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Jahr des Schweins

aus DER SPIEGEL 24/1969

(siehe Titelbild*)

Ein Mensch, der fähig ist, Buddha zu begreifen, sollte nicht in einer Welt leben, in welcher common sense, Demokratie und bürgerliche Bildung herrschen.

Hermann Hesse: Der Steppenwolf, 1927

Kunst ist, was wir tun. Kultur ist, was man uns antut.

US-Bildhauer Carl Andre, 1969

De profundis«, aus der Tiefe, aus dem Untergrund ihrer römischen Katakomben, hatten einst die ersten Christen zu ihrem Gott gebetet -- für das Ende eines übermächtigen Weltreiches und den Anbruch eines neuen, christlichen Zeitalters. Und der Herr hat's gegeben.

Zwei Jahrtausende später, nach Dante, Shakespeare, Goethe und Joyce, nach Luther und 261 Päpsten, nach Verdun, Auschwitz, Stalingrad und Hiroshima, dringt von neuem ein Ruf aus der Tiefe: Inmitten einer prosperierenden Zivilisation zieht es immer mehr »Kinder von Karl Marx und Coca-Cola« (so der Cinéast Jean-Luc Godard) in jenes innere Exil, das sie in der Weltsprache dieser Jahre Underground nennen. Doch sie hoffen auf keinen Gott.

Aus eigener Kraft wollen sie vielmehr das »monarchistische Weltmodell« verändern, in dem »Gott der Boß ist und alle politischen Systeme, alle Gesetze nach dem gleichen Schema gemacht sind« (US-Religionsforscher Alan Watts).

In die schönere neue Welt strebt eine wahrhaft gemischte Gesellschaft:

* Psychedelische Lichtspiele in der Londoner Diskothek »Happening Happening '44«.

Künstler, Bohemiens, Wehrdienstgegner, Provos, Gammler, Beatniks und Hippies, in denen der Geschichtsphilosoph Arnold Toynbee die Nachfolger der Katakomben-Christen respektiert, Sterndeuter, Maschinenstürmer, Spiritisten, Revolutions-Studenten, Drogenesser, Friedenskämpfer haben sich im Underground gesammelt -- eine aktive Minorität, die noch keine Statistik verzeichnet. Aber das wissen sie sehr gut: »Wir waren noch nie so viele.«

Sie sind, wenn überhaupt, in Hunderten von kleinen Trupps und Gruppen organisiert, die kaum jemals dieselbe Meinung haben. Sie bekennen sich, wenn überhaupt, zu einem abenteuerlich anmutenden Synkretismus aus christlichen, buddhistischen, marxistischen, sozialistischen, anarchistischen, astrologischen und hedonistischen Glaubensvorstellungen und dulden keine autoritären Führer.

Nur eines ist dem pittoresken Volk im Underground gemeinsam: die vom Medienforscher Marshall McLuhan prophezeite Hoffnung auf eine »völlig neue Gesellschaft, die sämtliche alten Wertkategorien, vorgeformten Lösungen, Verhaltensweisen und Institutionen ersetzt«.

Dafür streiten sie an hundert Plätzen zugleich: Sie rufen »Fuck the Army« und verbrennen ihre Einberufungsbefehle, sie verlangen »Make Love not War« und halten sich daran. Junge Amerikaner sind vom »moralischen Bankrott« ihrer Nation überzeugt, schreiben das »x« in »Nixon« nur noch als Hakenkreuz, und nicht einmal der ermordete Robert Kennedy kann ihnen imponieren: Er war, schreibt das Underground-Blatt »Rat«, »der Schurke in seiner eigenen Tragödie«.

»Der Underground ist aufgetaucht«, so jubiliert sein New Yorker Chronist Jesse Kornbluth, und er zeigt sich überall dort, wo Autoritätsfeindschaft und Verachtung für die überkommenen Vorstellungen vom Leben, von der Literatur und von der Politik herrschen.« Der Underground zeigte sich in der letzten Zeit zumindest

* in New York, wo rebellische Künstler unter Führung des griechischen Kinetikers Takis Vassilakis das »Museum of Modern Art« zu einem Sit-in enterten und dem liberalen Direktor Bates Lowry ultimative Forderungen auf freien Eintritt, Künstler-Tantiemen für Ausstellungs-Leihgaben und eine Sondergalerie für die Kunst farbiger Minderheiten präsentierten -- Erfolg: Lowry ist inzwischen zurückgetreten;

* in Düsseldorf, wo Studenten mit Billigung ihres Lehrers Joseph Beuys in der Kunstakademie eine »Gegen-Akademie« ausriefen -- Erfolg: Polizeieinsatz und zeitweilige Schließung der Schule;

* in Hamburg, wo der Wiener Kunstanarchist Otto Muehl, nackt selbstverständlich, während einer Kinoverstellung auf der Reeperbahn einem Landsmann in den Mund urinierte, um die »Gleichwertigkeit aller natürlichen Säfte« experimentell zu rechtfertigen -- Erfolg: Beifall im Parkett, die vom Künstler befürchtete Polizei-Aktion gegen die Schaustellung blieb aus; h« in Darmstadt, wo eine Wiener Happening-Gruppe auf Einladung der Evangelischen Studentengemeinde und unter dem Protektorat von Hessens nichtsahnendem Ex-Kultusminister Ludwig Metzger statt des plakatierten Theaterspiels »Hunger: Biafra« eine öffentliche Freß- und Sauforgie vollführte -- Erfolg: besoffene Akteure, 327 Mark Spesen für Speisen und Getränke, drei Mark Überschuß für die Biafra-Hilfe.

So demonstrieren und opponieren sie nun alle Tage -- in Mailand, Rom, London, Amsterdam und New York, in Berlin und Paris: Dichter, Maler, Schauspieler und Musiker, Journalisten, Filmregisseure und Wissenschaftler, diese Kerntruppe im internationalen Underground, erleben schon jetzt die neue Gesellschaft. Unter den Augen eines belustigten, verstörten und zuweilen tief gekränkten Establishments haben sie ihre eigene Subkultur gegen den etablierten Kulturbetrieb gesetzt.

