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»Janz Berlin is eene Wolke«

Berlin - Deutschlands Smog-Stadt Nummer eins Über Berlin ist die Luft schmutziger als über jeder westdeutschen Stadt, den Kohlenpott eingeschlossen. Der krank machende Dreck weht herbei aus Ost und West, aber ein Teil ist auch hausgemacht. Berlin hat sich im Gegensatz zu sämtlichen Bundesländern einer Verschärfung der Smogalarm-Verordnung widersetzt. *
aus DER SPIEGEL 9/1985

Paul Lincke hat sie besungen, Touristen tragen sie, in Dosen abgefüllt, mit heim als Souvenir. Und Sachverständige der Bäderwirtschaft fanden einst die Luft so gut, daß die Stadt eigentlich »Bad Berlin« heißen müsse.

Das Berliner Klima zählt, dank ausgedehnter Wälder, weiter Seeflächen und des trockenen märkischen Sandbodens im Umland, »zu den allerschönsten der Welt«, heißt es im »Baedeker« von 1979, »seine Frische vor allem verleiht ihm jenen Luftton, den man gern als ''Champagnerluft'' bezeichnet«.

Doch nun ist sie zum Politikum geworden - die angeblich so famose Berliner Luftluftluft.

Kaum ein Tag vergeht vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus am 10. März, an dem sich West-Berlins Parteien nicht mit Versprechungen zu überbieten versuchen, den Himmel über der Halbstadt zu säubern. Erstmals in Deutschland ist Luftreinhaltung zu einem Wahlkampfthema aller Parteien gediehen.

»Gift in der Luft«, plakatiert die SPD, »höchste Zeit, wieder sozial zu wählen.« Die CDU sagt dem Sauren Regen den Kampf an: »Wir lassen neue Bäume wachsen.« Die FDP verlangt: »Der Schornstein soll rauchen - aber bitte mit Filter.« Die Alternative Liste (AL) zeigt einen vor Atemnot keuchenden Wappenbären und fordert Abhilfe, »bevor uns schwarz vor Augen wird«.

Paul Lincke würde heute die Luft wegbleiben. In keiner Stadt mußte bislang so oft, neunmal, Smogalarm gegeben werden. Nirgendwo sonst in der Bonner Republik, nicht einmal im Ruß-Land an der Ruhr, wo die Regierung im Januar Fahrverbote und Fabrikstillegungen anordnete, konzentriert sich das Wald- und Menschengift Schwefeldioxid zu derart hohen Spitzenwerten wie in der »deutschen Smog-Stadt Nummer eins« ("Frankfurter Rundschau").

Pünktlich zum Wahlkampf-Auftakt präsentierte Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) ein »Sofortprogramm zur Luftreinhaltung«, sein SPD-Gegenspieler Hans Apel beeilte sich, dem Senat Halbherzigkeit vorzuwerfen. Letzten Monat verlangte die Opposition in einer Sondersitzung des Abgeordnetenhauses den Rücktritt des freidemokratischen Umweltsenators Horst Vetter, weil der in der Luftschmutz-Affäre um die bleiemittierende Akku-Fabrik »Sonnenschein« versagt habe, die der Familie des Postministers Schwarz-Schilling gehört (SPIEGEL 3/1985).

Berlins FDP profiliert sich mit der Forderung, bei Smog-Wetter den Null-Tarif für Bahnen und Busse einzuführen sowie generell, zwecks Schadstoffminderung, Tempo 30 für alle Wohngebiete. Die AL will Berlin gar zur gänzlich »autofreien Stadt« machen.

Schlagzeilen wie »Abgase und Ruß machten das Atmen schwer« ("Tagesspiegel") häufen sich in jedem Winterhalbjahr, wenn die Berliner vor lauter Dreck wie »die Athener am liebsten nur mit einem Wattebausch vor dem Gesicht auf die Straße« laufen würden ("Die Welt"). Und in der Tat ist die Berliner Luft nach Einschätzung von Wissenschaftlern ähnlich schwefeldioxidhaltig wie die in Athen und so staubig wie die in Chicago und Pittsburgh.

