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Union Jenseits des Berges

Auf den Kanzler kommt es im Superwahljahr 1994 an - aber seine eigene Partei traut Kohl nicht mehr viel zu.
aus DER SPIEGEL 46/1993

Kurt Biedenkopf faßte das Ergebnis der Beratungen unflätig zusammen. »Ich fühle mich verarscht«, sagte der sächsische Ministerpräsident vorigen Montag am Ende der Präsidiumssitzung seiner Partei. _(* Anfang November vor der ) _(Bundestags-Enquetekommission ) _(DDR-Geschichte in Berlin mit dem ) _(Kommissionsvorsitzenden Rainer ) _(Eppelmann. )

Drei Stunden hatten erst der Kanzler und danach sein Kanzleramtsminister Friedrich Bohl die Runde mit schier endlosen Ausführungen zur Lage der Lehrlinge in Ostdeutschland, zur Post- und Bahnreform, zur Konjunktur gelangweilt.

Wie die Union den Wahlmarathon 1994 bestehen soll, war kein Thema. Biedenkopf bestand darauf, es müsse endlich über die Strategie fürs kommende Jahr beratschlagt werden. Helmut Kohl fügte sich. Das Präsidium wird jetzt im November in einer Sondersitzung darüber reden.

Die CDU hat allen Grund zur Selbstschau. Es sieht finster aus für den Vorsitzenden und seine Partei.

»Ganz schreckliche Zahlen« fand Volker Rühe in den Unterlagen, die von der Parteizentrale zur Lage der Union ausgewertet wurden. Demnach wären gerade noch 26 Prozent der Wahlberechtigten willens, die Union zu wählen.

Die Kohl-Partei hat in allen wesentlichen Politikfeldern das Vertrauen der Bevölkerung verloren. Die Sozialdemokraten liegen vorn bei der Kompetenz für Umwelt, Familie und Soziales, für Asylprobleme, Bildung und Wohnungsbau.

Der SPD-Herausforderer Rudolf Scharping erhält im Vergleich mit Kohl auch bei Wirtschaftsmanagern die besseren Noten - ein überaus ernstes Alarmsignal, wie die Allensbacher Alt-Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann mahnt.

Nur in der Kompetenz für Finanzen liegen die C-Parteien knapp vorn. Auch das kann sich ändern. Die Schulden wachsen weiter, noch dramatischer als angenommen. Daß nicht Theo Waigel, sondern Haushaltssprecher Adolf Roth vergangenen Dienstag in der Fraktion die neuen finsteren Zahlen für 1994 - knapp 70 Milliarden Mark Neuverschuldung - eingestand, kreideten Kabinettskollegen dem Finanzminister als Feigheit an.

Helmut Kohl aber mag sich mit Umfragen, Meinungen und Stimmungen nicht aufhalten. Er weiß alles besser, kann alles besser, macht alles allein.

»Deutlich über 40 Prozent« werde die Union bei der Bundestagswahl abschneiden, glaubt Kohl zu wissen; die Sozialdemokraten werden deutlich darunter liegen; die FDP lande unter 10 Prozent. Die Fortsetzung der gegenwärtigen Regierungskoalition sei damit gesichert.

Kohl will sich als erfahrener Staatsmann empfehlen, der den Leuten die Angst nimmt - vor der wachsenden Kriminalität, vor der Arbeitslosigkeit. Die äußere Sicherheit, auch wenn es da »nur eingebildete Gefahren« gebe, etwa im zerfallenen Sowjetreich, soll zum Wahlkampfthema werden. Und die Kohl-Gegner in der Führungsspitze der Union - Rita Süssmuth, Klaus Töpfer, Kurt Biedenkopf, Norbert Blüm, Heiner Geißler, Heinz Eggert - lassen ihn resigniert reden und glauben nicht mehr an ihn.

CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber hält es, wie CDU-Verteidigungsminister Rühe, für gänzlich ausgeschlossen, daß die Union bis zur Bundestagswahl im Herbst 1994 zehn Punkte zulegt.