Brüderlich verbunden mit den politischen Guerrilleros der einstweilen vertagten Revolution, führt diese neue Boheme aus dem Hinterhalt ihrer Wohnkommunen, Großfamilien, Künstlerdörfer, Basisgruppen, Clubs und Aktionsausschüsse einen Kleinkrieg gegen bürgerliche Lebensart, gegen die überlebte Ästhetik und gegen überständige oder reformbedürftige Institutionen wie Museen, Theater, Universitäten, Hollywoodfilm, Verlagswesen, Kunsthandel und Tagespresse:

Der New Yorker Porno-Lyriker John Giorno, 31, der in öffentlicher Lesung seine Worte bisweilen mit Rauchbomben vernebelt und dieses Frühjahr in der für Kunstexperimente freigegebenen St-Mark's-Kirche seine Freunde mit 600 Marihuana-Zigaretten, LSD-Punsch und Marihuana-Kuchen zum Bacchanal empfing, publiziert seine Gedichte nur in Kleinstverlagen und boykottiert den Buchhandel.

Frank Zappa, 28, zottelhaariges Haupt der einfallsreichsten und musikalisch anspruchsvollsten Pop-Gruppe seit den Beatles, produziert die Schallplatten seiner »Mothers of Invention« nur noch privat -- und kann nun endlich jeden seiner subversiven Texte ("Der Präsident hat gekotzt. Doot, doot, doot") unzensiert auf die Plattenhülle drucken.

Im New Yorker Chelsea-Hotel« dem Ritz der Boheme, präsidiert der nach Kriegsende in die USA verschlagene Litauer Jonas Mekas, 46, dem neuen amerikanischen Kino. Von seinem Einzelzimmer aus, das ihm als Küche, Schlafraum und Atelier dient, führt Mekas sein Tagebuch mit der Kamera (Vorführdauer Ende 1968: neun Stunden), redigiert ei« eine Fachzeitschrift ("Film Culture"), dirigiert er eine private Kinemathek und einen nichtkommerziellen Filmverleih. Diese schon in Kanada, Italien, der Schweiz. in Österreich, Großbritannien und der Bundesrepublik nachgeahmte »Filmmakers Cooperative« vertreibt New Yorker Autorenfilme für drei Mark pro Vorführminute mittlerweile bis nach Sambia.

Eine US-Künstlergruppe, die sich »Living Artists Inc.« nennt, hat im Frühjahr zur Gründung eines künstlereigenen Gegen-Museums aufgerufen; dem »Terror der Galeristen« wollen »Zehn Downtown-Künstler« mit Verkaufsausstellungen in ihren Ateliers entkommen.

Schon hat der Underground seine Gegen-Universitäten installiert, etwa die »Freie Universität Washington« mit Kursen über Che Guevara und »Das Leben in einer Kommune«, er hat Schulen für »gewaltlose Erziehung daheim, in der Schule und in der Gesellschaft« gegründet, etwa in London. »Freie Läden«, durch Spenden finanziert, verschenken Bücher, Kleidung, Lebensmittel und haben manchmal -- wie der »Free Store« am New Yorker Cooper Square -- auch »sechs kürzlich reparierte Singer-Nähmaschinen« im Sonderangebot.

Verletzte Demonstranten und geschlechtskranke Hippies finden in »Freien Kliniken« ärztliche Hilfe -- in Washington können sie auch Geistliche und einen Psychiater aufsuchen. Über Dutzende von Rundbriefen, internen Nachrichtenblättern, hektographierten Spezialzeitschriften ("Little Mags") bleiben die Underground-Gruppen international miteinander in Verbindung. Telephonische Ansagedienste arbeiten rund um die Uhr:

Sie besorgen Unterkunft und Gelegenheits-Jobs (London 229-8219), Rechtsberater nach Rauschgift-Razzien (London 229-7753) und vor dem Entschluß zur Wehrdienstverweigerung (London 278-1976); professionellen Demonstranten verraten sie den Termin für das nächste Sit-in (New York 924-6315); Freunde aggressiver Underground-Lyrik können Zwei-Minuten-Gedichte etwa Allen Ginsbergs vom Tonband hören: »Dial-A-Poem« (New York 628-0400); der Auftragsdienst des Lyrikers Giorno registrierte über 50 000 Anrufe pro Woche.

Die spektakulärste, lebendigste, wichtigste Unternehmung des Undergrounds jedoch ist seine Presse. »Ich lese nicht 'Time' oder 'Newsweek', wenn ich wissen will, was los ist« so hatte der vom Folksong zum Beat konvertierte Underground-Rhapsode Bob Dylan oft gesungen -- rund acht Millionen Amerikaner haben sich bereits zu seiner Meinung bekehrt.

Auf die um Objektivität und Lesergunst bemühten Nachrichten-Magazine, auf die tägliche Flut »aller Neuigkeiten, die sich zum Abdruck eignen« (Wahlspruch der »New York Times"), können sie verzichten, seit ihnen allwöchentlich »Rat« (verkaufte Auflage: 25 000), die »East Village Other« (65 000) und die »Los Angeles Free Press« (75 000) erscheinen. Und das sind nur drei von gut 150 Rebellen-Blättern (Gesamtauflage: etwa zweieinhalb Millionen), die den Underground der USA und die übrige Welt bis nach Saigon mit bunten Widerstands-Comics, pornographischen Photocollagen« aggressiven Reportagen und einer höchst subjektiven Nachrichtenauswahl bedienen.

Die Redakteure sind wirklich nicht von der »Illusion der Objektivität« ("Los Angeles Free Press") geblendet. wenn die Fernschreiber des undergroundeigenen« von den Zeitungen selbst finanzierten Presse-Dienstes LNS ("Liberation News Service") -- er unterhält inzwischen auch ein Büro in London -- das Neueste aus der Bewegung tickern:

»Pißt nicht für die Armee«, fordert etwa »Rat« (Ratte) und berichtet von einem wehrpflichtigen Art Goldberg, 19, der sich gegenüber einem New Yorker Musterungsarzt mit Schwejkscher Hinterlist geweigert hatte, eine Urinflasche für die vorgeschriebene Untersuchung zu füllen.

»Jetzt ist es Zeit, die Pot-(Marihuana-)Pflanzen zu setzen«, erinnerte eine Schlagzeile auf dem Titelblatt im April die Leser der New Yorker »Bast Village Other« (Evo). Und Evo-Chef Allen Katzman, 31, weiß auch wohin mit den verbotenen Gewächsen: »Pflanzt sie am besten in den Hinterhof eines Bullen!«

Die »International Times« (London), Europas größtes (35 000) und bestes Underground-Blatt, das politischen Gefangenen gratis in die Zelle geschickt wird, unterstützte jüngst den politischen Hausfriedensbruch: Aus Protest gegen das Wohnungselend und zu hohe Mieten hatten junge »Squattters« (Siedler) in London und Edinburgh leerstehende Wohnungen und Häuser besetzt.« International Times": »Die Behörden werden es dulden müssen wie im Jahre 1946, als 39 000 Engländer auf diese Weise eine Wohnung fanden«

Den meisten Raum in den Underground-Publikationen haben jedoch noch immer die beiden Standardthemen: Sex und bewußtseinserweiternde (psychedelische) Drogen.

