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STAMMHEIM Jedem bewußt

Alle für Stammheim Verantwortlichen wußten, daß die vier RAF-Häftlinge suizidgefährdet waren. Doch sie fanden kein Mittel, die Selbstmorde zu verhindern.
aus DER SPIEGEL 46/1977

Wir sind alle nicht frei von Versäumnissen und deshalb von Schuld«, sagte Helmut Ensslin, der pensionierte schwäbische Pastor nach der Selbsttötung seiner Tochter Gudrun, »und da nehme ich auch die verantwortlichen Politiker und die Polizei nicht aus.« Die »akute Selbstmordgefahr« sei »jedem bewußt« gewesen.

Tatsächlich wußten alle, die mit den Stammheimer Häftlingen dienstlich zu schaffen hatten, daß bei den RAF-Gefangenen zumindest eine »latente Suizidgefahr« (Anstaltsarzt Dr. Helmut Henck) bestand.

Nicht nur Psychiater Henck, in ständigem Kontakt mit Baader, Raspe, Möller und Ensslin, erkannte »Unruhe und manchmal tiefe Depressionen« bei den Häftlingen. Auch ein Beamter des Bundeskanzleramtes, der am 17. Oktober noch mit Baader sprach, fand ihn »innerlich erregt und nervös« und glaubte, daß ihm »der Wechsel der Hoffnung und Enttäuschung innerlich sehr zu schaffen machte«.

Zwar brachte jetzt keiner der Häftlinge das Wort »Selbstmord« über die Lippen oder aufs Papier. Doch sowohl Baader als auch Raspe und Ensslin sprachen und schrieben immer wieder, wie sich jetzt in der Bonner Dokumentation zum Fall Schleyer und den Vorgängen in Stammheim nachlesen läßt, von »einer irreversiblen Entscheidung«. Jan-Carl Raspe kündigte am 27. September einem Beamten des Bundeskriminalamtes (BKA) an, bei einer »polizeilichen Lösung« der Entführungsfälle sei eine »politische Katastrophe« programmiert, nämlich »tote Gefangene«.

Knapp zwei Wochen später wurde Andreas Baader deutlich: Die Bundesregierung werde »in Stunden oder Tagen« schon »nicht mehr über die Gefangenen verfügen können«, falls die »Potenzierung der Isolation seit sechs Wochen« kein Ende nehme.

»Ein lebendiger Hund ist immer noch besser als ein toter Löwe«, hatte ein BKA-Mann nach Prediger Salomo Raspe am 9. Oktober zu bedenken gegeben, aber die Stuttgarter Sicherheitsorgane andererseits auch über alle dunklen Andeutungen der Gefangenen unverzüglich informiert.

»Nicht ital »ne Woche« gab Gudrun Ensslin am selben Tage sich und ihren Genossen bei einem Gespräch mit einem BKA-Beamten noch Frist, »dann werden wir, die Gefangenen in Stammheim« Schmidt die Entscheidung aus der Hand nehmen ... als Entscheidung über uns.« Es dauerte dann nur noch acht Tage. In der Nacht zum 18. Oktober brachten sie sich um.

Auch früher schon hatten RAF-Häftlinge damit gedroht, Selbstmord zu begehen, sagt man heute im Stuttgarter Justizministerium. Gudrun Ensslin zum Beispiel hätte 1975 in einem Kassiber, der bei der Rechtsanwältin Marieluise Becker gefunden worden war, den Genossen vorgeschlagen, »mehrere Gefangene« sollten sich »nacheinander umbringen« -- damals, um ihre Hungerstreikforderungen durchzusetzen.

Eine wirksame Verhinderung von Selbstmorden, so legte es die Strafvollzugsabteilung des Stuttgarter Justizministeriums noch am 10. Oktober in einem Aktenvermerk nieder, sei »unter den gegebenen Umständen nicht möglich«. Traugott Bender, damals noch auf seinem Sessel, mochte sich nicht abfinden und gab die Order aus: »Es muß alles Vertretbare veranlaßt werden, um einen Suizid zu verhindern.«

Tatsächlich aber war die Situation vertrackt. Denn was nötig erschien, war nicht möglich, und was möglich war, schien nicht vertretbar. Wo immer sonst im bundesdeutschen Strafvollzug Anzeichen dafür sichtbar werden, daß ein Häftling womöglich Hand an sich legen könnte, wird er normalerweise mit anderen, psychisch stabileren Inhaftierten zusammengelegt -- in Stammheim ein Unding.

Die RAF-Gefangenen etwa mit anderen Kriminellen der Anstalt zusammenzubringen verbot sich von selbst. Denn gerade dies zu vermeiden, war das erklärte Ziel des seit Jahren mühsam durchgehaltenen Vollzugsplans, weil andernfalls jede Abschirmung von Kontakten und Kassibern undurchführbar erscheinen mußte. Baader und Co. hatten eine Verlegung gewöhnlicher »Knackis« in ihre Polit-Etage auch selber rundweg abgelehnt -- aus Sorge, man könnte sie ausspionieren.

