die gesuchte Südtirolerin Brunhilde Pertramer konnte nachweisen, daß sie sich zur Tatzeit in den Dolomiten beim Skifahren erholte. Von den meisten auf der Liste genannten Terroristen fehlt bislang jede Spur.

Ein Brigadisten-Versteck in Roms Via Gradoli machten die Moro-Fahnder zwar aus. Doch statt die Rückkehr der Mieter abzuwarten und sie in eine Falle zu locken, rückten die Uniformierten gleich mit Sirenen und Hubschraubern an, ein Volksauflauf entstand, keiner der Brigadisten ging ins Netz.

Laut Zeugenaussagen wollten zwei »verdächtig aussehende Burschen« auf einem Motorrad in die Via Gradoli einbiegen. Als sie das Polizei-Aufgebot sahen, brausten sie sofort wieder davon.

Ein »Chaos bei der Fahndung«, urteilte die linke Zeitung »il manifesto« Ende April. »La Repubblica« warf der Polizei im Fall Moro völliges Versagen vor. Und selbst die KPI. die neuerdings nichts unversucht läßt, um sich die Sympathien der Polizisten zu erwerben, entrüstete sich über die geringe Effizienz der Sicherheitsorgane.

Tatsächlich ist Italiens Polizei auf die Bekämpfung des Terrorismus noch ungenügender vorbereitet, als es die deutsche vor ein paar Jahren war. Und mit den kasernierten Carabinieri, die dem Heer angehören, für Polizeiaufgaben aber gleichfalls vom Innenministerium eingesetzt werden, sieht es nicht viel besser. Strukturelle Mängel, schlechte Koordination und schiere Schlamperei haben dazu geführt, daß die Ordnungshüter bei Verfolgung und Kampf allzuoft den kürzeren ziehen.

Zwar gibt es in Italien 72 000 Polizisten, somit kommt auf rund 785 Bürger ein »Poliziotto« und, rechnet man die Carabinieri dazu, sogar auf jeden 338. Bürger ein Ordnungshüter (Bundesrepublik: 360, inklusive Bundesgrenzschutz).

Aber die Staatsschützer sind schlecht verteilt. In vielen süditalienischen Provinzstädten drängen sich die Uniformierten, in manchen nördlichen Ballungszentren mit hoher Verbrechensrate fehlt es an Polizisten.

Schätzungsweise nur ein Viertel aller Polizeibeamten sind im Kampf gegen das Verbrechen tätig. Die übrigen sitzen in Büros der verschiedensten Ämter und Ministerien, viele sind gänzlich zweckentfremdet: Sie chauffieren Politiker mit Pascha-Allüren ins Büro, helfen Präfekten und Polizeichefs im Haushalt oder deren Frauen beim Einkaufen.

Die meisten Polizisten stammen aus dem armen, unterentwickelten Mezzogiorno, sie sind froh, überhaupt einen Job ergattert zu haben, da sie zum Teil nur knapp durch die Grundschule gekommen sind.

Polizisten werden miserabel bezahlt (Anfangsbezüge: rund 500 Mark). Wer dennoch zur Polizei geht, lernt nur allzubald den Frust kennen: Veraltete Vorschriften, strapaziöse Dienstzeiten, etwa im Einsatz bei den zahllosen Demonstrationen. und Verachtung seitens gleichaltriger Zivilisten führen zu wachsender Verbitterung unter den Ordnungshütern.

Für ihren Schutz wird zu wenig getan. Die fünf erschossenen Leibwächter Aldo Moros etwa (drei Polizisten, zwei Carabinieri) hatten weder kugelsichere Autos noch kugelsichere Westen.

Vielversprechend locken an Mauern und in Autobussen Werbeplakate: »Komm zur Polizei, da machst du Karriere.« Hier und dort schmierten Unbekannte darunter: »Und der Staat bezahlt dein baldiges Begräbnis.«

Im Frühjahr 1977 beschloß die Regierung Andreotti einen Dreijahres-Plan zur Verstärkung und Modernisierung der Polizei, auch besserer Sold und mehr Wohnungen für Polizisten sind vorgesehen -- aber in der Staatskasse fehlt das dazu nötige Geld.

Enttäuscht sind Italiens Polizisten auch, weil die Gerichte mühsam eingefangene Kriminelle oft schon nach kürzester Haftzeit wieder laufen lassen, sofern die Gefangenen nicht schon vorher ausbrechen -- allein in den vergangenen zwei Jahren fast tausend.

Zur Ineffizienz der Ordnungshüter trägt auch die traditionelle Rivalität zwischen Polizei und Carabinieri bei. Im Fall Moro zum Beispiel erhielten sowohl die Polizei als auch die Carabinieri Hinweise auf »sehr verdächtige Elemente« in einem Bahnwärterhäuschen in Umbrien. Terroristenjäger beider Einheiten stürmten los -- und hätten vor Ort um ein Haar aufeinander geschossen.

Konfusion entstand außerdem noch dadurch, daß der italienische Geheimdienst, der früher gelegentlich rechten Terroristen half und deshalb sogar in Putschverdacht geriet, vor kurzem reorganisiert wurde Die Zuständigkeiten bei der lnformationsbeschaffung über die Ultras blieben unklar. Römische Polizeibeamte räumten Ende März ein: »Wir sind blind und taub. Über die Terroristen wissen wir wenig oder gar nichts, unsere Gegner kennen unsere Schwächen, sie treffen uns, wann und wo sie wollen.« Jedenfalls konnten es die Brigadisten wagen, den toten Moro mitten im polizeivollen Rom nahe der historischen Piazza Venezia abzustellen, während die Schleyer-Entführer ihr Opfer im abgelegenen französischen Mülhausen deponierten.