Solche Einsichten sind nicht mal neu. Seit langem schon ballt sich an der Spree wie kaum irgendwo sonst eine Fülle geradezu atemberaubender Schadfaktoren: *___Mit den Fabrikabgasen der (nach München) ____zweitgrößten deutschen Industriestadt vermischen sich ____Schwefelschwaden aus insgesamt acht Kraftwerken, einer ____für Ballungszentren einzigartigen Konzentration von ____Energieproduzenten. *___Auf den Straßen und Stadtautobahnen der umzäunten Stadt ____qualmen fast 700 000 Fahrzeuge - umgerechnet auf die ____Verkehrsfläche Berlins sind das über 12 000 Autos pro ____Quadratkilometer, weit mehr als in Hamburg oder ____Frankfurt. *___Aus über 300 000 zum Teil mit DDR-Braunkohle befeuerten ____privaten Öfen steigen - vor allem in den überalterten ____citynahen Quartieren - jedes Jahr zur Heizperiode ____Unmengen von Ruß und Schwefel empor. *___Wie keine Stadt in Westdeutschland ist West-Berlin ____zudem Giftwolken ausgesetzt, die, je nach Windrichtung, ____aus den Schloten Ost-Berlins oder aus Dutzenden von ____Dreckschleudern der DDR, Südpolens und der CSSR ____herüberziehen, der Region mit der höchsten ____industriellen Luftverunreinigung Europas.

Umweltschützer weisen seit Jahren auf die bedrohliche Situation hin. Mal organisierten sie Ausstellungen mit dem Titel »Janz Berlin is eene Wolke«, mal warfen sie demonstrativ abgestorbene Kiefern über die Mauer in die DDR, um auf die gesamtdeutsche Verantwortung für die Luftverschmutzung hinzuweisen: »In Ost und West stinkt''s wie die

Pest.« Auch die Parteien haben sich in den vergangenen Jahren immer mal wieder dem Thema gewidmet - vorzugsweise jedoch, wenn sie gerade die Opposition stellten. Als etwa 1980 der damalige SPD-Umweltsenator Erich Pätzold verharmlosend erklärte, Smog entstehe bei einer »nicht beeinflußbaren Wetterlage«, keinesfalls aber aufgrund starken Schadstoffausstoßes, warnte die CDU, es gehe »um Leben und Tod«; Berlin müsse endlich aufwachen aus seinem umweltpolitischen »Dornröschenschlaf«.

Untätigkeit wirft heute, andersherum, die SPD den Regierenden vor, und Umweltschützer von »Greenpeace« bis »Robin Wood« teilen solche Kritik. Sie verliehen dem Umweltsenator Vetter erst ihr »Schwefelschwein des Monats«, dann, nachdem er keine Wirkung gezeigt hatte, eine »Goldene Schlafmütze«.

Die »Robin Wood«-Streiter, die sich selber als »Rächer der Entlaubten« verstehen, halten den Senat für mitschuldig am rapiden Niedergang der West-Berliner Wälder. Waren Ende 1983 noch 41 Prozent der Berliner Kiefern gesund, sind es jetzt nur mehr 14 Prozent. Grunewald-Förster Hilmar Klein läßt im Revier »Saubucht« (Krankenstand der Kiefern: 100 Prozent) neuerdings alle toten Bäume ungefällt - »als Mahnmal«.

Daß die Luftverschmutzung in Berlin in diesem Wahlkampf erstmals zum politischen Thema geworden ist, hat freilich weniger das Waldsterben bewirkt als der zunehmende Verdacht, daß die Schadstoffe die Gesundheit der Menschen ruinieren können - eine These, die seit Jahren die »Interessengemeinschaft für gesunde Luft« vertritt, eine Bürgerinitiative, die in ihrem Emblem einen Berliner Bären mit Gasmaske zeigt.

Als Ende 1981 mit Hilfe dieser Interessengemeinschaft Kinder aus den Qualm-Quartieren Kreuzberg und Wedding, vertreten durch ihre Eltern, vor dem Verwaltungsgericht gegen den CDU-Senat klagten, um eine Senkung der Smogalarm-Schwellen zu erzwingen, wurde das Begehren abgewiesen. Der Senat argumentierte, die Klage sei unbegründet, weil keine hinreichenden Erkenntnisse über Gesundheitsschäden durch den Smog vorlägen.

Daß es damals an solchen Daten mangelte, war vor allem auf das Versagen Berliner Behörden zurückzuführen. Ausgerechnet die Gesundheitsverwaltung hatte sich gegen entsprechende Studien gewehrt, nicht zuletzt, weil, wie die »Süddeutsche Zeitung« enthüllte, »Vertreter der Wirtschaft und der Wirtschaftsverwaltung« befürchteten, »daß durch eine solche Untersuchung ein weiteres Negativ-Image von Berlin als der Smog-Stadt geprägt wird«.

