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VERBRECHEN Ja, sicherlich

Der fragwürdige Schießbefehl eines übereifrigen Staatsanwaltes, dem ein Bankräuber und eine Geisel zum Opfer fielen, hat in München offenbart, wie unzulänglich die Polizei auf ungewohnte Verbrechen reagiert.
aus DER SPIEGEL 33/1971

Zwanzig Minuten vor Mitternacht war High Noon. Die Luft war sommerlich schwül, der Abendhimmel wolkenlos, die Szene »abgeräumt und sauber« -- so der Münchner Oberstaatsanwalt Erich Sechser.

Sweet music wabert aus dem vollbesetzten Schlemmerlokal »Käfer« über den nächtlichen Schauplatz auf der Münchner Prinzregentenstraße. Vis-à-vis tritt aus der hell erleuchteten Filiale der Deutschen Bank der Kassierer Ludwig Kelnhofer, 32. Er trägt einen Jutesack mit zwei Millionen Mark zu einem auf der Straßenmitte abgestellten blauen BMW (Kennzeichen: M-HC 1193). Dann geleitet er seine Kollegin Ingrid Reppel, 19 -- sie ist an den Händen gefesselt, ihr Kopf ist vermummt -, zum Auto.

Sekunden später löst sich aus dem Neonlicht der Bankfiliale einer der Hauptakteure: der Chemograph Hans Georg Rammelmayr, 31, aus München-Giesing, über dem Kopf eine Ku-Klux-Klan-Kapuze, in der Linken eine Maschinenpistole, in der Rechten einen Revolver. Gemessenen Schrittes begibt er sich zum BMW. Wirrer Applaus und wilde Schreie aus einer von der Polizei mühsam abgedrängten Zuschauermasse begleiten seinen Auftritt.

Kaum sitzt Rammelmayr. neben Ingrid Reppel, am Steuer, knallt's. Unter den Schüssen von sechs versteckten polizeilichen Scharfschützen und den Feuerstößen aus Maschinenpistolen zerbersten die Scheiben des Wagens. Auf dem Straßenpflaster stieben die Funken von Querschlägern auf. Die beiden Insassen sacken zusammen, Rammelmayr schießt offenbar ebenfalls.

Ingrid Reppel, von Münchens Bürgermeister und Chirurg Hans Steinkohl aus dem zerschossenen Wagen geborgen. kommt »völlig ausgeblutet, aber noch ansprechbar« (so der Notarzt) in das nahe gelegene Krankenhaus Rechts der Isar. Sie stirbt um 1.10 Uhr auf dem Operationstisch: Milz, Leber, Pfortader. Magen und Bauchspeicheldrüse von mehreren Schüssen zerfetzt, der rechte Oberschenkel zerschmettert, Einschüsse an den gefesselten Händen.

Rammelmayr, von zwei Beamten wie ein toter Kampfstier in den Rinnstein geschleift, stirbt noch an Ort und Stelle. Um Mitternacht, als alles vorbei ist. liegt seine rote Kapuze zusammen mit dem geretteten Geldsack am zerschossenen rechten Vorderreifen des Todes-Autos.

Die beiden Toten von Mittwochnacht letzter Woche waren nicht Bonnie und Clyde. Sie waren Gangster und Geisel -- »an einem Tag wie jeder andere« (so das »Hamburger Abendblatt"), und das will in Deutschland neuerdings etwas heißen: Am Freitag darauf wurden in der Bundesrepublik fünf Banküberfälle verübt, darunter einer mit Geiselnahme.

Räuber Rammelmayr und sein Komplice Dimitri Todorov, 24, die in München kurz vor Schalterschluß gegen 16 Uhr in die Bankfiliale an der Prinzregentenstraße Nr. 70 eingedrungen waren und von den anwesenden Kunden und Angestellten zunächst sechs als Geisel festhielten, wollten nicht nur die Tageskasse, sondern »zwei Millionen Mark ... als Barzahlung in 20 Paketen à 1000 Hundertscheinen aus verschiedenen Serien«. Andernfalls, so ließen sie der Polizei über den als Geisel gefangengehaltenen Kassierer Kelnhofer telephonisch mitteilen, würden die »Geisel sterben« und eine »Vergeltungsaktion Elend« mit »Mordanschlägen und der Zerstörung vorwiegend sozialer Einrichtungen« anlaufen.