In der Bundestagsfraktion, vornehmlich unter den ostdeutschen CDU-Abgeordneten, wächst die Unruhe. Viele Parlamentarier fürchten den Verlust des einträglichen Mandates, mancher gar den Absturz in die Arbeitslosigkeit. Fraktionschef Wolfgang Schäuble registriert Aufsässigkeit. Fraktionssitzungen werden geschwänzt, die Übernahme von Aufträgen, die mit Mühen verbunden sind, abgelehnt.

Signale der Verzagtheit auch aus den Landesverbänden. Das Konrad-Adenauer-Haus unter Pfarrer Peter Hintze als Generalsekretär tauge nicht viel, bekommen Kohls Leute immer wieder zu lesen oder zu hören. Es hapere an der Organisation.

In der Union hat sich eine Atmosphäre lauernden Wartens breitgemacht. Und es gibt wieder Umtriebe gegen den Kanzler. Kommt es dicke, muß etwas passieren. Aber was?

Kohls Zweckoptimismus trägt nicht weit. Seit einiger Zeit wiederholt er nicht mehr, daß er als Kanzler einer Großen Koalition nicht zur Verfügung stehe.

Rühe aber ist sich mit Geißler und Biedenkopf einig, daß es eine Große Koalition nur ohne Kohl geben werde, selbst wenn die CDU/CSU stärkste Fraktion bleibe und den Kanzler stellen dürfe. Kohl hätte sein Wahlziel, die Fortsetzung der Koalition mit der FDP, verfehlt. Er wäre eindeutig der Verlierer.

Schäuble spekuliert öffentlich über eine Koalition der Union mit den Grünen. In der Tageszeitung würdigte er gönnerhaft, daß die Grünen sich »sogar redlich bemühen, eine richtig normale Partei zu werden«.

Auch Klaus Töpfer ist dafür, die schwarz-grüne Kombination auf Landesebene zu erproben, vielleicht schon 1994. Warum dann nicht auf Bundesebene, selbstverständlich ohne Kohl? Die CDU/CSU brauche Optionen.

Sogar Undenkbares wird gedacht, Biedenkopf hat damit angefangen: Weshalb Kohl nicht noch vor der Bundestagswahl ablösen? Gelegenheit böte der Bundesparteitag Ende Februar in Hamburg, bei dem es eigentlich um das neue Grundsatzprogramm gehen soll.

Der Sachsenfürst träumte noch Mitte dieses Jahres davon, er selbst könne dann von den Delegierten als Retter aus der Not auf den Schild gehoben werden. Inzwischen gibt er sich bescheidener, wenn auch nicht wirklichkeitsnäher: Er will sich bis 1994 gedulden und dann nach der Bundestagswahl in einer Großen Koalition Kanzler oder Vizekanzler werden, je nach Abschneiden der Union.

Heute steht der Professor nicht mehr allein am Sandkasten. Andere, für Kohl gefährlichere, weil beim Intrigieren geschicktere Gegner entwickeln ihre Wunschvorstellungen.

Eines dieser Szenarien: Nach Einbrüchen der CDU bei der brandenburgischen Kommunalwahl am 5. Dezember 1993 und der niedersächsischen Landtagswahl am 13. März 1994 - laut Umfragen ist die CDU auch dort tief unter die 40-Prozent-Marke gesackt - müsse in Bonn ein Befreiungsschlag erfolgen.

Eine neue Regierung müsse her, nach dem Motto: Luschen raus, Konzentration der Kräfte durch Wegstreichen eines Viertels der Ministerposten. Das könne mit oder auch ohne Kohl laufen. Kanzler-Ersatz: Schäuble.

Kohl müsse signalisiert werden, etwa durch eine Niederlage bei einer wichtigeren Gesetzesvorlage in der Fraktion, daß seine Zeit um sei. Vielleicht locke ihn ja die Aussicht, ungeschlagen vor der Bundestagswahl abzutreten.

