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»Ja, mein Gott, dann muß ich wohl«

Von Jürgen Leinemann
aus DER SPIEGEL 21/1979

Doktor ist er und Professor, Vorsitzender und Direktor, Staatssekretär außer Dienst und Präsident. Was bürgerlichen Erfolg und deutsche Reputation durch Titel ausweist, kann Karl Carstens vorzeigen.

Politiker ist er zwar auch -- aber verkörpert er nicht geradezu des deutschen Spießers Wunschtraum vom Politiker, dem sein schmutziges Handwerk nicht anzusehen ist?

Seine Karriere ist, betrachtet man nur die Stationen, von makelloser Folgerichtigkeit: 1949 Bevollmächtigter des Landes Bremen beim Bund in Bonn, 1954 Vertreter der Bundesrepublik beim Europarat in Straßburg, 1955 Eintritt ins Auswärtige Amt, 1960 Staatssekretär, 1968 Chef des Bundeskanzleramtes, 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1973 Fraktionschef der Unionsfraktion, 1976 Bundestagspräsident. Warum sollte er also nicht, ebenso folgerichtig, 1979 erster Mann im Staate werden, Bundespräsident?

Weil der Schein trügt. Die Widerstände gegen den Bremer Beiträger zur deutschen Politik sind ja nicht allein aus seiner NS-Vergangenheit zu verstehen, entfacht auch an seinen seltsamen BND-Aussagen -- sie entzünden sich vielmehr an der ganzen Person Karl Carstens, an Wesen, Werten und Werden des Mannes.

Und da stimmt das Bild einfach nicht vom zwangsläufigen Aufstieg des gradlinigen Hanseaten, und wo es stimmt, stimmt es oft bedenklich.

Was Karl Carstens vor die Villa Hammerschmidt gebracht hat, war eben nicht eine gerade, unaufhaltsame Laufbahn, sondern eine Serie von Blitzkarrieren, in ihrem jeweiligen Teilablauf atemberaubend und kometenhaft -- im Grunde aber »erstaunliche Metamorphosen« (Kurt Georg Kiesinger). Je höher der Weg ihn führte, desto verblüffender verlief er -- weil die Qualifikationen eigentlich immer mehr ersetzt wurden durch Berufung auf vergangene Ämter.

Falsch liegt Karl Carstens also nicht, wenn er meint, er werde es als Bundespräsident schwerer haben als alle seine Vorgänger, da seine Kandidatur steinig gewesen sei, da er die Mehrheit des Volkes gegen sich fühlt, den entschiedenen Widerstand der Linken, die negative Einschätzung im Ausland.

Aber was als richtige Analyse erscheint, ist für Karl Carstens mehr: Es ist seine Wunschposition, das Standardmodell für seinen Erfolg.

Denn immer ist der Präsidentschaftskandidat Außenseiter gewesen, das ist -- heute auf den ersten Blick verwunderlich genug -- die tragende Rolle seines Lebensdrehbuches: Sie hat ihn geformt und zum Erfolg getragen, denn sie verlangt von ihm stets besondere Korrektheit, besondere Tüchtigkeit und besonders sorgfältige Berechnung seiner Lebensumstände. Anfangs durfte er sich keine Fehler leisten, später wurde Vorsicht und Selbstkontrolle zu seiner Natur.

Das begann in seiner Kindheit in Bremen. Wenige Wochen vor seiner Geburt im Dezember 1914 war sein Vater, ein Studienrat, im Ersten Weltkrieg gefallen. In bürgerlichen Verhältnissen, aber immer unter finanziellem Druck, brachte ihn seine Mutter durch. Sie war eine starke Person. Sie sorgte dafür, notfalls, indem sie Nachhilfestunden gab, daß er auf die Renommierschule der Hansestadt kam, das humanistische Alte Gymnasium.

Dort mußte sich Karl Carstens, dem die Lehrbücher von den Lehrern gestiftet wurden, durch Leistung unter den etablierten Bürgersöhnen Achtung verschaffen, sein Ehrgeiz, sein Fleiß, seine Intelligenz trugen ihn. Er war immer Primus. Er blieb es sein Leben lang.