Die Münchner Polizei akzeptierte diese wie andere Gangster-Bedingungen -- etwa die nach Bereitstellung eines »neutralen Fluchtwagens Marke BMW, viertürig«. und freien Abzug. Gleichzeitig aber ließ sie die besetzte Bankzweigstelle von acht Hundertschaften umzingeln und die Prinzregentenstraße sowie Nebenstraßen für Verkehr und Passanten -sperren.

Obschon der Kriminaldirektor Reinhard Rupprecht bereits bei ersten Kontaktversuchen den Bank-Besatzern mittels Megaphon versichert hatte, »Ihr Fahrzeug steht in der Prinzregentenstraße stadtauswärts ... das Geld ist unterwegs«, war sich die Einsatzleitung, die sich in einer Wohnung gegenüber der Bank eingerichtet hatte, noch drei Stunden nach dem Überfall unschlüssig, ob sie ihre Zusagen einhalten oder die Polizisten schießen lassen sollte.

Die Entscheidung fiel kurz nach 19.00 Uhr: Zur Kommandogruppe aus Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber samt Polizeistab. dem aus der oberbayrischen Grenzgemeinde Kiefersfelden herbeigeeilten Innen-Staatssekretär Erich Kiesl und dem OB-Stellvertreter Bürgermeister Steinkohl stieß nun Oberstaatsanwalt Erich Sechser vom Landgericht München I und übernahm die Führungsgewalt. Das war für den Verlauf der Ereignisse entscheidend. »Wenn präventivpolizeiliche Maßnahmen und strafprozessuale Verfolgungsmaßnahmen zusammenfallen«, so erläuterte der forsche Staatsanwalt unter Hinweis auf die Strafprozeßordnung, »da hab« ich die Leitungsbefugnis.« Mit Sechsers Machtergreifung hatte das »große Beratschlagen« (so Kiesls persönlicher Referent Gustav Matschl) ein Ende -- im Notquartier am Tatort hatten sich, so ein anderer Beteiligter, »die Falken durchgesetzt«.

Sechsers Falken-Plan, nach dem die beiden Täter »so rasch wie möglich ausgeschaltet werden« sollten, überzeugte zunächst auch die Tauben. zu denen zeitweilig Polizeipräsident Schreiber gehörte. Sie hatten für freien Abzug plädiert (und vorsorglich ein Funkpeilgerät in dem BMW angebracht sowie einen Hubschrauber zur Verfolgung bereitgestellt). Sofern ein völlig ungehinderter Abzug der Täter ausgeschlossen wurde -- und das taten in München auch die Tauben -, war Sechsers Plan fürs erste auch plausibel:

Laut Schießbefehl des Oberstaatsanwalts an die sechs in mehreren Wohnungen über dem Schauplatz postierten Scharfschützen der Stadt- und Landpolizei und im Prinzip an alle übrigen bewaffneten Beamten, sollten die zwei Verbrecher »kampfunfähig geschossen« werden, sobald sie die Bank verlassen und sobald sich eine »freie Schußlinie« zur »Vermeidung der Gefährdung von Geiseln« öffnet. Dazu Polizeipräsident Schreiber fachmännisch: »Es ist durchaus möglich. einen Täter so zu treffen. daß er nur in die Knie geht.«

Die so angeschossenen Räuber sollten dann, nach Sechsers Plan, von herbeispringenden Beamten überwältigt und entwaffnet werden. »Ein Entweichenlassen der Täter«, so erläuterte der Oberstaatsanwalt später seinen Aktionsplan, hätte »die Gefahr in sich getragen, daß es an anderen Stellen der Stadt München, die von Passanten stark frequentiert waren, zu Schießereien und damit zu einer erheblichen Gefährdung anderer Personen hätte kommen können«.

