ZUSCHAUER Jagd auf die Jugend
In den letzten Sekunden der Sendung war Oliver Pocher da, wo ihn manche seiner Kritiker schon immer hinhaben wollten. In einer Art Schreckstarre. Er sagte nichts. Er rührte sich nicht. Er wehrte sich nicht. »So 'ne kleine, miese Type«, hatte ihn sein Showpartner Harald Schmidt gerade genannt. »Uncool.« Und: »So klein mit Hut.«
Schmidt lächelte nicht. Seine Stimme war erstaunlich kalt und schneidend. Das war kein Gefrotzel mehr unter Kollegen. Das war ernst. Der 50-Jährige moderierte die Sendung eisig ab, ohne seinen 20 Jahre jüngeren Showpartner noch eines Blickes zu würdigen.
Nach der Sendung sprachen sich die beiden lange hinter verschlossener Tür aus. Laut wurde es nicht. Aber Schmidts Vorwürfe waren deutlich. Zum Eklat beigetragen hatte die als Gast eingeladene Rapperin Lady Bitch Ray (siehe auch Seite 110).
Sie redete obszönes Zeug und brachte als Geschenk in einem Döschen angeblich ihr Intimsekret mit. Schmidt musste Pocher während des Gesprächs immer wieder aus der Patsche helfen. Permanent schrammte das Ganze die Höchstnotpeinlich-Grenze, bis Pocher das Döschen an einen anderen Gast weiterreichen wollte - und Schmidt der Kragen platzte.
Die Szene war geradezu symptomatisch für die mittlerweile verzweifelten Versuche der öffentlich-rechtlichen TV-Sender, jüngeres Publikum zu erreichen. Da wird ein Jungstar wie Pocher als Lockvogel geholt, um eine Generation, die sonst fast nur Privatfernsehen guckt, ins Erste herüberzuziehen. Und was dann noch über den Sender läuft, ist eh schon fast egal. Bis irgendwann einem der Kragen platzt.
Anders als das letzte ARD-Jugendabenteuer, der Vorabend-Typberater Bruce Darnell, hat es Ex-ProSieben-Star Pocher immerhin geschafft, junge Zuschauer, die sonst eher RTL-Hits wie »Deutschland sucht den Superstar« sehen, in nennenswerter Zahl zur ARD herüberzuholen. Schmidt allein hatte bei den unter 50-Jährigen einen Marktanteil von 6,7 Prozent. Mit Pocher kommt er auf 9,0. Fürs Erste ein echter Erfolg.
Und so gerät durch die Hereinnahme von Pocher jede einzelne Show auch zu einem Zielgruppenexperiment mit eigenartiger Wirkung. So fremd sich die Zuschauer von ARD und ProSieben sind, so sprachlos sitzen sich manchmal Schmidt und Pocher gegenüber. Ein öffentlich vollzogenes Scheitern, auf eigene Art amüsant, aber eben doch ein Scheitern.
»Wir riskieren mit Schmidt und Pocher sehr viel mehr, als andere öffentlich-rechtliche Sender riskiert haben - und das bewusst und gewollt«, sagt ARD-Programmdirektor Günter Struve, der stolz auf das ungleiche Paar ist. Die vorletzte Sendung allerdings fand auch er, wie er zugibt, »ziemlich ui-jui-jui«.
Und »ui-jui-jui« ist in der ARD gleichbedeutend mit Alarmstufe dunkelgelb. Der MDR und das Bayerische Fernsehen setzten geplante Wiederholungen der Sendung in ihren dritten Programmen ab. Der SWR versah sie mit einem Warnhinweis, die nachfolgende Sendung sei für Zuschauer unter 18 Jahren ungeeignet.
»Es ist immer dieselbe Gratwanderung bei solchen Sendungen. Man will junge Zuschauer erreichen, und zugleich darf das Niveau nicht abstürzen«, sagt MDR-Intendant Udo Reiter. »Das war ganz offensichtlich ein Absturz.«
Das ist tatsächlich ein regelmäßiges Dilemma für ARD und ZDF. Verlassen sie mal die knatsch-seriöse Zone, um jünger auszusehen, bekommen sie gleich Prügel von allen Seiten. Riskieren sie nichts, müssen sie sich anhören, wie ihr Publikum vergreise (siehe Grafik). Kaum auszumalen, was geschieht, wenn sich das so weiterentwickelt. Ist öffentlich-rechtliches Fernsehen dann in wenigen Jahren endgültig ein Auslaufmodell - nur noch auf den Fernbedienungen mancher Altenheime fest programmiert?
