Zur Ausgabe
Artikel 63 / 116

Indien Jeder Schatten ist verdächtig

Von Tiziano Terzani
aus DER SPIEGEL 34/1995

Schöner kann eine Landschaft kaum sein. Das Kaschmir-Tal, ein Amphitheater des Himalaja, erscheint dem Besucher wie ein seltenes Beispiel natürlicher Vollkommenheit. Seine Berge verlieren sich in schimmernden Höhen, seine Flüsse sind klar wie Glas, und in den Seen spiegeln sich Pappeln und Weiden so majestätisch wie Kathedralen.

Die Mogul-Kaiser, die im 16. Jahrhundert aus dem öden Zentralasien kamen und Indien eroberten, legten an den Ufern des Dal-Sees die schönsten Gärten Asiens an. Als Kaiser Jehangir, Vater des Erbauers des Taj Mahal in Agra, 1627 im Sterben lag und nach seinem letzten Wunsch gefragt wurde, flüsterte er nur: »Kaschmir, Kaschmir!« Ein berühmter Vers aus dem letzten Jahrhundert lautet: »Wenn es ein Paradies auf Erden gibt - dann ist es hier.«

Vorbei. Das »glückliche Tal«, wie die englischen Kolonialherren es nannten, wurde zu einem Tal der Angst und des Terrors. Seit sechs Jahren ist Kaschmir Schlachtfeld in einem grausamen Konflikt: Auf der einen Seite steht die indische Armee, auf der anderen eine wuchernde Guerrillabewegung, die das Land von Indien befreien will und dabei vom indischen Erzfeind Pakistan unterstützt wird.

Srinagar, die Sommerhauptstadt des Staates Dschammur und Kaschmir mit ihren hölzernen Moscheen und Patrizierhäusern am Jhellum-Fluß, mit ihren Märkten, in denen Handwerker Schals, Teppiche und bemalte Kunstobjekte aus Papiermache herstellen, ist zu einem bedrohlichen Militärlager geworden.

An jeder Straßenkreuzung stehen mit Sandsäcken geschützte Bunker, aus deren Schießscharten Gewehrmündungen ragen. Schulen, Krankenhäuser, Kinos und Hotels sind vom Militär belegt; das Leben dieses »Venedigs im Himalaja«, dieser »in Diamanten gefaßten Perle«, wie Srinagar besungen wurde, ist völlig gelähmt.

Soldaten haben sich in den Gärten und alten Forts der Mogul-Kaiser eingenistet, sie haben den Schrein von 220 vor Christus besetzt, der auf einem Hügel über der Stadt wacht, sie kampieren sogar auf der künstlichen Insel im Dal-See, auf der die Mogulen bei Vollmond ihre Picknicks veranstalteten.

Touristen kommen kaum noch. Die Geschäfte sind leer, und die Bevölkerung lebt in ständiger Furcht. »Du gehst aus und weißt nicht, ob du wieder nach Hause kommen wirst«, sagt der Schriftsteller Muhammed Zahir, 55. Die Inder haben ihn vor ein paar Tagen von seinem Motorroller gezerrt und stundenlang geschlagen. »Sie wollten von mir nichts wissen. Sie wollten mir nur beweisen, daß wir kleine Fliegen sind, die sie zerquetschen können.«

Ganze Stadtviertel werden plötzlich von Sicherheitskräften abgeriegelt. Gewöhnlich beginnt die Razzia im Morgengrauen. Lautsprecher wecken die Schlafenden und befehlen den Männern, sich auf einem bestimmten Platz einzufinden. Dort muß jeder langsam an abgestellten Militärjeeps vorbeidefilieren, aus denen vermummte Gestalten äugen. Das sind die gefürchteten »Katzen": abgesprungene Guerrilleros, die jetzt als Spitzel ihre früheren Kameraden und Sympathisanten für die Inder identifizieren. Jeder Verdächtige kommt in ein Verhörzentrum, das er oft nur als Leichnam wieder verläßt.

»Eines Morgens lagen fünf Tote in meiner Gasse«, berichtet ein Geschäftsmann in Srinagar. »Einer davon war der Sohn meiner Nachbarin, der tags zuvor aus Bombay gekommen war, um seine Mutter zu besuchen.« Nach Angaben lokaler Menschenrechtler (Amnesty International verweigern die Inder den Zugang) sind seit 1989 über 1500 Menschen in der Haft umgekommen; 15 000 bis 20 000 sitzen noch ein.