Bestärkt in ihrer Meinung, daß es sich um Täter mit »unglaublicher krimineller Energie« (Schreiber) handle und deshalb die »eingesetzten Mittel der Situation entsprechend verhältnismäßig« (Sechser) seien, wurde die Polizei-Strategie durch ein Probepäckchen mit Sprengstoff, das der vorzeitig freigelassene Bank-Chef mitbrachte« durch eine am Tatort vernehmbare Detonation (der Sockel eines Leistungsmastes wurde beschädigt) und durch die Schilderung einer nach simulierter Herzschwäche vom Notarzt herausgeholten Geisel. wonach nicht ausgeschlossen werden konnte, daß die Bankräuber genügend weiteren Sprengstoff bei sich hatten, um »sich im Falle des Mißlingens ihres Anschlages zusammen mit den Geiseln in die Luft« zu sprengen (Sechser).

Für ihren Einsatzplan hatte die Sechser-Mannschaft, die über sieben Stunden lang die Details planen konnte, »alle Eventualitäten« (Sechser) theoretisch durchgespielt. Polizeichef Schreiber zählte »über 135 Variationen«, und Staatsanwalt Sechser exemplifizierte, daß »ein Täter mit zwei Geiseln, beide mit einer Geisel oder mit allen« (in solchen Fällen sollte nicht geschossen werden) zum Auto kommen könnten -- oder daß beide Täter, wie die Polizei hoffte, sich beim Weg zum Fluchtwagen so weit von den Geiseln entfernen würden, daß ohne Risiko geschossen werden durfte.

Eine Variante freilich hatte die Kommandozentrale, die Räuber und Geiseln kurz nach 21 Uhr mit Koteletts und belegten Broten, Obst und eisgekühlten Getränken aus dem Delikatessengeschäft »Käfer« versorgen ließ, nicht in Erwägung gezogen. Es war ausgerechnet jene Variante. die die Täter zu später Stunde. kurz vor 23 Uhr, ins Sechser-Quartier (Telephonnummer 4 56 200) mitteilen ließen: »Einer geht raus, fährt weg mit einer Geisel, kommt zurück und holt seinen Kollegen und zwei Geiseln ab« (Sechser),

Diese Taktik der Bankräuber, »mit der kaum gerechnet werden konnte« (Bürgermeister Steinkohl) stellte die Schießanweisung erneut in Frage. Denn nun waren für den Fall, daß draußen auf den ersten Täter geschossen wird, die drei in der Bank verbleibenden Geiseln akut gefährdet. Zwar erkannte auch Einsatzleiter Sechser. daß damit der Sachverhalt -- »ja, sicherlich« --

wesentlich verändert war, doch der Polizeiapparat war nicht mehr flexibel genug, den Schießbefehl zu revidieren und neu zu disponieren.

Psychologisch fixiert war mittlerweile aber auch das tausendköpfige Publikum hinter den Absperrseilen der Polizei, an den Wohnungsfenstern und in Käfers Feinschmecker-Lokal, wo die maßgekleidete Kundschaft bei Schmaus und Trank die Ereignisse verfolgen konnte.

In diesem nächtlichen Klima einer »gespenstischen Mischung von Chikago und Oktoberfest« ("Süddeutsche Zeitung") johlten und pfiffen Zuschauer, als sich die ursprünglich für 22.00 Uhr vorgesehene Übergabe des Lösegelds verzögerte. Die Leute draußen riefen »Hängt sie doch auf«, und die Herrschaften drinnen räsonierten genüßlich über Marxisten-Maximen. wonach es besser sei, Banken zu gründen als sie auszurauben. Bürgersteig und Käfers Bei-Etage einte offenkundig der an Bildschirm-Krimis und Western geschulte Geschmack an heißer Dramatik.

TV-gerecht aber verhielten sich auch die Agierenden dieser Nacht. Die beiden Räuber, die mit ihren Kapuzen wie Schemen hinter den Schaufenstergardinen der Bank hin und her huschten. schickten ihre jüngste, vielleicht attraktivste Geisel in die offene Szene. Oberstaatsanwalt Sechser. tausend Polizisten unter sich, der kurz nach 23.00 Uhr seinen Scharf schützen die neue Situation erläuterte, beharrte auf Macht und unmittelbare Gewaltanwendung. Als Notlösung befahl er nun, möglichst gleichzeitig mit den Schüssen auf den herauskommenden Gangster die Bank »im Husarenstreich zu stürmen« (Bürgermeister Steinkohl).