Mittlerweile lassen sich Zusammenhänge zwischen Luftschadstoffen und Gesundheitsschäden nicht länger leugnen. Das Statistische Landesamt etwa veröffentlichte eine Untersuchung, der zufolge die Sterblichkeit der über Siebzigjährigen in den vier besonders stark belasteten Innenstadt-Bezirken Tiergarten, Wedding, Kreuzberg und Charlottenburg an Smog-Tagen um etwa 15 Prozent steigt.

»Smog«, schreibt der Berliner Kinderheilkundler Ulrich Fegler, »schafft in Krankenhäusern Zustände, die mit Ausnahmesituationen zu vergleichen sind.« Schlimmer noch: Schon weit unterhalb der Smog-Alarmschwelle haben Mediziner schwere Gesundheitsschäden ausgemacht.

Wenn auch nur 200 Mikrogramm Schwefeldioxid pro Kubikmeter Luft gemessen werden (Berliner Alarmwert: 800 Mikrogramm), registrierte der Mediziner Peter Mühling, erkrankten Kinder »signifikant mehr« an Pseudo-Krupp, einer Atemwegserkrankung. »Wir behandeln keine Krankheiten mehr, sondern Umweltschäden«, bestätigt die seit zwölf Jahren in Kreuzberg praktizierende Kinderärztin Renate Schüssler: »Hautkrankheiten, rot entzündete Trommelfelle, eitrige Augenentzündungen und immer wieder chronische Bronchitis, Lungenentzündungen und Pseudo-Krupp, das ist das tägliche Brot eines Berliner Kinderarztes im Winter.«

Die Organismen der Kinder seien, meint Kinderärztin Schüssler, »durch die ständige Aufnahme hoher Schadstoffkonzentrationen mittlerweile so geschwächt, daß bei vielen Kleinen schon eine normale Grippe zu langwierigen Krankheiten mit hohem Fieber und vielen Komplikationen führte«.

Als »gesichert« angesehen werden könne darüber hinaus, resümiert eine Untersuchung der Technischen Universität Berlin, ein »grundsätzlicher Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und höheren Risiken bei Erkrankungen der Atemwege« - »Lungenkrebs eingeschlossen«. Das würde erklären, warum Berlin in der Krebs-Statistik eine Spitzenposition unter den Bundesländern einnimmt: Mit 84,4 jährlichen Lungenkrebs-Todesfällen auf 100 000 Einwohner liegt die Stadt bei den Männern auf Platz zwei, mit 16,8 bei den Frauen sogar auf Platz eins.

Mit demonstrativen Aktionen haben West-Berlins Umweltschützer in den

letzten Monaten erfolgreich versucht, solche Zusammenhänge ins Bewußtsein des Wahlvolkes zu rücken. In schwarz angestrichenen Kinderwagen, aus denen Krupp-Husten vom Tonband rasselte, rollten sie Babypuppen vor den Amtssitz des Umweltsenators, gegen den die Luft-Interessengemeinschaft überdies Strafanzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung erstattete.

Dem Berliner Senat werfen Naturschützer und Elterngruppen, aber auch die Oppositionsparteien eine Vielzahl von Versäumnissen und Fehlleistungen vor.

Tatsächlich hat sich, außer Lippenbekenntnissen, nicht viel getan seit 1981, als dem CDU-Senat das Ökologische in der Regierungserklärung gerade sieben Zeilen wert war.

Der damalige Regierende Richard von Weizsäcker, einst Gesellschafter und Geschäftsführer der Chemiefirma Boehringer, reagierte auf die Forderung nach besserer Luftreinhaltung gelassen: »Verständlicherweise« werde größerer Umweltaufwand »von denen, die betroffen sind, anders beurteilt als von jenen, die Vorteile davon haben«.

Traditionell mehr an denen als an jenen orientiert, begnügte sich der Senat seither mit wenigen Taten und weitgehend ergebnislosen Appellen - etwa der Verbreitung von 20 000 Handzetteln, auf denen Autofahrer gebeten werden, nicht im Stand den Motor laufen zu lassen, oder mit Aufrufen an Großbetriebe, bei Smog die Raumtemperatur freiwillig um zwei Grad zu senken.

Darüber hinaus sorgte die Regierung dafür, daß besonders schwefelhaltiges Heizöl nicht mehr in den Kraftwerken verfeuert wird; nicht vorgesehen war hingegen jahrelang eine Nachrüstung älterer Elektrizitätswerke mit Anlagen zur Rauchgasentschwefelung. Eine solche Maßnahme, meinte das Landesamt für Arbeitsschutz noch 1982, entspreche »nicht dem Stand der Technik«.

