ERHARD Jedes Wort steht
Mit dem Redetext in der Tasche lief Ludwig Erhard kreuz und quer durchs Bonner Bundeshaus. Hier freundliche Schwätzchen haltend, dort mit unheilvollem Blick Sorge ums Vaterland kündend, brummelte er vor Zeitungsleuten, er werde im Plenum das Wort nehmen, wenn Europas Schicksal es erfordere.
Des Vizekanzlers Vortrag fand nicht statt. Nach sechsstündiger Debatte über die kargen Möglichkeiten bundesdeutscher Außenpolitik im Schatten de Gaulles ging der deutsche Bundestag am Donnerstag letzter Woche auseinander, ohne ein Wort von dem Mann gehört zu haben, der nach landläufiger Ansicht vom Herbst dieses Jahres an die Richtlinien der Bonner Politik bestimmen wird.
Wie schon oft an entscheidenden Weichen seiner Laufbahn, so hatte Erhard auch diesmal hinter den Kulissen gedonnert und auf der Bühne geschwiegen.
Als der Kanzler am 16. Januar, zwei Tage nach de Gaulles Absage an England, seinen Ministern auf einer Sitzung des Kabinetts den Vertragstext vorlegte, den er mit dem französischen Freund zu signieren gedachte (FDP-Abgeordneter Kohut: »Unternehmen Bruderkuß"), weilte Erhard fern von Bonn Im Landhaus am Tegernsee.
In der folgenden Woche war er zwar anwesend, als Außenminister Gerhard Schröder seinen Kabinettskollegen über die inzwischen gelaufene Pariser Schau berichtete, aber er meldete keinen Widerspruch an.
Wenige Tage später freilich - nicht In Bonn - begehrte der Professor auf. Während in Brüssel die EWG-Verhandlungen mit England wegen des Widerstandes der Franzosen dem Abbruch zusteuerten, stellte Erhard in einer Konferenzpause seinen Thronfolge-Rivalen Gerhard Schröder zur Rede: Schröder hätte nicht zu einem so unglücklichen Zeitpunkt zusammen mit Adenauer de Gaulles Verbrüderungspakt unterschreiben und damit Frankreichs Brüsseler Taktik noch sanktionieren dürfen.
Nach dem Scheitern der England-Verhandlungen malte Erhard am Dienstag vorletzter Woche - noch in Brüssel - auf einer Pressekonferenz Europas Zukunft in den düstersten Farben.
Anderntags - unter den Augen des Kanzlers in Bonn - war Erhards Erregung verebbt. Er steckte eine Rüge Adenauers wegen der Brüsseler Schwarzmalerei ein und ließ es zu, daß Gesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt mit sanfter Hand das Kommuniqué der Kabinettsitzung von dramatischen Formulierungen säuberte.
Weniger gefügig zeigte sich Erhards Staatssekretär Professor Alfred Müller -Armack. Am Freitag vorletzter Woche ließ er den Minister brieflich wissen, er könne die Europapolitik der Bundesregierung nicht mehr billigen und müsse daher um seine Entlassung nachsuchen. Ohne Absprache mit seinem Chef gab er der Presse den Rücktrittsentschluß bekannt.
Den Vizekanzler traf die Nachricht schwer. Müller-Armack hatte seit den Zeiten des Frankfurter Bizonen-Wirtschaftsrates eng mit Erhard zusammengearbeitet. Er gab Erhards ökonomischem Glaubensbekenntnis den Namen Soziale Marktwirtschaft und half dem Professor-Kollegen manches Mal über Ungereimtheiten des Wirtschaftswunders und Klippen der europäischen Integrationspolitik hinweg.
Jetzt aber sah sich Erhard von dem Weggenossen beschämt: Nicht der Minister, sondern sein Staatssekretär hatte aus dem politischen Meinungsstreit mit Adenauer Konsequenzen gezogen.
Der Minister fühlte sich zur Aktion aufgerufen. Dabei mied er wiederum die Auseinandersetzung im Kanzlerpalais. Im kleinen Sitzungssaal des Bonner Hotels »Königshof« bullerte Erhard am Sonnabend vorletzter Woche dem Chefreporter Hans Ulrich Kempski von der »Süddeutschen Zeitung« fast eine Stunde lang Rebellisches ins Stenogramm:
- »Ich habe den Eindruck, daß der (deutsch-französische) Vertrag... noch einmal gründlich auf alle politischen, wirtschaftlichen und militärischen Aspekte und Konsequenzen hin wird überprüft werden müssen.«
- »Ich wäre bereit, einem Ruf als Bundeskanzler zu folgen, wenn meine Partei und der Bundestag dies beschließen.«
Erhards Kernsatz: Er werde seiner Konzeption von einer atlantischen Gemeinschaft statt klein-europäischer Sonderbündelei auch auf die Gefahr hin treu bleiben, daß sich die Kluft zwischen ihm und Adenauer vertiefe. »Ich werde es nicht an Deutlichkeit fehlen lassen«, verschwor sich der Minister, »um meinen Standpunkt in der Sache zu vertreten.«
Am Montag letzter Woche genehmigte Erhard die Druckfassung des Interviews zur Veröffentlichung am folgenden Tag. Abends um sieben Uhr fuhr er zur Kabinettssitzung ins Palais Schaumburg.