Als es dann aber um 23.40 Uhr soweit war. gerieten Thesen und Taten heillos durcheinander: Einerseits war man sich im Polizeiquartier völlig sicher, daß der »gefährlichere, wie ein Spanier aussehende Täter« (Steinkohl) als erster herauskommen würde, andererseits aber fiel, als der gefährliche Rammelmayr dann tatsächlich heraustrat und die zwölf Meter zum Wagen ohne Geiseldeckung zurücklegte. kein einziger Schuß.

Polizeichef Schreiber: »Weil wir ja nicht wissen konnten, ob es nicht vielleicht eine verkleidete Geisel war« obschon Rammelmayr deutlich erkennbar zwei Waffen trug (Schreiber: »Die konnten ja entladen sein"), obschon Photographen vom Täter zielgenaue und scharfe Bilder schießen konnten, obschon der Polizei völlig klar sein mußte, daß außer dem Kassierer Kelnhofer, der dem herausgehenden Rammelmayr noch an der Tür begegnete. nur noch weibliche, für den angenommenen Verkleidungstrick ungeeignete Geiseln in der Bank waren.

Unerklärlich ist, woran die schießenden Scharfschützen erst dann die Identität des Rammelmayr erkannten, als dieser sich ans Steuer setzte -- obschon nach der polizeilichen Trick-Theorie auch eine verkleidete Geisel ans Volant hätte geschickt werden können.

Völlig unerfindlich aber bleibt, wieso die Scharfschützen und MP-bewaffneten Polizisten in dieser Situation, Geisel in Tuchfühlung mit dem Gangster, hektisch drauflosfeuerten -- obschon diese sinnlose Ballerei selbst allen Variationen des Falken-Plans widersprach, »nach menschlicher Voraussicht auch für die Geisel ein Todesurteil« ("Süddeutsche Zeitung") und für den Täter eine nach den Polizeivorschriften und nach dem Grundgesetz -- unzulässige Exekution bedeutete.

Der Plan des Oberstaatsanwalts. der seinen Scharfschützen ursprünglich zugetraut hatte, in einer mit sechs Personen (vier Geiseln und zwei Tätern) belebten Szene die beiden Bankräuber binnen Sekunden zu identifizieren und sie dann sofort kampfunfähig zu schießen, war somit in der Praxis total gescheitert.

Noch absurder aber verlief der zweite Teil des Dramas, der Sturm auf die Bank und die Überwältigung des zweiten Täters Todorov. Obschon die Strategen im Polizei-Quartier nach telephonischen Kontakten ihre Gesprächspartner als »eiskalte Halunken« (Steinkohl) eintaxierten, rechneten sie nach Bekanntgabe des Fluchtplans der Täter kühn damit, daß der verbleibende Todorov nach dem Schußwechsel den Mumm verlieren würde. Steinkohl: »Wenn der erlebt, daß der andere kampfunfähig wird, gibt der doch auf.« Sechser: »Ein Mann hat weniger Feuerkraft.«

Doch die Polizisten zauderten auch bei dem Run auf die Bank: Erst zehn Minuten nach dem Feuerhagel hatten sie eines der drei Schaufenster zertrümmert und die eisenbeschlagene Hintertür aufgeschossen. Die verminderte Feuerkraft Todorovs hätte durchaus hingereicht, die Geiseln zu töten. Sechser danach: »Freilich hätt' er sie erschießen können.«

Genau das aber zeigt, wie fragwürdig, wie gefährlich, wie vermessen der Schießbefehl von München überhaupt war. Er hätte nur einer einzigen Situation -- unter zahllosen Möglichkeiten -- adäquat sein können: der nämlich, daß die beiden Täter gleichzeitig ins Visier der Scharfschützen gekommen und die Geiseln just zur selben Zeit nicht im Schußfeld gewesen wären.

Jeder Schießbefehl, der nicht exakt auf diese Situation beschränkt war, mußte einkalkulieren, was nach Paragraph 43 des bayrischen Polizeiaufgabengesetzes verboten ist: nämlich »zu schießen, wenn durch den Schußwaffengebrauch für die Polizei erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden«.

Es kam zum Schußwaffengebrauch, und es gab Tote.

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