Die Regierung in Neu-Delhi wendet in Kaschmir dieselbe Doppelstrategie an, mit der sie schon sezessionistische Bewegungen im Nagaland und im Pandschab erfolgreich unterdrückt hat: gnadenlose Verfolgung der bewaffneten Kämpfer, rücksichtsloses Einschüchtern der Bevölkerung.

In Kaschmir aber wirken diese Methoden nicht. Auch unter denen, die sich nichts als Frieden und Normalität wünschen, wächst der Zorn auf die Inder, die nur noch als brutale Besatzungsmacht gesehen werden. »Sobald ich wieder gehen kann, nehme ich ein Gewehr und ziehe mit der Guerrilla los«, sagt ein junger Lehrer und zeigt auf die Brandwunden, die Stromkabel auf seinen Schenkeln hinterlassen haben. Er war mit seiner kranken Frau aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen, während einer Razzia geschnappt und drei Tage lang gefoltert worden.

Niemand sieht einen Ausweg; die Furcht wächst, daß in Kaschmir schon bald ein Krieg ausbrechen könnte, der nicht nur die regionale Sicherheit, sondern die der ganzen Welt bedrohen würde. Seit fast einem halben Jahrhundert ist Kaschmir Zankapfel zwischen Indien und Pakistan, dreimal haben die beiden Länder deswegen Krieg gegeneinander geführt - und inzwischen sind sie vermutlich mit Atomwaffen gerüstet.

Das Unheil begann 1947, als London sein indisches Imperium in die Unabhängigkeit entließ. Zwei Staaten wurden aus dem alten Britisch-Indien geboren: Indien mit seiner mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung und das vorwiegend moslemische Pakistan. Den Maharadschas der 562 indischen Fürstentümer stand es frei, zwischen beiden Staaten zu wählen.

Am schwersten tat sich der Maharadscha von Kaschmir, Hari Singh. Als Hindu herrschte er über ein Völkergemisch, das zu 80 Prozent moslemisch war. Einer seiner Vorfahren hatte das Tal 1846 für 7,5 Millionen Rupien von den Engländern gekauft. Am Tag der Unabhängigkeit, dem 15. August 1947, hatte der Maharadscha noch immer keine Entscheidung getroffen. Zwei Monate lang blieb Kaschmir unabhängig. Erst als pakistanische Freischärler einfielen, um das Territorium zu annektieren, entschied sich der Herrscher für Indien.

Kaschmir wurde zum Opfer der Scheidung zwischen Indien und Pakistan, »wie ein Kind, das beide Seiten für sich verlangten«, so der pakistanische Historiker Eqbal Ahmad. Sofort kam es zu einem ersten Krieg. Ende 1947 ließ Neu-Delhi seine Armee einrücken und klagte sodann vor der Uno gegen die pakistanische Aggression. Die Vereinten Nationen schlugen einen Waffenstillstand vor, schickten Beobachter und erkannten das Recht der Kaschmiri auf Selbstbestimmung an; die Bevölkerung sollte frei wählen, wem sie sich anschließen wollte.

Doch die Soldaten blieben, die versprochene Volksbefragung fand nie statt. 41 Blauhelme der Uno befinden sich immer noch auf sieben Beobachtungsposten entlang der Waffenstillstandslinie. Nach 48 Jahren ist Kaschmir »die älteste ungelöste Streitfrage vor der Uno«, so deren Generalsekretär Butros Butros Ghali.

Kaschmirs Bewohner fühlen sich verraten. Ihr alter Traum von der Unabhängigkeit blieb unerfüllt. Wie schon seit vier Jahrhunderten werden sie weiter von Fremden regiert.

Unter all den oft grausamen Unterdrückern hatten sich die Einheimischen immer friedfertig verhalten. Gewalttätigkeit war ihrem Charakter und ihrem Bekenntnis zum Sufitum - einer mystischen Variante des Islam - fremd. Geschah dennoch einmal Mord, fürchteten sie, der Himmel werde sich rot verfärben. Sie besaßen keine Waffen, die Ruder ihrer Shikara-Gondeln waren herzförmig geschnitzt. So weibisch fand sie der Mogul-Kaiser Akbar, daß er sie lange, weite Kleider tragen ließ - wie Frauen.

Unter diesem Gewand verstecken heute die jungen Kaschmiri ihre Kalaschnikow.