Munter und selbstironisch werden -- als Parodie auf den Börsenbericht -- in »Rat« die Kurse jener »Psychedelicatessen« (Name eines jetzt polizeilich geschlossenen New Yorker Spezialgeschäfts) notiert, die unter den Chiffren

Jane«, »Grass« und »Boo« laut »Newsweek« bereits in den US-Volksschulklassen so gefragt sind wie das chronisch knappe Geld ("Bread") zu ihrem Erwerb.« Hasch 80 bis 85 Dollar per Unze«, meldet »Rat«, »Angebot befriedigend, Preise immer noch hoch.«

Und so munter antwortet auch Dr. Eugene Schoenfeld, Gesundheits-Kolumnist des »Berkeley Barb« (60 000) und anderer Underground-Blätter« wenn ihn Sex-Eleven fragen, wie ein Penis zu verlängern ("Stein dranhängen?"), eine Vagina zu kräftigen, eine Brust zu vergrößern sei: »Die Größe von Persönlichkeit und Sexualität« pflegt er dann unter dem Pseudonym Dr. Hippocrates zu diagnostizieren, »hängt nicht vom Maß der Genitalien ab.« Sein Ceterum censeo: »Tabak und Alkohol sind Drogen, die (im Gegensatz zu Marihuana und LSD) süchtig machen.«

Im Anzeigenteil vieler Underground-Blätter bahnen sich »Cunnilingus-Spezialisten«, »Leder-Sklaven« und »attraktive, impotente Gentlemen« mit unverblümten Wünschen einen Weg in den »Velvet Underground«, die halbseidene Lust-Region der US-Wohlstandsgesellschaft:

»Eine Frau von 25 mit einer großen, feuchten Klitoris« beantwortet für einen Dollar pornographische Briefe von jedermann, ein »Zwerg, 27, 70 cm, will« -- durch ein Inserat in der »Evergreen Review« -- »große Mädchen von 180 cm und darüber zu exotischen Spielen« treffen, ein Photokünstler sucht »schwangeres Kind für Aktaufnahmen«, und viele, viele Sex-Clubs laden »Swingers«, diese »freisinnigen Paare«, zu Partnertausch und »wöchentlichen Orgien« ein. »Unsere Kleinanzeigen«, so erkannte jüngst die

»International Times« beinahe prüde, »sind schon ein Kreuz.« Aber auf das florierende Annoncengeschäft mit dem Sex will keine der Zeitungen verzichten.

Seit dem Wahlkonvent der Demokratischen Partei in Chicago im Herbst 1968, wo Polizisten des Bürgermeisters Daley gegen Jugendproteste mit Schlagstöcken argumentierten, kommen in der Underground-Presse auch die geheimen Polit-Stars der angeblich jedem Personenkult feindlichen Protestbewegung immer häufiger zu Wort: so der Bestseller-Autor Abbie Hoffman ("Revolution nun ei-st recht"), so Jerry Rubin, der gemeinsam mit Hoffman als »Nicht-Führer einer nicht-existenten internationalen Jugendpartei« (Yippies) firmiert, so der polizeilich gesuchte, nach Havana geflüchtete Neger-Autor Eidridge Cleaver ("Seele auf Eis"), Sprecher der militanten »Black Panthers«.

Cleaver will -- »Fuck the Devil« -- »den Garten Eden auf die Erde zurückholen«, Rubin erkennt in »John Wayne, Billy Graham und Bürgermeister Daley die größten Anstifter zu Gewalt und Mord«. Und wenn Hoffman gegen den Vietnam-Krieg marschiert, wird jede seiner Gesten zur Nachricht: »Abbie pißte in Richtung Pentagon« (Evo). Die Lieblingsidee dieses »Politikers der Ekstase": »Ich glaube an den Zwangs-Kannibalismus. Wenn die Leute auffressen müßten, was sie töten, gäbe es keine Kriege mehr.«

»Was man alternden Zynikern kaum erklären kann«, kommentiert der Underground-Chronist Jesse Kornbluth in einem unlängst erschienenen Buch* solche Vorstellungen, »ist die Tatsache, daß diese Leute es wirklich ernst meinen.« Zumindest für die Redakteure im Underground, allesamt Insider der Bewegung, trifft das zu: Ohne Honorar oder für ein Taschengeld -- »Rat«-Herausgeber Jeff Shero verdient 25 Dollar pro Woche -- redigieren sie ihre niemals langweiligen Blätter mit dem Eifer zorniger Missionare, die noch im bevorzugten Kraft-Vokabular ("fuck«, »bullshit«, »chickenshit«, »motherfucker«, »pricksucker") ihre Lust am Underground bezeugen.

Nie zuvor haben sie sich -- bei steigenden Auflagen -- so stark gefühlt, denn noch niemals waren so viele Überdrüssige zum Exodus aus der ungeliebten Leistungsgesellschaft gerüstet, nie auch war der Haß auf die »kapitalistisch -- geldorientiert -- büro-

* Jesse Kornbluth: »Notes from the New Underground«. 304 Seiten; The Viking Press, New York; 7,50 Dollar.

kratisch -- imperialistisch -- mittelklassenbestimmt -- langweilig -- ausbeuterisch -- militaristische Weltstruktur« (Evo) größer als nach den Polizei-Aktionen und politischen Morden von 1968, im »Jahr des heroischen Guerillas« Che Guevara. Nunmehr, im »Jahr des Schweins« (Schwein bedeutet im Underground-Slang Polizist), soll der Haß produktiv werden.

»Es muß irgendeinen Ausweg geben«, so hatte Bob Dylan gesungen. »Die westliche Gesellschaft hat sich bereits selbst zerstört«, so schrieb der Nachwuchs-Dramatiker Michael Mc-Clure, und daran glauben sie -- oft wider besseres Wissen. Deshalb träumen sie von den »Underground States of America« (Allen Katzman), von der Rückkehr in die selige Gemeinschaft des »menschlichen Stammes« (Marshall McLuhan), und wollen das »Paradies jetzt« (Julian Beck, Chef des »Living Theatre").