Und noch immer gilt in Berlin eine veraltete Smog-Verordnung, die von Umweltschützern als »Smogalarm-Verhinderungsordnung« bezeichnet wird. Bereits 1981 hatte der Umweltforscher Volker Prittwitz aufgezeigt, warum Smogalarm in Berlin oftmals gerade dann nicht gegeben wird, wenn die Luft mit bis zu 2000 Mikrogramm Schwefeldioxid pro Kubikmeter am dicksten ist: Die hohen Werte in stark belasteten Stadtvierteln würden mit Hilfe niedriger Werte aus besseren Luftvierteln gleichsam »weggerechnet«.

Zwar werden nun nicht mehr die Schadstoffwerte aus allen, sondern nur noch jene aus den hochbelasteten Innenstadtbereichen miteinander verrechnet, doch an eine Senkung der Alarmschwelle ist vorerst nicht gedacht. Im Gegensatz etwa zu Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Hessen und Rheinland-Pfalz weigert sich Berlin, die von den Umweltministern der Länder Ende letzten Jahres beschlossenen verschärften Smog-Grenzwerte anzuwenden. Berlin hatte als einziges Land gegen eine Reform der Katastrophenabwehr gestimmt.

Mit seinem Festhalten an den alten Grenzwerten, nach denen in der Stadt noch nie Alarm der Stufe II oder III ausgelöst worden ist, nimmt Vetter in Kauf, daß es Tote gibt: Bei Stufe I, wenn der Giftnebel länger als 24 Stunden anhält, ist nach wissenschaftlichen Untersuchungen mit einer statistischen »Übersterblichkeit« von drei bis vier Fällen pro eine Million Einwohner zu rechnen, bei Stufe II und III mit 15 beziehungsweise 30 Todesfällen.

Vetter hält die »ganze Grenzwert-Diskussion für ein Ablenkungsmanöver« und mag an seinem Rechenmodell nicht rütteln lassen: »Wenn wir den Smogalarm, der für die ganze Stadt gilt, auf einzelne Bezirke regionalisieren, dann haben wir da keinen Verkehr mehr, dann gibt''s Chaos.«

Mehr erhofft sich der Senator von einer Senkung der gefährlichen Emissionen bei den Verursachern, etwa bei den _(Oben: gegen die Kohlekraftwerke ) _(Buschhaus (Westdeutschland) und ) _(Vockerode (DDR), am Berliner ) _(Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße; ) _(unten: Austausch defekter Filteranlagen. )

Kraft- und Heizkraftwerken, die rund 78 Prozent des Schwefeldioxids, 68 Prozent der Staub- und Ruß-Emissionen sowie 60 Prozent aller in Berlin produzierten Stickoxide ablassen. Zu Buche schlagen aber können die vorgesehenen Maßnahmen erst in Jahren.

Schneller ginge es, wenn die Empfehlungen zweier Enquete-Kommissionen des Berliner Parlaments umgesetzt würden: beschleunigter Einbau moderner Abgasfilter, bessere Energienutzung und verbrauchsabhängige Stromtarife, Ausbau des Fernwärmenetzes und Bauprogramme zur Wärmedämmung.

Bisher jedoch, so Kommissionsmitglied und SPD-Abgeordneter Reinhard Ueberhorst, habe sich der Senat »zu stark an Wachstumsprognosen« der Energielieferanten orientiert und »die ökologisch und ökonomisch sinnvollen Einsparmöglichkeiten nicht hinreichend genutzt und gefördert«. Die Folgen seien falsche Kraftwerksplanung und Energieüberkapazitäten, die zu unnötiger Luftbelastung führten.

Solche Fehler fügen sich glatt in die Berliner Umweltpolitik seit 1981, nach Ansicht der AL »vier verlorene Jahre": *___Im Bundesrat hat Berlin, zusammen mit anderen ____Unionsländern, gegen diverse Umweltvorhaben gestimmt, ____etwa gegen eine Verschärfung der ____Großfeuerungsanlagen-Verordnung; im Bundestag votierten ____Berliner CDU-Abgeordnete für die Inbetriebnahme des ____Kohlekraftwerks Buschhaus. *___Der Senat unterließ es, Auflagen zur Entschwefelung von ____Industrie- und Kraftwerksanlagen zu verhängen; CDU und ____FDP lehnten Oppositionsanträge ab, zwecks ____Luftverbesserung Tempo 100 auf der Stadtautobahn sowie ____eine verbilligte Umweltfahrkarte für den öffentlichen ____Nahverkehr einzuführen. *___Mit seiner Struktur- und Wirtschaftspolitik ____subventioniert der Senat, wie Wissenschaftler ____ermittelten, vorrangig solche Firmenansiedlungen, die ____Wasser, Boden und Luft besonders stark belasten.