Nicht nur finanziell gehörte die Familie Carstens in Bremen nicht recht dazu, sie war in der standesbewußten Stadt auch die Familie eines zugereisten Aufsteigers. Carstens' Großvater wurde als Postbeamter aus der Lüneburger Heide in die Großstadt versetzt. Sein Vater studierte schon, dem Sohn gelang der Durchbruch zu den feinen Hanseaten erst 1946, als der Rechtsanwalt in die Advokatensozietät »Dres. Kind, Meyer, Lürssen, Löning und Schulze-Schmidt« eintrat. Drei Jahre später schickten ihn die Bremer Landesherren als ihren Vertreter nach Bonn.

Karl Carstens hatte es geschafft, aber sein Erfolgsmuster als Außenseiter behielt er bei. Im Auswärtigen Amt machte er Karriere als »Seiteneinsteiger«, die Ochsentour blieb ihm erspart. An die Schaltstelle der Unionspolitik im Kanzleramt der Regierung Kiesinger geriet er wegen seiner Verwaltungsfähigkeiten. In den Bundestag wurde er gewählt, weil er als Staatssekretär bekannt geworden war.

Die Unionsfraktion machte ihn schon nach einem halben Jahr zum Vorsitzenden, weil er neu war, nicht in Gruppenquerelen zerschlissen und doch ein alter Adenauer-Bonner. Parlamentspräsident wurde er schon nach vier Jahren Zugehörigkeit zum Bundestag, nicht weil er parlamentarische Meriten hatte, sondern weil er eben Fraktionsvorsitzender gewesen war.

Alle Ämter verließ Karl Carstens mit gleichlautender Belobigung: Er habe sich streng an die Spielregeln gehalten, habe den Pflichten seines Amtes Genüge getan, habe sich korrekt verhalten. Carstens sagt es selbst: »Ich habe überhaupt noch niemanden gefunden, der mir eine inkorrekte Verhaltensweise in irgendeinem der staatlichen Ämter, die ich bekleidet habe, vorgeworfen hat.«

Er ist zum Meister des Stils geworden. Stil, das umfaßt nicht nur formale Fertigkeiten bei der Arbeitsverrichtung, die ihm nachgerühmt werden: Sachlichkeit, Präzision, analytische Verstandesschärfe, Verbindlichkeit, Disziplin. Stil bedeutet für Carstens Stabilität, Ordnung und Vernunft schlechthin. »Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand«, sagte er dieser Tage auf die Frage nach seinem Stil in der Villa Hammerschmidt.

Die Kehrseite dieser Amtsanpassung heißt Unauffälligkeit -- in Diktion, Denken und Aussehen. Weder gibt es in seiner Sprache originelle Redewendungen, noch wird ihm ein originärer Gedanke nachgesagt, noch kleidet er sich unverwechselbar.

Seine Ausdrucksweise und deren Möglichkeiten hat er in dem Buch »Politische Führung« beschrieben. Sie sei »behutsam«, bediene sich oft »verdeckter Formulierungen« und wolle sich »eine möglichst große Manövrierfreiheit, ja unter Umständen auch die Möglichkeit zum Rückzug offen halten«. Das ist allerdings ein unfreiwilliges Selbstporträt. Es gelang ihm, als er die Sprache der Diplomaten zu schildern vorgab.

Als Politiker hat er, zumal im Wahlkampf, volksnahe Ausdrucksweise geradezu gebüffelt, erzählt er selbst. Erst habe er »so schrecklich professoral gesprochen«, erinnert sich sein Lehrmeister, der Plöner Kreispräsident Günther Röhl: »Da hat er immer »praeter propter« und solche Sachen gesagt, furchtbar.«

Das tut er nicht mehr. Geblieben aber ist die verbale Vorsicht -- keine Bekenntnisse, keine Urteile, auf die man ihn festnageln kann. Deutungen überläßt er seinem Publikum.

Immer dem Amt und Anlaß angemessen kleidet er sich auch. Flanell und Nadelstreifen im Auswärtigen Amt, Glencheckanzüge fürs Fernsehen während seiner Zeit als Fraktionsvorsitzender, Ölzeug beim Urlaub mi Norden, Trachtenanzug beim Wahlkampf in Bayern.

Der richtige Ton, der richtige Stil zur rechten Zeit -- sicher war es auch das, was schon Konrad Adenauer zu dem

1950 mit dem Bremer Senatspräsidenten auf einer USA-Reise

Lob veranlaßte: »Der Carstens wirkt immer so beruhigend.«

Karl Carstens ist es weitgehend gelungen, diese Selbststilisierung als eine Tugend darzustellen, die erfolgreiche Amtsausübung erst ermögliche. Daß seine Mimikry seinen Karrieren überaus nützlich war, blieb immer nur gelegentlich geäußerter Verdacht.

Zunächst fiel nur auf, daß jeder auf ihn rechnen konnte. In Bremen wußte Karl Carstens sich dem sozialdemokratischen Stadtchef Wilhelm Kaisen so lieb zu machen, daß der ihn mit der Aufforderung in die Metropole schickte: »Junge, du sollst mal mein Nachfolger werden, aber nun geh erst mal nach Bonn.« Zugleich aber meinte auch der liberale Bürgermeister Theodor Spitta, in dessen Familie Carstens verkehrte, daß der neue Bevollmächtigte im Grunde sein Mann sei.

Später, als sich Carstens endgültig für die CDU festgelegt hatte, holte er Eindeutigkeit nach: »Obwohl ich damals selbst keiner Partei angehörte, war doch ganz klar, daß ich dem sogenannten bürgerlichen Lager zuzurechnen war.«

im Bonner Auswärtigen Amt glaubte man ihn mal als Protegé von Brentano entlarvt zu haben, mal von Gerhard Schröder, mal von Adenauer, mal von Kiesinger. Selbst der Zeitpunkt seines CDU-Beitritts blieb in der Öffentlichkeit unklar. Der frisch gebackene SPD-Außenminister Willy Brandt verabschiedete ihn aus dem Amt mit einer Eloge auf seine Überparteilichkeit.

Aber Carstens hatte sehr wohl zum richtigen Zeitpunkt auf das richtige Pferd gesetzt: »Ich bin dann 1955 der CDU beigetreten«, bekannte er 1972. Sein Unionsbeitritt fällt also exakt in das Jahr, in dem ihn Adenauer ins Auswärtige Amt rief.

Später, als Parteipolitiker, geriet er an ungeübtere Rollen, streifte er bei der perfekten Einfühlung ins jeweilige Klischee manchmal die Grenzen der Lächerlichkeit. Es entstand die vollkommene »Bild«-Schnulze der Serie »So begann unsere Liebe« -- über Karl Carstens und Frau Veronica -- mit Fotos von Kaninchen, mit Eichendorff-Versen und Passagen wie: »Aber dann auf dem Ball ist das norddeutsche Eis ganz schnell geschmolzen ... »Der Tango«, sagt Carstens noch heute versonnen, »hat einen ja damals in die höchsten Glücksgefühle versetzt."« Seine Auftritte im Trachtenanzug bei CSU-Parteitagen waren für die an der Gaudi Beteiligten maßgerecht, aus Bonner Sicht hatten sie Züge einer Farce und bestätigten den Verdacht der Anbiederei an Franz Josef Strauß. Die Formel »Carstens BSB« flüsterten sich Unionsmitglieder damals zu. Das war keine neue Sektmarke, sondern stand für: Bayerns Statthalter in Bonn.

Auch die Schärfe seiner Polemiken im Bundestag wurde selbst von seinen Parteifreunden als Überinterpretation seiner Oppositionsführerrolle empfunden. Sie entsprachen aber der Carstens-Vorstellung von politisch-kämpferischer Auseinandersetzung. Solche Fehler wurden verziehen: Die Rollen lagen ihm nicht.

Daß der Professor trotz allem nie einfach als Karrieretyp verschrien war, ja, daß statt von Anpassung nur von taktischem Geschick die Rede war, hat zusätzliche Gründe. Einmal hat ihm niemand Tüchtigkeit und Fleiß abgesprochen. »Wenn man mich fragte, wie ich an die verschiedenen Positionen meiner bisherigen Laufbahn gelangt bin, habe ich immer geantwortet: »Der Preis bestand aus Arbeit"«, pflegt Carstens zu erläutern. Da. nicken die Unionschristen, gearbeitet hat er, und ein guter Verwalter war er auch.

Aber wichtiger ist, daß Karl Carstens den meisten Bonner Politikern allein deshalb überlegen war, weil er sich Unabhängigkeit leisten konnte. Seine Sicherheit im Auftreten und Handeln resultierte aus Vorsorge gegen die von ihm schon im AA erkannte Gefahr, daß diese Arbeit »jeden Tag vorbei sein kann -- sei es, daß man mich nicht mehr haben will, sei es, daß ich selber gehen möchte«.

Bei der Vorsorge halfen ihm seine Amerika-Erfahrungen. Während seines Studiums an der Yale-Universität in New Haven, für das ihm 1948 ein US-Richter in Bremen ein Stipendium verschafft hatte, gelang es Karl Carstens nicht nur -- wie er heute gern erzählt -sein durch die Nazis gestörtes Verhältnis zum Staat zu reparieren.

Er machte auch Bekanntschaft mit dem amerikanischen Modell der mehrgleisigen Karriere im wissenschaftlichpolitischen Bereich, wie sie etwa Henry Kissinger zwischen Hochschule, Staatsdienst und Parteipolitik praktiziert hat. Carstens setzte dieses Modell nach seiner Rückkehr in die Tat um.

1952 habilitierte er sich über »Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung« und lehrte fortan einen Nachmittag pro Woche in Köln, seit 1958 als außerordentlicher Professor und seit 1960 als

persönlicher -- Ordinarius und Leiter des Instituts für das Recht der Europäischen Gemeinschaften.

So hatte Carstens stets ein zweites Berufsbein. Nach seinem Ausscheiden als Staatssekretär 1969, als Bonn die Sozis übernahmen, blieb ihm seine Hochschularbeit. 1970 ergänzte er sie; er wurde Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Die wissenschaftliche Arbeit sei ihm stets eigentlich die liebste gewesen, versichert Carstens heute, und nur schweren Herzens, aus »Sorge um die Zukunft des Landes« habe er sie dem Dienst am Staat und später an seiner Partei hintangestellt. Selbst jetzt wieder, so gibt der Professor zu verstehen, hätte er eigentlich lieber ein Buch über das Verhältnis von Parlament und Verfassungsgericht geschrieben, als sich in der Villa Hammerschmidt mit Repräsentation abzuquälen.

Diese Attitüde, nicht einmal ganz unglaubwürdig, aber mit Sicherheit hochstilisiert und gepaart mit Vorsicht -- Carstens: »Ich trete einfach nicht so gerne auf schwankende Bretter, mit deren Hilfe man schließlich irgendwo unten im See landet« -, verlieh ihm in Bonn eine beneidete Position. Sie erlaubte ihm, seinen stets kaschierten Ehrgeiz weiter in eine Tugend des Dienstes umzufärben, machte ihn zu einem, den man rief. Stolz rechnet er sich »zu den Leuten, die niemals ihre eigene Laufbahn beeinflußt haben«.

Nur auf Drängen von Kai Uwe von Hassel und Gerhard Stoltenberg -- und gegen Garantie eines sicheren Listenplatzes, versteht sich -- entschloß er sich zu einer parlamentarischen Karriere. Sie haben »so intensiv auf mich eingeredet«, erzählte er der »Neuen Revue«, »daß ich schließlich gesagt habe: »Ja, mein Gott, dann muß ich wohl"«.

Daß Karl Carstens seinen Parteifreunden heute manchmal mit einer distanzierten Selbstzufriedenheit gegenübertritt, als hätte er sie gewählt und nicht sie ihn, hat aber noch einen zusätzlichen Grund: Der Professor fühlt sich im Besitz eines völlig intakten, über jeden Zweifel erhabenen, allein dem christlichen humanistischen Abendland und seiner Kultur verpflichteten Weltbildes.

Er glaubt an eine unwandelbare Ordnung, mit elementaren Bindungen an die Grundwerte und moralische Kategorien. Nation, Staat, Kirche, Familie -- alles hat darin seinen festen Platz. Es ist das Bild einer Ordnung, die es nie gegeben hat, kein Modell aus der Geschichte, reine romantische Ideologie.

Die Leitmotive dieses Bildes hat Karl Carstens anläßlich der 450-Jahr-Feier seines Gymnasiums im vergangenen Jahr in Bremen mit dem Lob auf die humanistische Bildung verkündet: »Ruhe, Harmonie, Frieden und Würde«.

Natürlich gibt es keine historische Leitfigur, die dieses Bild je verkörpert hätte. Carstens setzt sie sich synthetisch zusammen: »Es gibt einzelne Eigenschaften großer Persönlichkeiten der Vergangenheit, die ich als vorbildlich empfinde.« Ein bißchen Stresemann, ein bißchen Ebert, etwas Gneisenau und etwas Uhland.

Soweit sein dazugehörendes Staatsbild überhaupt konkrete Züge annimmt, leitet der Professor Carstens es aus den Idealen der 1848er Revolution ab, an der am schönsten war, daß sie mehr Gelehrten-Debatte blieb, als eine richtige Revolution wurde.

Seither, so Carstens, sind die damals erhobenen liberalen Forderungen nach bürgerlichen Freiheiten verwirklicht worden. In diesem Sinne versteht er sich als Liberaler: »Einigkeit und Recht und Freiheit sind liberale Grundsätze des 19. Jahrhunderts.« Er fühle sich dieser Tradition »insofern eng verbunden, als ja der deutsche Liberalismus immer zugleich eingetreten ist für den nationalen Gedanken«.

Da die 1848 geforderten liberalen Bürgerrechte aber in der Bundesrepublik politische Wirklichkeit geworden seien, gilt es, so Carstens, sie jetzt zu bewahren. In diesem Sinne sei jeder echte Liberale heute »auch immer zugleich konservativ, weil er nämlich das zu bewahren sucht, was unsere freiheitliche Ordnung kennzeichnet«.

Von nichts ist Karl Carstens so sehr überzeugt als davon, daß er stets seinen elementaren Grundsätzen gemäß gelebt hat. Seine Ideale und er selbst haben sich sozusagen wechselseitig bestärkt: Wie vorbildlich müssen ein Weltbild und seine Tugenden sein, mit denen man es bis an die Spitze des Staates bringt. Wie vorbildlich aber auch Karl Carstens, weil er ein solches Weltbild hat und sich an seine Grundsätze hält.

Der Professor ist mit sich zufrieden. Wo immer ihm Lob entgegenschallt -- bei seinem 60. Geburtstag oder auf dem CDU-Parteitag -, er nimmt es befriedigt, geradezu gierig entgegen. Ob er als »Herr im besten Sinne des Wor-

* Mit dem damaligen Regierungssprecher Karl-Günther von Hase.

tes« gefeiert wird oder als »guter Kamerad«, ob sein »ungewöhnlicher Reichtum an Führungsqualitäten« gepriesen wird oder seine »Fairneß« -- es ist schon alles richtig, was die Leute über ihn Gutes sagen.

Und wenn nicht, wenn ihm einer »persönlich an den Wagen fährt« (Carstens), gar seine Korrektheit und Wahrheitsliebe anzweifelt, an der es nun wirklich »keinen vernünftigen Zweifel geben kann« -- dann schlägt er zurück, klagt ohne Rücksicht auf den politischen Schaden. Als der Sturm wegen seiner Nazi-Vergangenheit über ihn hereinbrach, entschied er sich erst recht zur Präsidentschaftskandidatur: »Die Mehrheit der Bevölkerung denkt so wie ich«, munterte er Mitarbeiter auf.

Lieber aber verbreitet er Harmonie und Bindung, Schönheit und Würde um sich, wo immer er sich in dieser konfliktträchtigen Welt bewegt. Nichts Schöneres etwa gibt es für das kinderlose Einzelkind Carstens als die Familie. Da ist er, wie ein Mitarbeiter sagt, geradezu »ein Mann der Sippe«.

Seine Bonner Vorzimmermenschen sind ganz irritiert von all den Tanten und Cousinen, die zu Besuch kommen, anrufen oder eingeladen werden müssen. Der Motor aber ist immer Carstens selbst. »Der macht da sehr viel«, wundert sich ein Familienmitglied, »eigentlich ist der Verwandtschaftsgrad ja schon ziemlich weit entfernt.«

Zu seinem sechzigsten Geburtstag kamen um die vierzig Verwandte der Mackeprang-Familie aus Fehmarn, ist die mütterliche Sippe, an den Rhein. »Ein halber Sonderzug voll«, spottet ein Familiengast, »aber das hat Spaß gemacht.«

Auf Fehmarn, seinem Wahlkreis, hat Carstens auf dem Hof eines Vetters auch ein ständiges Ferienzimmer und eine Tourenjacht. Das alles reicht, um den Bremer im Norden der Republik auftreten zu lassen, als hätten Land und Leute einst seinem Clan gehört. Da scheint kaum ein Ort in Schleswig-Holstein zu liegen, in dem nicht irgendein Vorfahr Pastor war oder einen Hof besaß oder sonstige Spuren hinterlassen hat. Väterlicherseits datiert Karl Carstens andeutungsweise seine Familie bis in die Zeit Karls des Großen zurück, verweist auf den Carstens-Hof bei Visselhövede in der Lüneburger Heide, der seiner Familie freilich schon lange nicht mehr gehört. Aber der Carstens, der 1667 zum ersten Mal mit »Schmalrind, Hofschwein, Mutterschaf mit Lamm und Rauchhuhn« im Viehschatzregister des Landesherren erwähnt wird, ist laut Karl Carstens mit Sicherheit ein Vorfahr.

Auch diese Gegend scheint dicht von blondschöpfigen und blauäugigen Großnichten und Großneffen bevölkert, die Carstens zu den Seinen zählt. Überall deutet er auf Felder, über die er schon geschritten ist, und Dorfweiher, in denen er als Junge gebadet hat. Eine Ahnengalerie ziert in Scherenschnitten das mit Familienerbstücken geschmückte konventionelle Heim im Bonner Vorort Meckenheim, wo Carstens auch während seiner Amtszeit als Bundespräsident wohnen bleiben will.

Dort führt seine Frau Veronica Carstens eine internistische Arztpraxis mit geradezu seelsorgerischer Fürsorge. Sie ist Presbyterin in der evangelischen Gemeinde, Carstens selbst, der einst Diakon am Bremer St.-Petri-Dom war, predigt hin und wieder den linksrheinischen Protestanten.

Was immer man sich unter intaktem harmonischen Ehe- und Privatleben nach ländlicher Pastorenart vorstelle, bei Carstens in Meckenheim ist es auf 140 Quadratmeter Wohnfläche zu Haus die 4000-Bücher-Bibliothek von Brecht bis Tieck, die kräutersammelnde Hausfrau, die Geige spielt, der Roggen züchtende Hausherr, der Gedichte vorliest, Barockmusik und Burgunder, schmiedeeiserne Schnörkelgitter und der Haushund Ben, der das Ehepaar bei Wanderungen durch die Eifel begleitet.

Jeder, der im Hause Carstens zu Gast war, versichert, daß alles echt sei, ungekünstelt, hausväterlich, freundlich, hilfsbereit. Erst hinterher erscheint es manchem ein bißchen zu schön, um wahr zu sein.

Nun nähme an diesem Hang zur Idylle, diesen privaten Funden seiner ständigen »Suche nach dem Positiven«, sicher niemand Anstoß, priese Karl Carstens seine Harmoniewelt nicht ständig unterschwellig als Modell für alle an.

Daß er in seinem privaten Leben Abweichungen, Störungen, Ungleichmäßigkeiten und Konflikte verniedlichend unterzubringen weiß in Anekdoten über schrullige Typen und Käuze, ist seine Sache. Daß der künftige Präsident der Bundesrepublik Deutschland mit gediegener Unduldsamkeit alle verketzert, die Konflikte als Realitäten sehen und Realitäten als veränderlich und veränderbar, ist eine andere.

Karl Carstens kann und will nicht einmal in seiner wissenschaftlichen Arbeit verstehen, daß andere Kollisionen aufgrund von Interessengegensätzen für unvermeidlich halten. Zu entsprechenden Thesen der Autoren Erich Kitzmüller und Heinz Kuby merkt er an: »Typisch für den Beitrag ist, daß sie überall ausweglose Situationen sehen, die nur in einer Krise oder in gewaltsamen Repressionen enden können.«

Was sich nicht »vernünftig« oder im Geiste eines sportlichen »fair play« -- so hieß schon durchaus programmatisch sein zweites Boot auf Fehmarn -- regeln läßt, erfüllt ihn mit Abscheu und Unverständnis.

Er ist seiner Sache sicher, wer darüber nicht mit sich reden läßt, ist sein Feind. Da ist Karl Carstens ganz eindeutig, auch dann, wenn er nicht -- wie als Oppositionsführer unter dem Deckmantel der parlamentarischen Spielregeln -- gegen seine Gegner erbarmungslos und maßlos vom Leder zieht.

Ein Mann, der aus seiner diplomatischen Praxis über 30 Varianten kennt, um Mißfallen auszudrücken, hat seine Mittel. Oh nun durch den Ton oder ob indirekt durch die Wahl von charakterisierenden Beiwörtern -- der künftige Präsident weiß sich immer mit seinen Zuhörern in Klarheit darüber, wer »wir« sind und wer »die«.