Ihr erster Brückenkopf ist der ideologisch flexible internationale Underground« den seine Bewohner inzwischen als intakte Substruktur und Anti-Gesellschaft ansehen. Er bietet der schöpferischen Minorität die Plattform für vereinte Angriffe auf eine als feindlich abgelehnte Umwelt -- zugleich aber ist er als umfriedeter Ort brüderlicher Eintracht und unentwegter Selbstbestätigung für die Bewegung unentbehrlich geworden.

Diese Ambivalenz des Undergrounds wird nirgendwo so deutlich wie in den Künsten: In Ausstellungen, die fast schon Schwarzen Messen gleichen, in Theaterspielen nahe am anarchistischen Happening, in Beat-Gewittern, Experimentalfilmen, Lyrik-Lesungen und sektiererischen Meditations-Séancen verbinden sich jedesmal Aggression und Selbstbefreiung von sexuellen Schranken, Verachtung sämtlicher Moral-Tabus und innere Mission, Auflösung tradierter Kunstformen und Suche nach neuen Ausdrucksmitteln zu einem kaum noch rational erklärbaren atavistisch-magischen Ritual für Mitwirkende und Eingeweihte.

Blut spritzt in den Saal, wenn der aus Puerto Rico gebürtige Amerikaner Ralph Ortiz, Mentor einer »Destruktionisten »-Gruppe, vor feinem Museumspublikum Hähnchen köpft, wenn der Wiener Hermann Nitsch frisch geschlachtete Lämmer kreuzigt und sein Landsmann Otto Muehl, geprüfter Gymnasiallehrer aus dem Burgenland, nackte Assistentinnen bei seinen »Materialaktionen« so lange mit rohen Fleischbrocken« Innereien, Kakao, Milch, Mehl, Ketchup, Eiern und Erbrochenem paniert, bis sich die menschlichen Körper von toter Materie kaum noch unterscheiden. Auf der apokalyptischen New Yorker Szene

* führt die japanische Bildhauerin Yayoi Kusama zur »Selbstauflösung« und zu einer »Homosexuellen Hochzeit« zwei Dutzend Nackte auf die Brooklyn Bridge, auf die Rathausstufen und die Bühne des »Fillmore East Auditorium«, des größten Underground-Treffpunkts in Greenwich Village;

* senkt -- in Michael McClures Drama »Der Bart« -- Westernheld Billy the Kid nach einem »verbalen Paarungstanz« seine Lippen zum Scham-Kuß zwischen die Schenkel der Hollywood-Blondine Jean Harlow;

* wird im »Che«-Stück des Afro-Amerikaners Lennox Raphael der Revolutionsheld, nackt, nach bislang bühnenfremden Lust-Spielen mit einer »lasterhaft köstlichen« Barmherzigen Schwester von einem US-Präsidenten umgebracht, wandeln Transvestiten und -- männliche -- »Huren von Babylon« im Underground-»Theater des Lächerlichen«;

* entkleidet sich -- während eines Avantgarde-Konzerts in der Judson-Kirche -- der Schauspieler Willoughby Sharp; bepinselt bei der gleichen Gelegenheit Kunstmaler Bill Katz die Zuschauer-Gesichter;

* masturbiert der Beat-Star Frank Zappa eine Plüsch-Giraffe und läßt sie Sahne ins Publikum ejakulieren -- das alles zu artifiziellen Geräuschcollagen, in denen abendländische Kunstmusik und Rock'n' Roll-Tradition zu einem neuen, expressiven Pop-Sound verschmelzen;

* stürmen die Mitglieder des stilbildenden »Living Theatre« am Schluß ihrer »Paradise Now«-Vision unbekleidet auf die Straße hinaus;

* befestigt die Filmmacherin Carolee Schneemann beim Liebesakt eine Kamera an der Zimmerdecke; der ehemalige Alkoholiker, Drogen-Sklave und Millionär Conrad Rooks bindet sich den Filmapparat bei der Intim-Verrichtung direkt auf den Leib.

Nach einer dreijährigen Weltreise bereicherte Rooks den wilden, hollywoodfeindlichen, vom Kritiker Sheldon Renan als »Kino-Explosion« dokumentierten Underground-Film um sein monströsestes Werk: »Chappaqua wäre -- ungeschnitten vorgeführt -- erst nach rund 300 Stunden zu Ende**.

Die neue Anarchisten-Kunst voller Sex, Phantasie und Gewalt irritiert selbst die Liberalen ("Newsweek": »Wir brauchen reife Führer") und macht nun auch im epigonalen und ideologisch überfrachteten Underground Europas von sich reden:

Schon haben, lange vor der US-Premiere, Theatergruppen in London und Stockholm das Drama »Ficknam« des Underground-Poeten und Beat-Satirikers ("The Fugs") Naphtali ("Tuli") Kupferberg auf den Spielplan gesetzt***. Darin verspeisen nackte Bomberpiloten nach einem Motto von »Lyndon B. de Sade« ("Wenn wir eine Nation von Sadisten sind ... wollen wir es zugeben ... wollen wir es genießen") in einem südvietnamesischen Soldatenbordell nichtsahnend ihre Babys und rühren im Napalm-Einsatz heftig die Steuerknüppel (Regieanweisung: »ihre Schwänze").

Die Wiener Jungfilmerin Valie Export schnallt sich gern einen Blechkasten vor die blanke Brust und gestattet Cineasten durch ein Fenster den Griff ins »Erste Tapp- und Tastkino« der Welt -- ein »verkleinertes Filmtheater, das einen echten Frauenfilm bietet«.

Nach New Yorker Vorbildern schnurren nun auch auf europäischen Kurzfilmfestivals der Avantgarde -- so in Oberhausen, Hamburg und Knokke -- »Roh«- und »Tesa«-Filme, Sex-Poeme und Barrikadenkampf-Reportagen durch den Projektor.

Zitternd und stampfend, röhrend und veitstanzend symbolisieren inzwischen Dutzende von Theatercompagnien aus Zürich, Genf, Wien und selbst aus Budapest Napalm-Greuel. politische Mordtaten und Polizeiterror so wild, wie es sich Antonin Artaud auf seinem »Theater der Grausamkeit« gewünscht hätte. Auch holen sie immer wieder, wie jüngst beim »Welttheaterfestival« in Nancy, Zuschauer zu gemeinsamem Spiel auf die Bühne.

