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JAPAN Im Sog der Offensive Chinas

Erst schockte der amerikanische Präsident Nixon Japan mit seiner Chinapolitik. Jetzt schockt Japans neuer Premierminister Tanaka Amerika mit dem Tempo seiner eigenen Chinapolitik. Ein Ausgleich zwischen Japan und der Volksrepublik China aber könnte das gesamte Sicherheitssystem der Vereinigten Staaten in Ostasien in Frage stellen. Selbst der japanisch-amerikanische Sicherheitspakt wäre für die Japaner entbehrlich.
aus DER SPIEGEL 37/1972

Richard Nixon, 59, heute Staatsmann, früher Tricky Dick genannt, wandte einen Psycho-Trick an. Als er am vorigen Donnerstag auf der Hickam Air Force Base (Hawaii), also auf halbem Weg zwischen den USA und Japan, den neuen japanischen Premier Kakuei Tanaka, 54, begrüßte, appellierte er an ein Gefühl, das die Beziehungen beider Länder seit Kriegsende so sehr beflügelt hatte: Japans Schuldgefühl.

Nicht weit von der Hickam Air Force Base nämlich, so der amerikanische Präsident nach dem Händedruck, habe Japan vor drei Jahrzehnten die USA in den Krieg gezogen -- mit dem Überfall auf Pearl Harbor.

Japan-Premier Tanaka schickte den Appell ans schlechte Gewissen retour: Er sei gekommen, eine »neue Ära des ständigen Dialogs« einzuleiten. Die Betonung lag auf ständig. Verklausuliert gab der Japaner seinem Gegenüber damit zu verstehen, er wünsche keine Nixon-Schocks mehr.

Nixons Schocks für Japan waren die vor neun Monaten erzwungene Aufwertung des Yen zum Schutz der US-Wirtschaft, mehr aber noch die verletzende Heimlichtuerei bei Washingtons Kontaktaufnahme zu Peking. Doch nicht, um diese Schocks bei den Japanern zu lindern, hatte der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika nach Hawaii gebeten. Nixon selbst ist Tanaka-geschockt.

Den Wahlkämpfer Nixon quält nicht nur das gewaltige Defizit im Handel mit Japan -- etwa 3,4 Milliarden Dollar. (Als Gastgeschenk erhielt er Tanakas Zusage für Sofortkäufe in Höhe von einer Milliarde Dollar.) Ihn beunruhigt vor allem das geradezu unasiatische Tempo, mit dem Tanaka, Japans »Bulldozer mit Computergehirn« (so seine Parteifreunde), in erst zwei Monaten Amtszeit auf Frieden und Freundschaft mit Maos China zusteuert. Fast scheint es, als werde Tokio noch vor Washington diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China aufnehmen.

Das Treffen der beiden Staatsmänner im sechsten Stock des Kuilima-Hotels am Strand von Oahu zeigte, wie dramatisch sich das Verhältnis USA-Japan verändert hat. Zum erstenmal seit Kriegsende kam ein japanischer Neu-Premier zu seinem Antrittsbesuch nicht nach Washington, zum erstenmal hatte nicht er, sondern der Präsident des mächtigen Amerika um das Rendezvous gebeten.

Japan, dritte Wirtschaftsmacht der Welt, in Asien ungeliebt, von Amerika gekränkt, ist auf dem Weg zur beherrschenden politischen Macht im pazifischen Raum. Noch vor kurzem waren die Japaner als Wirtschaftsfetischisten verschrien, als politische US-Mündel deklassiert. Doch inzwischen sind sie selbstbewußter geworden. Linke und Intellektuelle stellen die Segnungen der westlichen Zivilisation, die Industrialisierung und ihre Folgen für Umwelt und Gesellschaft, in Frage. Nostalgie und panasiatischer Nationalismus regen sich in allen sozialen Schichten: von den völkischen Rechten, die Asien für die Asiaten zurückerobern wollen, über die Schöngeister und Phantasten, die eine Rückbesinnung auf »Yamato Damashii«. den Geist Nippons. ersehnen, bis hin zu den jungen radikalen Linken, die den Vorsitzenden Mao als Idol verehren.

Und unaufhaltsam, so scheint es, hat in der letzten Zeit bei Volk und Führern eine »Wir sind doch wer«-Stimmmung um sich gegriffen. Denn Moskau wirbt in Tokio, um der chinesischamerikanischen Verständigung das Gewicht zu nehmen. Den Chinesen liegt daran, Moskaus Einfluß zu bremsen, und Washington sieht bereits das Schreckbild einer Achse zwischen den Gelben in Peking und in Tokio in seinem Schutzbereich aufdämmern.

