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DEMONSTRATIONEN »Jeden Tag eine böse Tat«

Bauarbeiter besetzen den Reichstag, Bergarbeiter stürmen die Bannmeile, Bauern blockieren Atomtransporte - der wildgewordene Widerstand gegen die Bonner Regierung.
aus DER SPIEGEL 12/1997

Während letzte Woche die Bergarbeiter vor den Toren mit Ketten rasselten, warfen sich innerhalb des Hohen Hauses die Abgeordneten die Wahrheiten an den Kopf. Der Rechtsstaat drohe zu zerbrechen, warnten Redner der Regierungsfraktion, wenn »die Straße« das Handeln diktiere, so wie es in den vergangenen beiden Wochen in Gorleben und im Bonner Regierungsviertel versucht worden sei.

Die 665 Strafanzeigen gegen Castor-Demonstranten waren der Anlaß der Debatte, aber sie wurde zu einer Auseinandersetzung über den neuen Widerstand in Deutschland. Als versuchten sie, den Blockierern des Atomtransports nachzueifern, hatten die Bauarbeiter und Kohlekumpel Autobahnen gesperrt, Polizisten überrumpelt, Rathäuser besetzt. Ganz normale Menschen waren plötzlich auf seltsame Ideen gekommen.

»Wäre dumm, wenn so ein riesiger Autokran Hydraulikschaden hat, mitten auf dem Potsdamer Platz«, sagte sich zum Beispiel der Berliner Bauarbeiter Klaus Hosemann. »Aber es soll ja vorkommen.«

Vieles kommt vor. Daß am Montag der Sicherungskasten bei Debis am Potsdamer Platz plötzlich defekt war und die Grube voll Wasser lief, kommt vor. Oder daß kreative Baumaschinenfahrer die berühmten »Kräne auf Europas größter Baustelle« einfach ausknipsten.

»Das hat allet eine neue Qualität«, sagt Hosemann, der seit 27 Jahren Bauleitung macht und aus der Berliner SPD austrat, als er sah, wie ein damaliger Baustadtrat im Puff in der Waitzstraße mit lokalen Baugrößen die Pfründen aushandelte. In der Gewerkschaft ist Hosemann seit vier Wochen: »Bin ick damals aus Faulheit nicht rein. Aber jetzt, wenn ich eine halbe Stunde in der Grube rumrennen muß, um einen zu finden, der deutsch redet ...« Wenn er sieht, wie ausgerechnet die Regierungsgebäude mit Subunternehmen gebaut werden, »zu Sklavenlöhnen«, während 17 000 Berliner Bauarbeiter die »Zeugen Jagodas« spielen müssen - »dann reicht Verhandeln nicht mehr. Dann müssen wir eskalieren«.

Deswegen Hosemanns Plan. Wenn der Hydraulikkran erst mal seine Panne hat, kann er auch gleich ein Plakat hochziehen: »Für Mindestlohn« soll draufstehen oder »Kohl muß weg« oder »Schnauze voll«. Was die Kollegen eben gern rufen dieser Tage.

Hosemann hat diese Woche blau gemacht, steht die Nächte bei der Mahnwache durch und läuft morgens bei den Besichtigungen mit.

Er liebt freche Aktionen, fährt jeden Tag nur zum Spaß durchs Brandenburger Tor - »weil es verboten ist« - und hat an seinem Blaumann ein Schild: »Böser Buben Club.«

Motto: »Jeden Tag eine böse Tat.«

So eine Art kriminelle Vereinigung?

»Noch nicht. Mal sehen, wat passiert. Aber dann nur als e. V.«

Fernsehen habe »ja ooch wat Jutet«, sagt Hosemann, »man lernt wat«. Man trillert wie die in Belgrad, klemmt Kabel ab wie die von Greenpeace und hat mitbekommen, wie Kreuzungen straftatbestandsfrei besetzt werden: »Einfach im Kreis rumlaufen. Solange ich mich bewege, blockier' ich nicht.«

Maurerlehrlinge setzen die Gewerkschaftskappen verkehrt herum auf wie Hip-Hop-Kids und pöbeln die Polizisten in ihren dieselnden Kleinbussen an: »Umweltverschmutzer!« brüllten sie, das Dosenbier in der Hand. Als sei das die schlimmste Beleidigung in diesem Land.

»Auf dem Bau«, sagt Hosemann, »bin ick dazu da, Probleme zu lösen. Und nicht, um zu erklären, weshalb etwas nicht lösbar ist.« In jedem Bauarbeiter steckt folglich ein Sponti. Man muß ihn nur lassen.