Der Kanzler hatte die Minister zu sich gebeten, um über die Regierungserklärung zu sprechen, die er mittwochs im Plenum des Bundestags zu verlesen gedachte. Obschon die Erklärung längere Europapassagen ganz anderer Lesart enthielt als Erhard sie im Interview vorgetragen hatte, schwieg sich der Kanzler-Anwärter über seinen bevorstehenden Coup aus.
Statt dessen ließ sich der Vize zum 66. Geburtstag von seinen Kollegen feiern. Intimfeind Adenauer gratulierte mit Kanzlerwitz: »Sehen Sie, Herr Erhard, wenn Sie doppelt so alt sind wie jetzt, dann sind Sie 132 Jahre.«
Als die Bonner Christdemokraten anderntags im Bundeshaus zur Fraktionssitzung zusammenströmten, war die Interview-Bombe geplatzt. Die Abgeordneten von CDU und CSU, sonst fast ausnahmslos begeisterte Erhard-Schwärmer, entsetzten sich darüber, daß ihr Favorit seine Fehde mit dem Staatspatriarchen so drastisch in die Öffentlichkeit gezerrt hatte.
Der Abgeordnete Professor Süsterhenn zog Erhard mit dem Prügel der Parteidisziplin eins über: »Es ist dringend nötig, daß Kanzler und Vizekanzler sich auf einer gemeinsamen Linie einigen, und das kann nur die des Bundeskanzlers sein, denn er bestimmt die Richtlinien der Politik.«
Fraktionschef von Brentano tadelte, »daß mit einigen Formulierungen in diesem Interview unserer Politik kein guter Dienst erwiesen worden ist«.
Kopfscheu geworden, retirierte Ludwig Erhard in biedermännisches Pathos: Über sein Zeitungsinterview wolle er »hier und jetzt« nicht reden. »Was ich gesagt habe, habe ich aus innerer Gewissensnot gesagt.« Und: »Da steht jedes Wort.«
Dem Kanzleraspiranten war in seiner Gewissensnot entgangen, daß inzwischen ein anderer dem ratlosen Fraktionsvolk die Richtung gewiesen hatte. Gerhard Schröders Parole, Dampf abzulassen und mit den Mitteln der Diplomatie einen Ausweg zu suchen, war von den Abgeordneten dankbar aufgegriffen worden.
Erhards Zug lief daher auch in der Kabinettsitzung am Mittwoch letzter Woche noch auf dem falschen Gleis. Er schlug auf Anraten des scheidenden Müller-Armack vor, eine Ergänzungsklausel solle sicherstellen, daß der De -Gaulle-Adenauer-Pakt erst nach Beginn neuer EWG-Verhandlungen mit den Briten in Kraft treten dürfe.
Überdies, so beantragte Erhard, möge das Kabinett die Weiterleitung des Pariser Vertrags ans Parlament um eine Woche verschieben; dann könne sich der Bundesrat, der nur alle drei Wochen tagt, erst im März mit der Vorlage befassen.
Außenpolitiker Schröder schob den Vorschlag beiseite: Eine solche Verzögerungstaktik sei unmöglich und unnötig, man verprelle damit den Präsidenten de Gaulle und erschwere einen späteren EWG-Anschluß Englands nur noch weiter.
Erhard mußte erleben, daß er bei den anderen Kabinettskollegen kaum Unterstützung fand. Nicht einmal von den FDP-Ministern kam die erwartete Hilfe.
In der Bundestagsdebatte des folgenden Tages war von Ludwig Erhard nichts mehr zu hören. Dafür zeichnete Gerhard Schröder in ziselierter Rede eigene Richtlinien der Politik. So ließ er das Hohe Haus aufhorchen, als er mit sorgsam gewählter Betonung eine Kompromißmöglichkeit andeutete, die von den Engländern im ersten Furor brüsk verworfen worden war.
»Wir müssen uns ferner fragen«, so dozierte Schröder, »ob nicht eine Zwischenlösung im Bereich der Assoziierung (Englands an die EWG) zu suchen wäre, die hineinwachsen könnte in eine volle Lösung.«
Ludwig Erhard hatte in seinem Interview gesagt: »In dieser Frage geht es nicht um eine Person, am wenigsten um meine Person.«
Es war dennoch um seine Person gegangen. Seit der vorigen Woche bläst in Bonn, demoskopischer Beliebtheitskurven ungeachtet, der Wind gegen Ludwig Erhard.
Nachfolge-Aspirant Erhard, Chef: Im Kabinett geschwiegen
Rücktritts-Aspirant Müller-Armack
Vom Gewissen getrieben