Wer etwas tut, sagt oder denkt, was Karl Carstens als sinnlos, zerstörerisch, pessimistisch, radikal, gefährlich, emotional, irrational, extrem, schranken- oder bindungslos empfindet, der kriegt es mit dem Moralisten aus Bremen zu tun. Und so sicher seine Freunde sind, daß der scharfe Ton, den Carstens als Unionssprecher im Bundestag angeschlagen hat, seinem Wesen eigentlich nicht entspreche, so lauwarm stimmt er dem zu. Als er den Platz des Oppositionsführers mit dem Präsidentenstuhl vertauscht hatte, sagte er: »Manche meiner Freunde meinen, diese sich jetzt mir anbietende Form der Darstellung entspreche meinem Wesen mehr als die andere. Aber: In jedes Menschen Brust wohnen mehrere Seelen.«

Als Bundespräsident will er integrieren, »in der Form« jedenfalls, will er ein Präsident aller Bürger sein. So verlangen es die Spielregeln. Zugleich aber will Karl Carstens seinen Grundsätzen treu bleiben und damit auch denen einer »wehrhaften Demokratie« und »kämpferischen« Auseinandersetzung mit allen, die er für ihre Feinde hält.

Zu den »gegenläufigen geistigen und politischen Tendenzen«, die er als Herausforderung empfindet, rechnet der Christdemokrat jede Art von »sinnloser zerstörerischer Kritik, die an unserem Staat und unserer Gesellschaft geübt wird, auch wenn sic in literarischem, philosophischem oder sogar theologischem Mantel auftritt«.

Der Staat, der seinem Weltbild am stärksten entspricht, ist die Bundesrepublik, wie sie in den 50er Jahren geprägt wurde. So ist der Zustand von damals sein Modell Deutschland. Und wie damals ist dieses Modell noch immer bedroht durch die Kommunisten, daran hat sich nichts geändert.

Nur ist die Bedrohung stärker geworden, da in Carstens Einschätzung Marxisten -- wie etwa der niedersächsische Sozialdemokrat Peter von Oertzen, bis 1974 Kultusminister in Hannover -- inzwischen auch in der Bundesrepublik Regierungsämter einnehmen und die Schulen mit Lehrbüchern versorgen, »die aus lauter Kritik an vorgefundenen Zuständen und bloßem Engagement für Veränderung nicht den Willen zur Reform, sondern zur Revolution erzeugen«.

Die Straußsche Alternative »Freiheit oder Sozialismus« ist nach Carstens« Auffassung vereinfacht, aber absolut richtig. Für den künftigen Präsidenten besteht die SPD heute aus zwei Parteien, den konservativen Sozialdemokraten wie Wilhelm Kaisen, den Carstens nach wie vor besucht, und einer zweiten ideologisch-marxistischen SPD, die auf die wirtschaftlichen Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft abzielt.

»Sozialismus führt in seiner letzten Konsequenz zur Vernichtung der Freiheit. Und deswegen sind wir Deutsche aufgerufen, mit aller uns zur Verfügung stehenden Macht dafür zu kämpfen, daß die freiheitliche Ordnung in unserem Lande erhalten bleibt«, hat Carstens 1975 auf dem CSU-Parteitag gesagt. Eine »breite Front neomarxistischer Gruppen bis weit hinein in die sozialdemokratische Partei hat sich in Bewegung gesetzt, um unsere derzeitige staatliche Ordnung zu zerstören«.

Das sagt er heute nicht mehr so, aber das glaubt er nach wie vor.

Eine »Speerspitze der Tendenzwende« haben die Carstens-Freunde in der CSU ihn einmal genannt. Darauf angesprochen, wehrt er ab, man dürfe sich seine Wahl zum Präsidenten und ihre Folgen »nicht zu mechanistisch« vorstellen, nicht als Signal zum »Machtwechsel«. Seine Möglichkeiten der Einwirkungen seien mehr geistiger Art als eigentlich politischer.

Aber diese Mittel, daran läßt er keinen Zweifel, wird er nutzen. Und warum sollte eigentlich heute nicht mehr gelten, was er nach seiner Wahl in das überparteiliche Amt des Bundestagspräsidenten öffentlich auf die Frage antwortete, ob er sich nicht als »Neutraler« und »Vermittler« fühle?

Carstens damals: »Ich würde mich nicht als jemanden ansehen, der berufen ist, Brücken zu schlagen.«

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