Tanaka-Vorgänger Sato hatte sich in Peking angebiedert, sich aber nur Abweisungen geholt. Seit Satos Abgang im Juni hat umgekehrt Peking die Initiative ergriffen. Tanaka ist den Chinesen genehm, Seither scheint Japan in den Sog einer diplomatischen Offensive Pekings zu geraten.

Mitte Juli tanzte ein Ballett aus Schanghai vor versammelter Polit-Prominenz im Nissei-Theater in Tokio. Ballettmeister Sun Ping-hua überbrachte halbamtliche Grüße vom Festland. Als japanische Flugzeuge die Tanzkünstler nach Schanghai zurückflogen. waren auch die Präsidenten der beiden japanischen Fluggesellschaften »Japan Air Lines« (JAL) und »All Nippon Airways« (ANA) an Bord, um in Peking über die Aufnahme einer direkten Flugroute zu verhandeln.

Angesichts des zu erwartenden regen Flugverkehrs eine begrüßenswerte Einrichtung: Die augenblickliche Route führt über Hongkong und dauert drei Tage. Eine Direktverbindung Tokio-Peking wäre eine Sache von drei Stunden.

Mitte August reiste der stellvertretende Vorsitzende des Normalisierungsrats der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP), Hideji Kawasaki, als Sendbote Tanakas und seines Außenministers Ohira zum Gedankentausch mit Pekings Führern in die Volksrepublik. Tags zuvor waren sieben Spitzenmanager der Mitsubishi-Gruppe in Maos Reich eingetroffen.

Eine Woche später jetteten auf Einladung der Chinesen Präsident und Delegation der japanischen Telephon- und Telegraphengesellschaft »Kokusai Denshin Denwa« nach Peking, um ein großes Ereignis vorzubereiten: den für Ende September oder Anfang Oktober geplanten Besuch des Japaners Tanaka bei Tschou En-lai.

Und am selben Tag, als Tanaka mit Nixon auf Hawaii zusammentraf, startete der Chef der China-Abteilung im Gaimusho, dem japanischen Außenamt, mit Polizeibeamten und einer Delegation aus den Ministerien für Transport und Fernmeldewesen nach China, um das technische Fundament für den Gipfel zu bereiten.

Das bisherige Vater-Sohn-Verhältnis zwischen den USA und Japan schien dem Nachrichtenmagazin »Newsweek« daher so anachronistisch, wie wenn man »einen Hochschulabsolventen wieder in die kurzen Hosen stecken wollte, die er als Knirps getragen hat«. »Sturmwolken über Honolulu« sichtete denn auch die amerikanische Presse vor dem Nixon-Tanaka-Gipfel. Gemeint waren Taiwan und der US-japanische Sicherheitspakt.

Amerika will, trotz seiner Verständigung mit Peking, seine Verpflichtung aufrechterhalten, das Regime Tschiang Kai-schek auf Taiwan und notfalls auch Südkorea -- gegen Angriffe Chinas oder Rußlands zu verteidigen. Zu diesem Zweck hatte Japans damaliger Premier Eisaku Sato 1969, beim Abkommen über die Rückgabe Okinawas, den USA die Benutzung von japanischen Stützpunkten in Japan erlaubt.

Nun aber zeichnet sich ein Handel ab, der das gesamte komplizierte Sicherheitssystem der USA in Ostasien in Frage stellt: Um mit China ins reine zu kommen, scheinen die Japaner heute bereit, von Taiwan abzurücken. Wenn China mithin den von Japan erstrebten Friedens- und Freundschaftsvertrag schließen soll, müßte Japan seinerseits den 20 Jahre alten Friedensvertrag mit dem US-Protegé Taiwan annullieren. Für wirtschaftliche Nachteile, die daraus entstehen würden, will China die Japaner entschädigen, indem es auf seine Reparationsforderungen -- schätzungsweise 50 Milliarden Dollar -- verzichtet.

Der Sicherheitsvertrag mit Amerika in seiner jetzigen Form mußte dabei nicht angetastet werden, versicherten Tanaka und Ohira mehrmals. Sie versicherten es kürzlich Nixons Kissinger, sie versicherten es erneut auf Hawaii. Doch ein Ausgleich zwischen Peking und Tokio macht diesen Vertrag für Japan im Grunde entbehrlich: »Wenn keine Atomwolken in der Luft hängen«, schloß ein japanischer Diplomat. »braucht man keinen Atomschirm mehr.«

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