Auch die IG Bau hat zum erstenmal im Handbuch der subversiven Aktion nachgeschlagen. Regel Nr. 1: »Wir wissen von nichts. Aber tut, was ihr tun müßt, Kollegen.« Seid spontan, doch erwartet nicht, daß man euch per Mikro dazu auffordert. Nachdem der Oberordner sich erkundigt hat, ob Handys abhörsicher sind, wird Wichtiges übers D1-Netz geregelt.

Für den Notfall gibt's die getarnte Sicherheitstruppe »Top und Flop«. Denn was auch vorkommt, ist der Satz: »Wir Deutschen demonstrieren, und die Polacken arbeiten.« Klaus Hosemann sagt dann: »Idioten gibt es überall.« Und gesoffen wird auch ganz schön.

Am Donnerstag morgen ist aus Hosemanns Plan dann doch nichts geworden: »Die Kumpels haben gekniffen. Versteh' ick. Wenn die Kündigung auf dem Tisch liegt, ist das nicht mehr so lustig. Aber wir haben es probiert. Das zählt.«

Als der Kran eigentlich planmäßigen Hydraulikschaden haben sollte, stehen die IG-Bauarbeiter am Zaun der Sony-Baugrube. Plötzlich liegt der Bauzaun am Boden. Kommt vor. »Liebe Arbeiter«, spricht die Polizei, »lassen Sie uns Ihr Anliegen weiterführen. Bitte gehen Sie weiter.«

»Los, macht die Baustelle dicht«, megaphont ein bärtiges Unikum. »Nee«, brüllt ein anderer, »zur SPD-Zentrale, haben sie gesagt.« Es nieselt. Bei der SPD soll's Kaffee geben, und außerdem müßte man sich, um in die Grube zu steigen, an den Polizeiuniformen vorbeidrängeln. Aber dann liegt der Bauzaun so verlockend platt am Boden, und wenn man schon mal da ist - und dann gehen sie in die Grube mit ihren durchweichten roten Fähnchen und machen die Baustelle dicht. Spontan und ohne Plan.

»Wir sind nicht berechenbar«, lautet die Botschaft in diesen Tagen beim Protest in Gorleben, Bonn oder Berlin: »Wir sind viele, wir sind wütend, und wir können auch anders, als die Gewerkschaft will.«

Darum gilt es zu klären, ob Karl-Heinz Jünger und seine Kollegen von der saarländischen Zeche Warndt-Luisenthal eigentlich Idioten sind. Manchmal meinen sie nein und manchmal ja.

In einem Kopf ohne Schlaf wirbeln die Sätze durcheinander, da bohren sich Wörter fest wie »Erpressung« und »Provokation« und dann wieder »Feigheit«. Das alles muß man neu sortieren, denn es ist einiges durcheinander geraten in diesen zornigen Tagen von Bonn.

Jünger ist jetzt 40 und dabei ganz plötzlich radikaler geworden und wundert sich selbst ein bißchen, aber Spaß, so sagt er, mache das schon. Es sei »nichts Besonderes mehr«, eine Durchgangsstraße wie die B 9 im Bonner Regierungsviertel dichtzumachen. Kein Zögern mehr, am Dienstag abend ist er einer der ersten, die blockieren. Weil er ja kein Feigling ist. Und weil er hofft, daß die Frau und die drei Kinder ihn in der »Tagesschau« sehen.

Seit Jahren kriegt er zu hören, daß sich die Republik ihn und seine Arbeit nicht mehr leisten könne - mit rund 120 000 Mark pro Jahr sei sie derzeit subventioniert.

Er lächelt dann immer so ein bißchen, weil er ganz andere Zahlen kennt. Und weil das immer so klingt, als ob sie Hätschelbabys seien, die nur dasitzen und die Hand aufhalten. Dann denkt er an seine Wirbelsäule und an den üblen Tag 1988, als ihm da unten ein paar Kilo Kohle und Geröll ins Kreuz geflogen sind. Er hat Glück, daß er lebt.

Selbstverständlich ist er nach Bonn gefahren, »um Druck zu machen«. Und als er dann dastand vor der FDP-Zentrale, den blauen Grubenhelm auf dem Kopf und die weiße Wolldecke unterm Arm und dieses verlorene Lächeln im Gesicht, da kam plötzlich ein neues Gefühl auf, das trägt er seitdem mit sich herum: Verachtung, scharfen Unwillen gegen diejenigen, die sich von Führern und Funktionären alles sagen lassen, die folgen wie die Schafe.