Die Stammheimer untereinander zusammenzulegen verbot wiederum die verhängte Kontaktsperre. Daß sie ohnehin wirkungslos war, weil Raspe längst die nötigen Kabel installiert hatte, wußte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Sinnlos aber wäre die gemeinsame Unterbringung der RAF-Häftlinge auch deshalb gewesen, weil sie offenbar alle zum Suizid entschlossen waren und sich daran gegenseitig also auch nicht hätten hindern können.

Die Unterbringung in einer Beruhigungszelle ein auch andernorts umstrittenes Hilfsmittel für kritische Momente -- ist allenfalls nur kurzfristig zulässig, zum Abklingen etwa eines Emotionsstaus in einer hochgradig depressiven Phase, Beim Stammheimer RAF-Quartett war davon keine Rede, und Anstaltsarzt Henck lehnte die Beruhigungszelle zum vorbeugenden Suizidschutz in der konkreten Situation des Entführungsfalls Schleyer denn auch ab.

Gelegentliche Zellenkontrollen -- stündlich oder halbstündlich -- hätten kaum mehr als Alibifunktion haben können. Denn wer zum Letzten entschlossen ist, findet dafür auch den richtigen Zeitpunkt. Eine ständige Überwachung der Gefangenen hätte andererseits ständige Beleuchtung ihrer Zellen erfordert -- folglich auch nachts. Anstaltsarzt Henck hatte darauf verwiesen, daß eine solche Maßnahme den durch die Kontaktsperre bedingten psychischen Druck auf die Häftlinge nur noch verschärft hätte.

Wäre eine solche Überwachung »bei den inhaftierten Terroristen einige Tage oder Wochen durchgeführt worden«, gibt auch Rupert Hauser, Sprecher des Stuttgarter Justizministeriums zu bedenken, »so wäre unweigerlich -- und nicht ganz ohne Grund -- der Vorwurf der Folterung und des Psychoterrors erhoben worden«.

Der inzwischen geschaßte Stammheimer Anstaltsleiter Nusser hatte am 10. Oktober dem später seinerseits abgängigen Justizminister geschrieben: Nächtliche Kontrollen wären allenfalls wirkungsvoll, wenn sie lückenlos wären, was ständiges Öffnen der Essensklappen und damit einerseits das Ermöglichen ungehinderter Kontaktaufnahmen sowie ständige Beleuchtung der Zellen ... damit praktisch die Verhinderung jeden Schlafs und somit andererseits eine unerträgliche Verschärfung der Situation voraussetzen würde ... Derartige Maßnahmen könnten auch nach ärztlicher Ansicht möglicherweise geeignet sein, eine unter Umständen gegebene Selbstmordgefahr zu vergrößern.

Nusser-Fazit: »Eine wirksame Selbstmord-Verhinderung der völlig zu isolierenden Gefangenen ist nicht möglich.« Bleibt die Frage, ob sie überhaupt nötig und gerechtfertigt gewesen wäre. Die Einsichts- und Urteilsfähigkeit eines Gefangenen, die eine freie Entscheidung über Leben und Tod erst möglich macht, ist auch in Haftsituationen sicherlich nicht in jedem Falle vermindert oder ausgeschlossen. Die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber den ihm anvertrauten Häftlingen entzieht jedenfalls den Gefangenen nicht das jedermann zustehende Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben.

Auch aus dem Sinn und Zweck des Strafvollzuges läßt sich kein Recht oder gar eine Pflicht zur Selbstmordverhinderung herleiten. Der Vergeltungsgedanke ist heutzutage kein eigenständiges Vollzugsziel mehr, aus dem sich etwa folgern ließe, ein Verurteilter dürfe sich der Strafverbüßung nicht durch Selbsttötung entziehen.

Schließlich berechtigt auch der generalpräventive Abschreckungscharakter der Strafe den Staat nicht etwa dazu, einen Häftling länger, als der es selber will, am Leben zu erhalten. Und Resozialisierung, normalerweise das vorrangige Vollzugsziel auch im Interesse des Häftlings, ist für den Selbstmörder offensichtlich kein Ausweg.

»Ein Recht der Vollzugsverwaltung«, schreibt der Berliner Strafrechtsprofessor Joachim Wagner in einer einschlägigen wissenschaftlichen Expertise, »einen Freiverantwortlichen ... an seinem Suizid zu hindern, läßt sich ... nicht deduzieren ... Jeden und unter allen Umständen von einem Selbstmord abzuhalten, heißt, einem falschen Humanismus zu huldigen.«

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