Lothar Späth in Jena, nach wie vor einziger CDUler mit dem Ruf, von Wirtschaft etwas zu verstehen, hat schon einen streng vertraulichen Brief eines CDU-Präsidiumsmitglieds erhalten. Ob er bereit sei, im Frühjahr 1994 mitzutun und in Bonn für das Amt des Bundeswirtschaftsministers zur Verfügung zu stehen?

Späth antwortete nicht. Seine Neigung, die wohldotierte Chefposition bei Jenoptik mit einem wahrscheinlich verlorenen Posten im letzten Aufgebot zu tauschen, ist gering. Dennoch befand vergangene Woche der Absender des Schreibens: »Alles ist im Fluß.«

»Viele von Kohls Feinden«, beobachtet Hans-Dietrich Genscher, »liegen am Wegesrand, sind aber nicht tot.«

Unter denen, die sich wieder aufrappeln, ist Heiner Geißler. 1989 war er beim Bremer Parteitag mit seinem Aufstand gegen Kohl - Späth sollte gegen Kohl antreten - schmählich gescheitert. Vor wenigen Wochen verhinderte der Kanzler mit massivem persönlichen Einsatz, daß sich sein alter Gegner eine neue Machtposition zimmern kann. Die rheinland-pfälzische CDU wollte den 63jährigen Asketen zu ihrem neuen Spitzenmann machen.

Der Kanzler ging dazwischen und drohte, er werde sich öffentlich von Geißler distanzieren. Spitzenmann für die Landtagswahl 1996 ist jetzt der Mainzer Kohl-Vertraute Johannes Gerster.

In seinem Mißtrauen gegenüber Geißler sieht sich der Kanzler auch durch Zuträger aus der Provinz bestätigt. Der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende habe mit Biedenkopf konspiriert. Die beiden hätten erwogen, gegen Kohls ungeliebten Favoriten Steffen Heitmann einen Gegenkandidaten aus der CDU/CSU-Fraktion spätestens am Wahltag im Mai nominieren zu lassen.

Kohl überlegt längst, wie er sich aus der Heitmann-Falle befreien kann. Der Dresdner hat keine Mehrheit in der Bundesversammlung. Die FDP verweigert sich, nicht mal die Union steht geschlossen hinter ihm. Fiele Kohls Mann im Mai durch, würde mit den Stimmen der FDP der SPD-Kandidat Johannes Rau gewählt, wäre die Bonner Koalition am Ende.

Auf Fragen, ob es denn bei Heitmann bleibe, antwortet der Kanzler neuerdings wolkig: Das müsse man mal abwarten. Entschließt sich der Sachse zum freiwilligen Rücktritt, wird Kohl ihn nicht davon abhalten. Anerkennende Worte findet der Kanzler inzwischen für Roman Herzog (CDU), den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, den auch die Liberalen zum Bundespräsidenten wählen würden. Herzog sei schließlich seine Erfindung, er habe den Mann für die Politik entdeckt.

Wie wirkt da wohl auf den CDU-Chef, daß Schäuble nun mit Nachdruck dafür eintritt, man dürfe nicht schlingern, man müsse an Heitmann im Zweifelsfall bis zum bitteren Ende festhalten?

Kohl nimmt das Grummeln in seiner Partei ernst, er fürchtet seine Gegner nicht, aber sie machen ihn nervös.

Im Kreis seiner Anhänger beklagt sich der Kanzler mittlerweile, er sei ganz allein. Keiner kämpfe mit ihm. Dennoch wolle er sich mit aller Kraft noch mal in den Wahlkampf stürzen. Und wenn er das gesetzte Ziel verfehle, sei das für ihn auch nicht tragisch: Er wolle ja nichts mehr werden, er sei ja »jenseits des Berges«. Y

* Anfang November vor der Bundestags-EnquetekommissionDDR-Geschichte in Berlin mit dem Kommissionsvorsitzenden RainerEppelmann.

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