Medienforscher zeichnen ein düsteres Bild. Während die Senioren von Jahr zur Jahr neue Rekorde der Fernsehnutzung aufstellen, wenden sich Teenager allmählich vom Fernsehen ab. Die Zeit, die sie im Internet verbringen, wächst. Und wenn sie im Alter von 14 beginnen, selbst über ihren Fernsehkonsum zu entscheiden, hat auch der öffentlich-rechtliche Kinderkanal keine Chancen mehr. Das Erste und das ZDF spielen so gut wie keine Rolle.
Zwar nehme auch bei diesen Generationen das Interesse an den öffentlichrechtlichen Sendern mit steigendem Alter zu, allerdings nur in Trippelschritten.
Wollen ARD und ZDF also auch in 30 Jahren noch Programm für alle bieten - und dafür auch Gebühren von allen bekommen -, müssen sie irgendwie an die jungen Zuschauer heran.
Doch dieses Publikum ist nicht leicht einzufangen. »Es ist unterhaltungssüchtig. Es flieht vor Politik in jeder Form. Es findet mit schlafwandlerischer Sicherheit US-Filme und US-Serien. Und es ist sofort weg, wenn es sich langweilt«, sagt ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut. Theoretisch sei es sehr leicht, das Programm zu verjüngen, meint auch sein ARD-Kollege Struve. Man müsse einfach alle Sendungen, die bei unter 50-Jährigen einen Marktanteil von unter vier Prozent haben, aus dem Programm fegen. Doch dann flöge eben nicht nur der »Musikantenstadl« raus. Dann wären auch etliche Polit-Magazine oder Dokumentationen verloren, mit Ausnahme der »Tagesschau«. Ein Pocher-Vollprogramm sozusagen.
»Ich habe vermutlich jeden Fehler unter der Sonne gemacht«, sagt Struve. »Aber ich habe niemals behauptet, jetzt beginne die Jugendoffensive der ARD. So etwas funktioniert nicht.« Struve zielt damit auf seinen ZDF-Kollegen Bellut, der zuletzt immer öfter von einer »Strategie der vorsichtigen Verjüngung« sprach.
Bellut scheint es sogar ernst zu meinen. So hat er Anfang des Jahres fast alle Volksmusiksendungen gestrichen, die unter der Woche liefen - eine Tat mit hoher Symbolkraft. Bellut hat das selbst dann noch durchgestanden, als Volksmusikstar Heino via »Bild« zum Gebührenboykott aufrief.
Doch er will nicht brachial auf Jugendlichkeit setzen. Er möchte nur an einem Abend in der Woche, am Mittwoch, einen Programmplatz schaffen, an dem er junge Zuschauer nicht verschreckt. Sein Kalkül: Irgendwann lernen die Jüngeren ihren Programmplatz und schalten am Mittwochabend nicht mehr nur zufällig ZDF ein. Deshalb hat er auch »Aktenzeichen XY ... ungelöst« mit Rudi Cerne, das erstaunlicherweise bei jungen Zuschauern erfolgreich ist, auf den Mittwoch geschoben.
Ab Sommer will er auf diesem Sendeplatz weiter Druck machen. Er zeigt US-Spielfilme und Romantikkomödien wie »Ein Chef zum Verlieben« mit Hugh Grant. Auch eine US-Serie kann er sich langfristig wieder im Programm vorstellen.
Für die ARD gibt Senderchef Reiter eine andere Strategie vor. Er will auf der Frequenz des Kinderkanals ab 21 Uhr ein ARD-Jugendprogramm auflegen. Wenn es die Politik erlaubt. »Beim Kinderkanal hat man uns am Anfang auch gesagt, die wollen euer Zeug doch nicht sehen. Aber jetzt sind alle sehr zufrieden; Pädagogen, Eltern und sogar die Kinder«, sagt Reiter. Dennoch macht er keinen Hehl daraus, dass er Verjüngungshoffnungen für das Hauptprogramm für illusorisch hält: »Diese Versuche sind alle schiefgelaufen. Ein 18-Jähriger schaut Bruce Darnell bei Pro Sieben an, bei uns nicht.«
MARKUS BRAUCK