Eines auch haben die Roten Brigaden inzwischen erreicht: eine schwere Verunsicherung des Staatsapparats und der Parteien. 913 Attentate allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres lassen viele hohe Beamte, Wirtschaftsbosse und Journalisten um ihr Leben zittern, auch wenn nur etwa zwei Dutzend dieser Anschläge nachweislich auf das Konto der Brigadisten gehen. Sie forderten immerhin acht Todesopfer, unter ihnen der römische Richter Palma und der Turiner Gefängniswärter Cotugno. Anschläge wurden sogar noch nach der Moro-Entführung verübt, unter den Augen der in höchste Alarmstufe versetzten Sicherheitskräfte, während die Schleyer-Entführer nach dem Kidnapping in ihren Schlupfwinkeln blieben.

Die in Deutschland sogenannte Solidarität der Demokraten hielt auch in Italien dem wochenlangen schweren Druck nach der Moro-Entführung generell stand. Aber während Christdemokraten und Kommunisten jegliche Verhandlungen mit den Entführern ablehnten, warben die Sozialisten (PSI), Italiens drittstärkste Partei, dafür, den Terroristen durch eine »humanitäre Geste« entgegenzukommen, um das Leben Moros zu retten.

Parteichef Bettino Craxi: Der Staatspräsident solle einige inhaftierte linke Ultras begnadigen, soweit sie nicht wegen blutiger Verbrechen verurteilt wurden. Außerdem solle die extrem scharfe Überwachung für Terroristen in den sogenannten Sondergefängnissen, etwa auf der Strafinsel Asinara, gemildert werden.

Der von DC und KP bewiesene »sture Immobilismus«, warnte die PSI, gefährde das Leben des Entführten. Craxi: »Es gibt keinen grausamen Gott, der von uns ein Menschenopfer verlangt.«

Bald entstand über die Frage »Nachgeben oder nicht« eine Polemik zwischen Tauben und Falken, die das Bündnis der fünf Parteien der Andreotti-Koalition zu unterminieren drohte -- Italien wie gehabt. Resigniert hatte Italiens großer Alberto Moravia schon unmittelbar nach Moros Entführung bekannt: »Già visto« (schon gehabt), für die politisch-moralische Instanz, die Moravia vielen seiner Landsleute ist, ein erschütternder Ausspruch.

Bald argwöhnten Kommunisten und Christdemokraten, den Sozialisten gehe es gar nicht so sehr um »humanitäre Gesten«, als darum, sich selbst zu profilieren. Und zweifellos wollte sich die PSI über den Fall Moro von der übermächtigen KPI demonstrativ absetzen.

Ende April wurde aber deutlich, daß die von Craxi gewünschte Begnadigung oder auch provisorische Haftentlassung einzelner Terroristen rechtlich nicht möglich war: Der Staatspräsident kann einen Verbrecher nur begnadigen, wenn dieser seine Tat bereut -- daran aber dachten die inhaftierten Terroristen nicht.

»Es wird keinerlei Abweichung von den Gesetzen, keine Ausnahme für Terroristen geben«, erklärte denn auch Ministerpräsident Giulio Andreotti. Und der DC-Vize-Sekretär Giovanni Galloni beteuerte noch Anfang Mai gegenüber dem SPIEGEL: »Wenn wir den Terroristen nachgeben, würde es künftig genügen, irgendeinen Bürger zu entführen, um einen inhaftierten Verbrecher freizupressen.«

Angesichts des harten Neins der Regierung erkannten die Roten Brigadisten, daß der zuletzt geforderte Austausch Moros gegen 13 gefangene Ultras, darunter der in Turin angeklagte Brigadistenchef Curcio. nicht zustande kommen wurde, ja daß sie nicht einmal die Begnadigung einzelner Verurteilter erreichen konnten. In ihrem neunten Kcmmuniqué schrieben sie deshalb: Die einzige Sprache, die Italiens DC verstehe, sei die der Waffen. »Deshalb beenden wir die am 16. März begonnene Schlacht, indem wir das Urteil vollstrecken.«

Gerade das Wort »indem« erhöhte die Hochspannung in Rom noch einmal. Die Presse sprach von einem »schrecklichen Gerundium« -- denn es ließ die Frage offen, ob die Terroristen, wie schon im April einmal, nur blufften. also Moros Ermordung nur androhten, ob der Entführte nun tatsächlich sogleich umgebracht werde oder vielleicht sogar schon exekutiert war.

Ein Funken Hoffnung blieb noch -- auf ein neues Kommunique, ein neues Lebenszeichen von Moro, nachdem so viele gekommen waren. Erst vergangenen Dienstag stand fest, daß Italiens bedeutendster Politiker tot war. Die Roten hatten den Renault mit dem Toten auf halbem Wege zwischen dem KP-Hauptquartier in der Straße der dunklen Läden und dem DC-Hauptquartier am Jesusplatz geparkt.

Der jüngste Präzedenzfall in der Geschichte Italiens zur Entführung und Ermordungs Moros liegt 54 Jahre zurUck: 1924 entführten Faschisten den Sekretär der Sozialisten, Giacomo Matteotti, einen unversöhnlichen Gegner Mussolinis, und prügelten ihn zu Tode.

Aus Aldo Moros Qual und Tod läßt sich gewiß manche Erkenntnis gewinnen, nur die dringlichste nicht -- wie der moderne Staat mit den Terroristen fertigwerden soll.

So gaben sich denn die Italiener nach der Tragödie wieder ihrer gewohnten Tätigkeit hin: Die Arbeiter streikten (gegen die Rotgardisten), die Rotgardisten schossen (auf die Monopolisten) und der Papst betete (für alle).

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