Zu den Schmuddel-Unternehmen zählt die Schwarz-Schilling-Firma »Sonnenschein«, die immer wieder von der Schlafmützigkeit ihrer politischen Aufseher profitierte. Bereits 1978, zu SPD-Zeiten, hatte die Umweltverwaltung bleivergifteten Schnee ausgemacht; das Bundesgesundheitsamt maß auf einem Spielplatz am Werkzaun eine dreitausendfache Überschreitung der erlaubten Konzentration des gefährlichen Schwermetalls.

Jahrelang jedoch durfte die Werksleitung ungestraft Sicherheitsauflagen verschleppen.

Als in den letzten Wochen Umweltwissenschaftler und amtliche Stellen wiederum Extremwerte im Boden rings um »Sonnenschein« feststellten, wiederholte sich die hilflose Reaktion der Aufseher. Zur Betriebsschließung, wie von Anwohnern, AL-Vertretern und SPD-Politikern verlangt, fehle die rechtliche Handhabe, argumentierte Vetter.

Als Ende Januar dann TÜV-Untersucher dicke Bleistaubschichten aus einer wieder mal defekten Filteranlage kratzten, ordnete die Behörde immerhin eine vorübergehende Teilstillegung an. Bei derart massiven Befunden, so Senator Vetter nun auf einmal, »kommt es mir nicht auf juristische Absicherung an«. Mitte Februar schließlich, das Werk lief längst wieder, beschlagnahmten Staatsanwaltschaft und Polizei Firmenakten »wegen Verdachts von Umweltdelikten«.

Viel lieber als mit der heimischen Wirtschaft legt sich der Senat mit Umweltsündern im Osten an. Publikumswirksam brandmarkte CDU-Mann Diepgen etwa die Autofahrer von Ost-Berlin: Auch wenn eines Tages im Westen alle mit Katalysator fahren, so der Regierende, »dann stinkt der Trabbi am Prenzlauer Berg wahrscheinlich immer noch«.

Diepgens Attacke auf das DDR-Volksfahrzeug Trabant, ein blau qualmendes Stinkmobil, brachte jenseits der Mauer die Verantwortlichen in Rage. Der stellvertretende Ministerratsvorsitzende und Minister für Umweltschutz, Hans Reichelt, konterte, westliche Viertakter bliesen zehnmal mehr Stickoxide in die Luft als der Zweitaktmotor des Trabant. Und überhaupt, West-Berlin belaste die Luft des Ostteils der Stadt viel stärker als umgekehrt.

Woher der Wind auch weht - der Großteil der aus den Schornsteinen entweichenden Schwefelgase der West-Berliner Wirtschaft landet in der Tat jenseits der Mauer. Bei den vorherrschenden westlichen Windlagen kommt auch noch dicke Luft aus Westdeutschland über die DDR-Bewohner, vor allem aus dem Ruhrgebiet und aus Kraftwerken an der Grenze bei Helmstedt.

Daß ebendort, in Buschhaus, nach dem Willen des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU) die größte westdeutsche Dreckschleuder ans Netz gehen soll, mit Auswirkungen auch auf die Berliner Luft, ist im Wahlkampf noch einmal zum Thema geworden: In Sachen Buschhaus, kritisiert Apel, habe Diepgen mit seinem Parteifreund Albrecht »nur telephoniert«.

Gern zitieren Berliner SPD- und AL-Wahlkämpfer auch aus einem Brief Albrechts an eine junge Mutter aus Braunschweig, die ihm mitgeteilt hatte, daß die Stadtluft ihre Kinder an Pseudo-Krupp habe erkranken lassen. Sie möge doch, schrieb der Christdemokrat ihr im Juni letzten Jahres, zum »Wohl Ihrer Kinder« einfach Braunschweig verlassen und »aufs Land ziehen«.

Den eingemauerten West-Berlinern helfen solche Ratschläge schon gar nicht. Denen bleibe, kommentierte bissig das christliche »Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt«, nach Inbetriebnahme von Buschhaus vielleicht nur die Umsiedlung gen Westen.

»Möglicherweise«, schrieb die Kirchenzeitung, »bietet jener Ministerpräsident ihnen ja ökologisches Asyl in der Lüneburger Heide an.«

Oben: gegen die Kohlekraftwerke Buschhaus (Westdeutschland) undVockerode (DDR), am Berliner Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße;unten: Austausch defekter Filteranlagen.

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