Den Wendepunkt brachten die Wahlen von 1987. Die Oppositionspartei, die für die Unabhängigkeit eintrat, hätte wahrscheinlich gesiegt, wenn nicht Neu-Delhi die Ergebnisse gefälscht hätte. »Um das Recht zur Selbstbestimmung zu erhalten, blieb uns nichts anderes übrig, als zu den Waffen zu greifen«, sagt Yasin Malik, 29, Präsident der Dschammu und Kaschmir Liberation Front (JKLF), in seiner Wohnung im alten Srinagar, in die er, nach vier Jahren Gefängnis, schwer gezeichnet zurückkehrte.

Er hatte 1988 mit einer Gruppe von Teenagern und Studenten die ersten Guerrilla-Angriffe in Srinagar geführt. Noch immer ist JKLF die angesehenste Befreiungsbewegung - aber sie ist nicht mehr die einzige. Zahllose andere Gruppen sind in den letzten sechs Jahren entstanden, etliche werden von Pakistan bewaffnet und finanziert.

Zwölf Kilometer östlich von Peschawar, Pakistans Grenzstadt zu Afghanistan, steht ein unzugängliches, weiß gestrichenes Gebäude, das als Hauptquartier des »Kaschmir Dschihad«, des »Heiligen Kriegs um Kaschmir«, gilt. Hier leiten Funktionäre der fundamentalistischen »Dschamaat-i-Islami« Rekrutierung und Training der »Hisb ul-Mudschahidin«, die inzwischen zur wichtigsten Kampfgruppe in Kaschmir aufgestiegen ist. Sie verfügt über große Waffendepots und hat 4000 bis 5000 Männer im Einsatz - junge Kaschmiri, die sich über die Waffenstillstandslinie geschlichen und in Pakistan eine militärische Ausbildung bekommen haben. Ihre Anführer sind Veteranen des Afghanistan-Kriegs.

Viele arbeitslos gewordene Freiwillige aus Afghanistan werden heute vom pakistanischen Geheimdienst benutzt, um neue Guerrilla-Gruppen auszubilden, die unter verschiedenen Namen in Kaschmir operieren. Niemand weiß, wer wen kontrolliert. Denn auch die Inder haben kleine militante Gruppen zusammengestellt, die sich als Befreiungskrieger ausgeben, in Wirklichkeit aber die echten Guerrilla-Kämpfer verfolgen und ermorden.

Als die Gruppe »Al-Faran« im Juli auftauchte und fünf westliche Touristen entführte, wußte niemand zu sagen, welche Interessen dahintersteckten. Ist Al-Faran eine pro-pakistanische Gruppe, die das Kaschmir-Problem mit einer Schreckenstat vor die Aufmerksamkeit der Welt bringen will? Oder ist es eine von Indien unterstützte Gruppe, welche die Unabhängigkeitskämpfer als Terroristen diskreditieren will?

Wenn sich nach Sonnenuntergang die indischen Soldaten in Srinagar verschanzen, ist jeder Schatten verdächtig. Durch das Labyrinth der Gassen schleichen Bewaffnete, klopfen an Haustüren und verlangen Spenden für den Dschihad. Junge Kerle geben sich zum Schein als Freiheitskämpfer aus, um Bürger bestehlen und erpressen zu können. Kaufleuten in Srinagar zufolge nutzen auch indische Soldaten die Nacht, um in den Läden zu plündern.

Charakteristisch für die neuen, von Pakistan unterstützten Guerrilla-Gruppen ist, daß sie von der Dschihad-Ideologie geprägt sind. Mehr als für die Unabhängigkeit Kaschmirs scheinen sie für eine fundamentalistische Auslegung des Islam zu kämpfen. Indien, das sich als asiatisches Bollwerk gegen eine Kette islamischer Staaten von Afghanistan bis Indonesien sieht, kann deshalb die Unterdrückung des legitimen Unabhängigkeitsbestrebens in Kaschmir leicht als Abwehr einer islamisch-fundamentalistischen Verschwörung ausgeben, die auch den Westen bedrohe.

Über 30 verschiedene sezessionistische Gruppen haben sich zur sogenannten Hurriyet-Konferenz vereinigt, die sich Indien als Verhandlungspartner empfiehlt. Aber Neu-Delhi hat bis jetzt jeden Kontakt verweigert. »Die einzigen indischen Beamten, mit denen ich je zu tun gehabt habe, sind die Aufseher in den Gefängnissen«, sagt Ali Shah Gilani, 65, Vertreter der »Dschamaat-i-Islami«. Gilani hat zehn Jahre Haft hinter sich.