»Geht nach Hause«, hatte Gewerkschaftschef Hans Berger befohlen, und mehr als 10 000 Bergleute aus dem Ruhrgebiet zogen tatsächlich ab. Jünger blieb, seine saarländischen Kumpel blieben auch.

Tagelang hatten sie diese Bilder im Fernsehen gesehen: Gorleben. Da saßen diese Milchbärte unter Wasserwerfern; entschlossene Leute, die nicht einfach nach Hause gingen, wenn jemand sagte: Jetzt ist Schluß.

Man hat viel Zeit zu überlegen, wenn man so eine Nacht lang dasteht, am Absperrgitter zur Bannmeile, immer mit dem Gesicht zum Parlament. Mißtrauen hat der Bergmann Jünger mitgebracht aus dieser Nacht. Und den Gedanken, daß er jetzt vielleicht weiß, wie Politik gemacht wird.

Wären er und seine Kumpel so ordentlich und gesittet durch Bonn gezogen, wie das am 1. Mai üblich ist, wären sie wahrscheinlich als zukünftige Arbeitslose nach Hause gefahren.

Das Herumrennen mit einem Transparent in der Hand kann niemanden mehr beeindrucken, und darum gehen solche Demonstranten wie Mihai Dobberthien schon lange nicht mehr auf solche »Latsch-Demos«. Der 26jährige Handwerker aus dem Teutoburger Wald will, daß man ihn wirklich sieht und hört, und so kam es, daß er sich am 3. März gegen 17 Uhr an der Eisenbahnstrecke Lüneburg-Dannenberg einfand und auf einen Betonklotz im Gleisbett stieß. Wer den da eingepaßt hatte, weiß Mihai bis heute nicht, jedenfalls sagt er es.

Die beiden Röhren im Klotz boten Platz für den Arm von Mihai und den Arm seines Freundes Udo. Am Ende dieser Röhren war eine Stahlschlaufe, und an der ketteten sie sich an.

Zwei Menschen lägen im Gleisbett, teilten die beiden Blockierer über ein Handy der Polizei mit; die könnten sich nicht selbst befreien, und darum könne leider der Zug, der vor kurzem den Bahnhof Lüneburg verlassen habe, diese Stelle in der Nähe von Dahlenburg nicht passieren.

Es dauerte nur fünf Minuten, bis die Staatsmacht über die beiden Angeketteten kam. Hubschrauber hingen über ihnen, gepanzerte Polizisten umstellten sie, Bundesgrenzschützer zerrten an ihnen herum, Befehlshaber brüllten sie an. Panikmacher in Uniform drohten, den Arm zu amputieren.

Während stumme Männer mit Preßlufthämmern dem Beton rund um seinen Arm zu Leibe rückten, hatte Mihai drei Stunden Zeit, über diesen Atomzug nachzudenken, dessen Lok er in 50 Metern Entfernung warten sah; über die Pflicht, die er empfindet, die Atomkraft zu bekämpfen, weil sie die Menschheit bedroht; über das Widerstandsrecht, daß er sich selbst gibt, weil er glaubt, die Mehrheit der Deutschen hinter sich zu wissen und die zukünftigen Generationen sowieso; über die Strafe, die er sich einhandeln könnte.

Als sie ihn schließlich befreit hatten von seinem Klotz, war sein linker Arm taub und ramponiert vom Preßlufthammer. Als der Atomzug vorbeirollte, war er nicht enttäuscht, sondern glücklich. Ihm reichte die Gewißheit, alles getan zu haben, was er konnte; nicht wieder nur irgendwo gesessen zu haben und sich verprügeln zu lassen wie bei den beiden Castor-Transporten davor; sondern ein halbes Jahr lang über eine Tat nachgedacht zu haben, die beweist, wie ernst es ihm ist mit seinem Protest gegen die Weltvergiftung.

Angesichts ihrer großen Existenzängste müsse man bewundern, sagte der SPD-Abgeordnete Otto Schily in der Bundestagsdebatte, wie friedlich die Kohlekumpel demonstrierten. Und das veranlaßte den FDP-Generalsekretär, vor einer »Demontage des Rechtsstaates« durch Bergarbeiter und Castor-Blockierer zu warnen.

Aber: Der nächste Castor soll nicht nach Gorleben rollen, und die Bergarbeiter stehen als Sieger da - das wird wohl, hofft Dobberthien, auch andere Verzweifelte ermuntern, aus ihren Demonstrationen wieder mehr zu machen als eine folgenlose Veranstaltung latschender Mahner.

Alexander Smoltczyk, Barbara Supp

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