Und die aufgestörten Bürger, Theaterabonnenten, Kinogänger und Museumsbesucher bemühen -- vergebens -- ihren gesunden Menschenverstand, um hinter den Sinn all dieser exhibitionistischen, geschmacklosen, hitzigen, oft ungeformten Kunst-, Film-, Musik-, Polit- und Bühnenaktionen zu kommen. Nur selten durchdringen sie mit ihrem Intellekt den Underground bis zu seiner irrationalen Wurzel:

»Ein Intellektueller zu sein -- das bedeutet eine Menge Fragen und keine Antwort«, weiß die Blues-Sängerin Janis Joplin, denn »was wirklich zählt«, sagt sie, »sind Gefühle.«

Damit hat sie wohl auch die intellektuellen Avantgarde-Künstler im Underground überzeugt, etwa den Bildhauer Mike Heizer: Er schürft vergängliche Furchen in die Mojave-Wüste. Mehr hat er zum Arger der Galeristen nicht mehr zu verkaufen;

* Mit Billie Dixon als Jean Harlow und Richard Bright als Billy the Kid.

** Sheldon Renan: »The Underground Film«. Studio Vista, London: 320 Seiten: 35 Shilling.

*** Deutsch in: »Radikales Theater«. Kiepenheuer & Witsch, Köln: 144 Seiten: 12 Mark.

auch sein Kollege Richard Serra nicht, der flüssiges Blei -- seine »Skulptur« -- an die Wand schleudert. Nach dem Beispiel des Pariser Monochrom-Malers Yves Klein (1928 bis 1962) handelt der Kalifornier Edward Kienholz neuerdings mit immateriellen Kunst-Konzepten -- reichen Mäzenen bietet er für gutes Geld phantastische Pläne zu unausführbaren Wolkenkratzer-Projekten an.

Mit ihrer »Land«-, »Prozeß«- und »Konzept-Art« wollen diese Künstler statt der gewohnten Werke nur Spuren ihrer Betätigung hinterlassen, die sich jeder Einordnung in rationale Wertkategorien widersetzen. Zugleich hoffen sie auf jene bewußtseinserweiternde Wirkung, die sonst nur die Drogen, dieser Humus des Undergrounds, hervorbringen.

Solchen Einflüssen hat sich der Lyriker ("Das Geheul") und LSD-Mystiker Allen Ginsberg schon seit Jahren verschrieben. Auf immer neuen Gastspielreisen durch den Underground der USA, nach London und Indien (wo ihn der ausschweifende Genuß des heiligen Ganges-Wassers wochenlang mit Diarrhöe aufs Lager warf) propagiert der sanftmütige Bartträger ("Ich stehe nicht jeden Morgen auf, um mein Haar zu morden und mein menschliches Antlitz zu verwüsten") den analen Verkehr unter Männern und bringt, wie letzten Herbst in Chicago, selbst knüppelnde Polizisten mit Gesang zur Ruhe: Acht Stunden lang psalmodierte er im Freien den hypnotischen Text eines fernöstlichen »Mantras": »Rare Krischna Rare Krischna, Krischna Krischna Rare Rare, Rare Rama Rare Rama, Rama Rama Rare Rare«.

Die »magisch-mythisch-sinnlich-halluzinatorische Erfahrung« setzt auch der selbsternannte »Hohepriester« des Drogenkults, Timothy Leary, über das kausale Denken. Der ehemalige Harvard-Dozent für Psychologie, der eine Art Trainingszentrum für kontrollierte LSD-Trips leitete, ist vom Spätestromantiker Hermann Hesse (1877 bis 1962) so beeindruckt, daß er, nach dem Vorbild des Dichters, das Rauschgift als »Sakrament« eingesetzt hat.

Learys psychedelisch erleuchtete, von Sitar-Klang und Weihrauchschwaden begleiteten Massen-Feiern der »Reinkarnation Christi« oder der »Vision des Hieronymus Bosch« imitieren jenes »Magische Theater -- Eintritt nur für Verrückte, kostet den Verstand«, das Hesse in seinem »Stepppenwolf« inszenierte. Seinen Mit-Zelebranten rät Leary zum »Gebrauch von Millionen ungenutzter Gehirnzellen« und fordert sie auf, »Buddha zu werden«.

Was können da die Beatles, die mit elektronischem Raum-Klang und LSD-Hymnen den Weg zur ungebärdigen Pop-Musik des Undergrounds gewiesen haben, solchen Verheißungen heute noch beifügen? Eins immerhin, und zwar ein starkes Wort: »Wir sind selber Gott«, also sprach Beatle George Harrison, »und Christus war dasselbe wie wir -- nur war ihm bewußt. daß er Gott war. Denn das ist alles: Wir sind auch Gott, aber wir begreifen's meist nicht.«

Ein mystisches »Begreifen« hat alle Verstandes-Vokabeln total verdrängt. Begreifen aber, gläubig hinnehmen, müssen die Underground-Neulinge« daß nunmehr zwei Prämissen des bürgerlichen Kulturbewußtseins nichts mehr gelten:

* der Unterschied zwischen Kunst und Leben;

* der Unterschied zwischen Künstler und Publikum.

Denn im Underground gibt es keine Unterschiede, da ist alles eins. Die seit der Renaissance eingebürgerte Abgrenzung zwischen Kunstproduktion und -konsum ist aufgehoben, Qualitätskriterien haben keinen Bestand mehr, gelehrte Dispute ("Kunst -- Nicht-Kunst -- Antikunst") sind hinfällig geworden: »Kein Straßentheater, die Straße ist das Theater«, definiert das Underground-Blatt »Communication Company«. »Das Theater unserer Zeit«, schreibt der »Berkeley Barb« »findet nicht länger im Saal statt -- es ist die ganze Welt.« Und »die Welt ist eine Kunstform«, weiß Tuli Kupferberg; »jedermann ist ein Künstler«, verbreitet die »International Times«.

»Ich bin ein lebendes Kunstwerk«, so behauptet folgerichtig der Hannoveraner Timm Ulrichs und stellt sich selber aus. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Düsseldorfer Maler und Lyriker Ferdinand Kriwet, der auch gern als Kunstwerk leben möchte, hat sich Ulrichs seinen Anspruch auf Gebrauchsmusterschutz gerichtlich sichern lassen.

Konsequent ist auch der Züricher Filmmacher Hans Helmut Klaus Schönherr, der seine Tochter Raphaela, 3, hinter der Kamera beschäftigt und den Debütfilm »Metermaß kaputt« sodann zur »Hamburger Filmschau 1969« gebracht hat.

»Man nennt Viele Künstler, die eigentlich Kunstwerke der Natur sind«

schon der deutsche Romantiker Friedrich von Schlegel (1772 bis 1829) hat es gewußt, und der Germanist Helmut Kreuzer hat es in seiner Habilitationsschrift erst jüngst wieder zum Hauptmerkmal der Boheme erklärt jener sozialen Schicht, zu der auch die Underground-Bewohner rechnen*; Nicht im Werk, sondern im Leben bezeuge sich das Künstlertum der »Originale«, die schon der Alt-Bohemien Henry Miller ("Plexus") beschrieb: »Sie kollidieren wie Protone und Elektrone immer in einer fünfdimensionalen Welt, deren Fundament das Chaos ist.«

Doch nicht das Chaos der Kriege hat die Entstehung des Undergrounds begünstigt, sondern die Wiederkehr der zuvor gewohnten Ordnung -- historisch ist der Underground samt seiner unmittelbaren Vorläufer nur das paradoxe Produkt der »prosperierenden, bürgerlichen Gesellschaft mit liberalen Formen« (Kreuzer), gegen die er sich nunmehr wendet.

Er ist -- so Kreuzer -- das »Komplementärphänomen« zum wachsenden Wohlstand und dem daraus resultierenden Sicherheitsbedürfnis der Besitzenden, zum steigenden Leistungsdruck einer Industriegesellschaft, die sogar die Bildung des Individuums unter volkswirtschaftlichem Aspekt ganz offiziell als Investition verplant und zur unvermeidlichen Rationalisierung selbst so persönlicher Bedürfnisse wie Wohnen, Freizeit, Urlaub, Vergnügen und Sexualität tendiert. Nur was den Fortbestand der Leistung sichert, argwöhnt der Underground, darf man sich leisten. Grausamen Elternbrauch, den täglichen

* Helmut Kreuzer: »Die Boheme«. J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart; 436 Seiten; 36 Mark.

** Walter Hollstein: »Der Untergrund«. Luchterhand, Neuwied; 180 Seiten; 8,80 Mark. Löffel Lebertran so lange mit einem Groschen zu belohnen, bis die Sparsumme zu einer neuen Flasche Tran reicht, sehen die Dissidenten nun als Teufelskreis in der Erwachsenenwelt institutionalisiert.

Und das haben schon die jungen Amerikaner der »Verlorenen Generation« nach dem Ersten Weltkrieg nicht mitgemacht. F. Scott Fitzgerald, John Dos Passos, Ernest Hemingway verließen den American Way of Life der Babbitts und gingen nach Europa.

Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch blieb die Boheme im Lande. Als »Beat-Generation« -- und »beat« kann sowohl geschlagen als auch (nach beatific) glückselig bedeuten -- leiteten die amerikanischen Literaten Jack Kerouac ("Unterwegs"), Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti, Gregory Corso, William Burroughs ("The Naked Lunch") seit Mitte der fünfziger Jahre den Prozeß ein, der schließlich in den militanten, irrationalen, drogenseligen Underground geführt hat, die wirkungsvollste Bewegung seit den Pilgervätern.

Die Geschlagenen, die »Beatniks«, denen der deutsche Essayist Walter Hollstein auch die Erfindung des Begriffs »Underground« gutschreibt**. hatten schon den Marihuana-Joint als Stütze ihrer Meditationen nach dem Zen-Ritual entdeckt. Sie waren die ersten Drop-outs (Ausbrecher) der neuen Nachkriegsgesellschaft, doch sie blieben eine kleine Schar und wollten nur ihre Ruhe.

Da waren die Hippies schon zahlreicher. Rund 500 000 lebten 1967, im »Sommer der Liebe«, abseits von Schule und Elternhaus so unbeschwert in den Tag hinein wie Huckleberry Finn. Und sie waren auch unbequemer. Ihre demonstrative Armut, ihre Verachtung der Zivilisation, ihr oberstes Postulat »Tu, was dir Spaß macht« und ihr -- durch LSD gestilltes -- konstantes Rauschbedürfnis verschafften ihnen eine Publizität in der Presse des Establishments, die schließlich das zeremonielle Begräbnis der Bewegung im Oktober 1967 beschleunigte.

Ihre Nachhuten, in gutem Kontakt mit europäischen Sympathisanten, nannten sich nun »Freebies«, »Peaceniks«, »,Yippies« und sammelten sich. viel weniger friedfertig, um das Dichterwort von Burroughs: »Schmeißt ihnen ihre eigene Scheiße in die Fresse zurück.« Sie gingen in den Underground. In dieser Gegen-Gesellschaft, dort drunten, ist Andy Warhol, 39, obenauf.

Der scheue, schweigsame Mann, ein frommer Katholik, der jeden Sonntag zur Messe geht, hat die »Lücke zwischen Kunst und Leben«. in der noch sein Pop-Kamerad Robert Rauschenberg arbeiten wollte, längst überbrückt:

Als erster Maler schickte der ehemalige Werbegraphiker seine eigene Beat-Band auf Tournee ("The Velvet Underground"). Er installierte New Yorks erste psychedelische Diskothek und versammelt ständig Jünger in seinem »Factory« genannten New Yorker Atelier: Schriftsteller, Techniker, Kritiker, Künstler, Schauspieler, Transvestiten und viele schöne Mädchen, die ihm alle bei der Arbeit helfen, ihn um Rat und Geld angehen und sich »Superstars« nennen dürfen.

Als erster auch bekam er im letzten Juni von einer ehemaligen Psychologie-Studentin den Zugriff der Unterwelt zu spüren: Eine militante Lesbierin, Mitglied einer »Gesellschaft zur Ausrottung der Männer«, besuchte den Künstler mit ihrer Pistole und streckte ihn für zwei Monate aufs Krankenbett.

Doch Warhol trägt seiner Attentäterin nichts nach. »Alles ist hübsch«, so hatte er einst verkündet, und daran hat er sich bis heute gehalten.

Hübsch fand der Sohn eines 1921 immigrierten tschechischen Arbeiters die Suppenbüchsen der Marke »Campbeil«, »weil ich diese Tomatensuppe zwanzig Jahre als Lunch essen mußte«. Er malte die Büchsen ab, druckte sie mit dem Seidensieb vergrößert auf Einkaufstüten, Leinwände, Papier und ließ sie als Gobelins in Stoff arbeiten. Mit ähnlich behandelten Steckbrief-, Filmstar- und Unfallphotos, mit silbernen, schwebenden Heliumkissen und einer Kuhkopf -Tapete stieg er allmählich zum Anführer der Pop-art auf, der nur noch die Originaldosen zu signieren und samt Inhalt teuer zu verkaufen brauchte. Auch die Sammler fanden sie nun hübsch.

Hübsch wie »einen Star« fand Warhol dann New Yorks stattlichsten Wolkenkratzer, das Empire State Building. Er filmte den steinernen Koloß 24 Stunden lang -- in einer einzigen Kamera-Einstellung. Er filmte seinen hübschen Freund, den Lyriker Giorno, acht Stunden schlafend ("Sleep") und dichtete mit »The Chelsea Girls«, dem bislang berühmtesten seiner rund 160 technisch durchweg miserablen Filme, »die Ilias des Undergrounds« ("Newsweek").

In diesem Dreieinhalb-Stunden-Werk stutzt sich ein Mädchen 52 Minuten lang das Haar; ein Homosexueller ruft sich zum »Papst von Greenwich Village« aus, Lesbierinnen belegen ein Doppelbett, eine geschwätzige Mamsell injiziert, unbeeindruckt von der Kamera, Heroin. Ein anderer, auf 25 Stunden Vorführdauer angelegter und mit »****« betitelter Warhol-Film mußte nach 14 Stunden 30 Minuten abgebrochen werden. Das Publikum hielt nicht durch.

»Ich mag eben langweilige Dinge«, verteidigt Warhol diese strapaziösen Exerzitien. Und Langeweile hat er mittlerweile auch zwischen Buchdeckeln veredelt. »a«, sein kürzlich erschienener Roman-Erstling, ist nicht weniger kurios als die Filme: Auf 452 Seiten bietet das Buch nur Realien aus dem 24-Stunden-Tag des homosexuellen Drogenessers Ondine: Es sind Monologe ("Mein Arsch ist meine Schwiegermutter«, »Süddeutschland sollte gerettet werden, der Rest gehört ausgerottet"), Telephongespräche, dadaistische Lautmalereien ("tithati ti ti ti ti ti tithagih"), die Warhol (oder sein Verlag) nach Tonbandaufzeichnungen redigiert hat. »The New York Times": »Ondine scheint unter allen intellektuellen Snobs der alberoste zu sein.«

Aber gerade das hat den Autor ("Ich glaube, alles ist Kunst") schon von jeher gereizt: Mit Konsequenz, darin Dadaisten-Vorbildern wie Marcel Duchamp noch überlegen, setzt er Alltags-Banalitäten in immer neue Medien um: Filme, Bilder, Skulpturen und Bücher. Und diese Verwandlungen sichern den billigen Sujets so viel Beachtung, daß zumindest Eingeweihte darin eine noch nie zuvor wahrgenommene Originalität aufspüren können. Weil Warhols Parteigänger alle herkömmlichen Kunstmittel (etwa: Abwechslung, Rhythmus, symbolische Verschlüsselung, harmonische Komposition) längst für abgenutzt, ja tut halten, empfinden sie das Banale als Offenbarung, die unverkünstelte Realität als die einzig lebendige Kunst.

Und dies ist nicht ganz ohne Folgen in der Kunstwelt des Establishments geblieben. Immer inniger mischen sich die einst säuberlich voneinander getrennten Sparten Plastik, Malerei, Musik, Theater, Literatur zu einer neuen Gattung: Mixed Media.

Nun kreisen auch im pseudo-avantgardistischen Hamburger Staatsopernhaus die Metalltürme des Franzosen Nicolas Schöffer unter Stroboskop-Blitzen und Dia-Projektionen zur Belcanto-Musik des Italo-Amerikaners Gian-Carlo Menotti ("Hilfe, Hilfe, die Globolinks"). In der Kunsthalle Düsseldorf verbinden sich Film, Musik, Mikrophonlyrik« Radiolärm, Lichtbild zu einem tosenden Rundumtheater (Kriwets »Mixed Media").

Und nie zuvor war das Publikum so herzlich zum Mitspiel eingeladen. Im gefälligen Kommerz-Musical »Haare« -- Hippie-Freuden für alternde Zyniker -- hopsen die Zuschauer, darunter unlängst auch die Briten-Prinzessin Anne, allabendlich zum Finale auf die Bühne; im New Yorker »Museum of Modern Art« spielt die Großstadt-Jugend mit Billigung der Wärter Fangball um eine skurrile Maschinenplastik des Schweizers Tinguely.

Seit die Platten der Beatles und der Rolling Stones ebenso zum Pläsier der gebildeten Stände zählen wie die Comic strips »Barbarella«, »Phoebe Zeitgeist«, »Jodelle« uder die Strichmännchen und -mädchen des deutschen Porno-Graphikers Meysenbug, stürzen auch hierzulande »die einst unüberwindlichen Barrieren zwischen populärer Unterhaltung und hochstehender Kunst« ("The New York Times"). »Wenn die Kunst als eine Form der Schulung unserer Gefühle verstanden wird«, so sieht es die US-Kritikerin Susan Sontag, »dann könnte das Gefühl, das von einem Bild Rauschenbergs evoziert wird, von der gleichen Art sein wie jenes, das ein Lied der (Pop-Gesangsgruppe) Supremes erweckt.«

Doch auch überall dort, wo nicht künstlerische Gesinnung, sondern Profit auf dem Spiel steht, kommt neuerdings der Underground an die Oberfläche. Hollywood, selbstverständlich auf Jagd nach dem Dollar der rebellischen Jugend, die jetzt 65 Prozent aller amerikanischen Kinositze bezahlt, beschäftigt ein hippiefreundliches Paar: Dustin Hoffman ("Die Reifeprüfung") und die Ex-Sinatra-Gattin Mia Farrow, die jüngst bekannt hat: »Ich habe mit 16 verschiedenen Leuten in den Kommunen geschlafen -- keiner hat mich jemals angerührt.«

An der neuen Eiscreme-Marke »Underground Sundae« laben sich die Gäste des amerikanischen Bewirtungskonzerns »Schrafft's« -- und Andy Warhol, trotz des Kassen-Erfolges seiner »Chelsea Girls« (Einnahme: zwei Millionen Mark bei 6000 Mark Produktionskosten) stets in Geldnöten, hat die Fernsehreklame dafür entworfen.

Das Glanzpapier-Magazin »Vogue« bedient seine auf Mode-Erscheinungen neugierigen Leser mit einer »Underground«-Kolumne, der »Playboy druckt Interviews mit den Underground-Propheten McLuhan und Ginsberg, und sogar der deutsche »Stern« hat den Bogen raus: »Underground"« so beantwortete Leserin Ingeborg Witschel aus Salach eine Umfrage, ist »kein Himmel voller Geigen, aber ein Weg zum Himmel.«

Die Vehemenz des »Living Theatre«, mittlerweile von deutschen Subventionstheatern zwischen Bremen und Heidelberg dutzendfach kopiert, spielt in New York schon 12 000 Mark Abendgage ein -- und wird dieses Frühjahr gleich dreimal zwischen Buchdeckeln dokumentiert.

Das deutsche Fernsehen hat den Künstlern der sogenannten Land Art inzwischen auch den Ort gewiesen, an dem sie ihre -- nichtkommerziellen -- Schürfversuche in Wüstensand und Wattenmeer dennoch verkaufen können: Es hat eine »Fernsehgalerie« eingerichtet. Mit Steuermitteln garantierte die Stadt Essen im letzten Jahr ein »Underground-Festival« und hatte die »Fugs« zu Gast; europäischer Underground »explodierte« geldbringend während einer wenig aufregenden Mixed-Media-Show im Münchner Zirkus Krone; bei einer buntgeflammten Billigpreisplatte der Firma CBS -- Titel: »That's Underground« -- findet inzwischen auch Bonns Wirtschaftsminister Karl Schiller Entspannung.

Der Erfolg einer ersten Underground-Serie von zehn Langspielplatten, aus der sich vor allem ein Janis-Joplin-Album über 800 000mal auf dem internationalen Markt verkaufen ließ, hat CBS, die deutsche Columbia-Tochter, jetzt zu einer zweiten Abfüllung ihres »musikalischen Narkotikums« ermutigt -- zur »Pop-Revolution aus dem Underground« auf abermals zehn Platten.

Auch die Frankfurter »Pardon«-Verleger Bärmeier und Nikel wollten im Underground ernten -- mit einem für Schüler gedachten »Underground«-Magazin. Das gelackte Heft (Auflage: 85 000) allerdings durchbrach statt der »Schallmauer« zur Rentabilität (100 000) bislang mit einer kaltschnäuzigen Beichtstuhl-Enquête ("Ich habe seit zwei Monaten Verkehr") nur die Grundsätze des Deutschen Presserats (Prädikat: »unfair"). Überdies zog es sich das Verdikt der illegalen Berliner Schülerzeitung »Radikalinski« zu: »Harmlos, schwachsinnig, naiv -- kurz gesagt: für Vierjährige.«

Der immer schnellere Run auf das kommerziell so nutzbringende Underground-Etikett bedeutet für den Apo-Theoretiker Herbert Marcuse die Bestätigung seiner Lehre von der »Absorbierungskraft der Gesellschaft«. Und dem Evo-Chef Allen Katzman beweist er die Annahme, daß »alles, was Leben, Erfahrung, Existenz bedeutet, zur kommerziellen Handelsware wird«.

Eine absorbierende Gesellschaft, die schon aus Hippie-Ketten Haute Couture, aus der sexuellen Provokation des Undergrounds eine Sex-Welle und aus politischen Aktionen den Schlager »Ich mach« Protest« bezogen hat, korrumpiert allmählich auch den Underground.

Schon hat Frank Zappa, der im Haus des einstigen Western-Heros Tom Mix für 700 Dollar monatlich zur Miete wohnt, dank seiner Platten-Umsätze ausgesorgt, schon kommt auch Andy Warhol in seiner neuen, komfortablen Factory seinem Wunschziel ("Ein Swimming-pool in Hollywood") immer näher, schon haben US-Plattenfirmen als einzige Groß-Inserenten die Underground-Presse in der Hand -- mag sich auch die vorerst stiefmütterlich mit einschlägigen Anzeigen bedachte »Rat« entrüsten: »Sie verdienen durch uns nur ihr Geld.«

»Der Underground stirbt langsam« -- so sagt es die New Yorker »Evergreen Review« voraus, und auch der Yippie-Führer Jerry Rubin fragt beklommen: »Was wird sein, wenn wir 30 oder 40 sind?«

Wahrscheinlich ist ein Sieg der amerikanischen Drogen- und Pornographie-Gesetze, nach denen Timothy Leary innerhalb von 13 Monaten 23mal festgenommen wurde, nach denen ein Neger, ein Black Panther freilich, in Los Angeles wegen der öffentlich geäußerten Vokabel »fuck« zu 90 Tagen Gefängnis verurteilt wurde und ein Dutzend Underground-Zeitungen. darunter Evo und »Rat«. mit Staatsanwälten, aufgehetzten Druckern, Vermietern oder mit der Postbehörde in Konflikt kamen.

Ist ein Endkampf wahrscheinlich, wie ihn Evo-Herausgeber Katzman erwartet? »In einigen Jahren«, so sagt er, »wird mehr als die Hälfte aller Amerikaner unter 23 sein. Die ältere Generation kann uns umbringen -- aber sie wird dann nur die Möglichkeit haben, ihre eigenen Kinder zu töten.«

Am wahrscheinlichsten aber ist jener Kompromiß« den Katzmans Evo als »bislang anständigsten Beitrag Amerikas zur Zivilisation« hochleben ließ -- die im New Yorker Meditationstempel »Cerebrum« erreichte Integration des Undergrounds ins zahlungskräftige Establishment:

Zu psychedelischen Wandprojektionen und einem musikalischen Programm, das von Beat bis Beethoven reicht, dürfen sich angemeldete Gäste dort zweimal allabendlich nackt unter transparenten Kutten aus Fallschirmseide auf filzbespannten Inseln ausstrecken, mit Bauklötzen spielen und bei striktem Rauch- und Drogenverbot ein säkularisiertes Abendmahl von spitzbusigen Vestalinnen empfangen -- klebriges Marshmallow-Konfekt und gechlortes Leitungswasser.

Das Programm ist immer das gleiche, die Inseln der Seligen sind immer besetzt. Nur die Preise eskalieren: Einen Dollar zahlt sonntags der Underground, für sieben darf am nächsten Samstag auch das Establishment in die Seide.

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