Shabir Shah, Vorsitzender der People's League, hat 20 seiner 40 Lebensjahre in indischen Gefängnissen verbracht und tritt heute für eine friedliche Lösung ein. »Das Gewehr ist ein Teil der Lösung, aber nicht die Lösung selbst«, sagt er in Srinagar. »Das Kaschmir-Problem muß politisch entschärft werden.« Wegen seiner gemäßigten und versöhnlichen Haltung gilt er manchen schon als Kaschmirs Nelson Mandela.

Die Mitglieder der Hurriyet-Konferenz sind zerstritten. Einige befürworten die Angliederung an Pakistan; andere fordern einen neuen Teilungsplan - das Kaschmir-Tal soll an Pakistan, der Rest an Indien fallen. Wieder andere wollen aus Dschammu und Kaschmir eine islamische Republik machen. Einigkeit besteht nur in einem Punkt: Indien muß seine Truppen abziehen.

Die Regierung in Neu-Delhi dagegen betrachtet Kaschmir als innere Angelegenheit und hält die Uno-Resolutionen über die Selbstbestimmung für überholt. Das Problem löse sich von selbst, sobald Pakistan aufhöre, das Land mit Waffen und »Söldnern« zu überschwemmen.

Offiziell hält Pakistan seine Armee aus dem Guerrilla-Krieg heraus. Wer aber heute in Muzaffarabad, der Hauptstadt des sogenannten Freien Kaschmir, auf pakistanischer Seite ankommt, merkt sofort, daß diese kleine Provinzstadt, 30 Kilometer von der Waffenstillstandslinie entfernt, zum wichtigen Stützpunkt für den Dschihad geworden ist. Im Krankenhaus werden verwundete Guerrilla-Kämpfer gepflegt, alle militanten Gruppen haben hier eine Niederlassung, und es genügt ein Telefonanruf, um einige der in Kaschmir von den Indern gesuchten Anführer zu treffen. Sie befinden sich in Muzaffarabad, weil sie Rekruten und Kriegsmaterial in Empfang nehmen.

Um das Einsickern von Untergrundkämpfern zu erschweren, verstärken die Inder ihre Granatwerferangriffe über die Grenze. Uno-Beobachtern zufolge gab es allein im Juli 150 solcher Waffenstillstandsverletzungen - die höchste Zahl seit dem Krieg von 1971.

»Indien hat sich noch nicht mit der Existenz Pakistans versöhnt«, sagt Sadar Abdul Kayum, der Premierminister von Asad Kaschmir. »Man muß damit rechnen, daß seine Truppen eines Tages die Waffenstillstandslinie überrennen, um die unfertige Geschichte der Trennung mit Gewalt zu einem Ende zu bringen.«

Eine halbe Million indische Soldaten und Polizisten ist in Kaschmir stationiert, der Krieg hat schon 30 000 Tote gefordert, in der Mehrzahl Zivilisten. In Srinagar hat jedes Stadtviertel inzwischen einen eigenen kleinen Märtyrerfriedhof. Viele sind schon überfüllt, weshalb die neuen Toten auf der riesigen Idqa-Wiese begraben werden. Über frischen Gräbern mahnt ein Schild: »Flüchtet nicht vor dem Gewehr, ihr Jungen, denn der Befreiungskampf ist noch nicht gewonnen!«

Die Allgegenwart der Gewalt und die Radikalisierung des Islam verändern die traditionelle Ethik und Lebensweise der Gesellschaft. Unter dem Druck der Fundamentalisten tragen immer mehr Frauen den Burka - einen Schleier, der den gesamten Körper verhüllt und nur für die Augen zwei kleine blattförmige Gitterchen offenläßt.

Fünfmal am Tag rufen die Muezzin zum Gebet. Die Mullahs beginnen, das Sufitum zu kritisieren, und auch die kleine Moschee in Srinagars altem Stadtviertel Kangyar, wo Generationen von Touristen das vermeintliche Grab Christi besuchten, wird heute von einem jungen Fundamentalisten bewacht, der von der alten Legende nichts wissen will.

»Alles, was wir geliebt haben, wird zerstört«, sagt eine Lehrerin in Srinagar. »Unser Schicksal ist es, daß Kaschmir mit seiner Eigenart untergeht.« Y

Der Krieg hat in Kaschmir schon 30 000 Tote gefordert

[Grafiktext]

Kartenausriß Kaschmir: Ort d. Entführung u. Fundort d. Leiche

[GrafiktextEnde]

Zur Ausgabe
Artikel 63 / 116
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten