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JESUS UND DIE PILLE

Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 32/1968

Die katholische Kirche liebt es, sich entsprechend ihrer Bezeichnung (katt hollahn tähn gähn, über die ganze Erde hin) als weltumspannend zu bezeichnen. Sie liebt es ferner, jede Kritik an ihren Institutionen und Personen als einen Eingriff in ihre innere Sphäre anzusehen, der Nicht-Katholiken (Nicht-Priestern, Nicht-Bischöfen, Nicht-Päpsten) nicht zustehe. Aber sie erinnert uns von Zeit zu Zeit unmißverständlich, daß auch ihr Anspruch wahrhaft weltumspannend und ihre Ein-Mann-Diktatur einzigartig sein will. Wenn der Glaube an die Eucharistie und die Auferstehung dessen, der die christliche Kirche nicht gestiftet hat, sakrosankt sein soll, zwingt sie uns doch immer wieder, ihren Absolutheits-Ansprüchen entgegenzutreten, die oft genug der Disziplinierung in den eigenen Reihen mehr dienen als dem Drang, Geglaubtes anderen zur Regel zu machen.

Ob in der Welt gehungert wird, ob Menschen an Entkräftung sterben oder verderben, geht nicht in erster Instanz die katholische Kirche an, die ja nur symbolisch helfen kann und die, wo es bisher auf ihr Wort oder ihre Tat ankam, nie irgend etwas geleistet hat, was zu der Vermutung leiten könnte, sie sei irgendwelchen anderen weltlichen Institutionen an Weisheit oder Energie überlegen. Wir alle, auch die Nicht-Katholiken, ja vor allem die Nicht-Katholiken, werden dafür aufzukommen haben, nicht aber der päpstliche Stuhl; er hat noch keinem Übel dieser Welt abgeholfen.

Darum ist es ein Unterschied, ob der unfehlbare Papst anno 1950 die leibliche Himmelfahrt der Mutter Maria zum Dogma erklärt -- eine Entscheidung, deren Magie man tatsächlich den Priestern und Laien anheimgeben darf -- oder ob er die Katholiken in ihrem Gewissen verpflichtet, einem angeblichen göttlichen Gesetz, einer angeblichen Lehre Christi zu folgen, von denen nur zu sagen ist, daß sie entweder unbefolgt bleiben oder Verhungernde und sonstwie Zugrundegehende produzieren werden.

Was uns die alten Hasser der Kirche versichert haben und was wir in jüngster Zeit nicht mehr glauben wollten, bleibt eben doch wahr: Man muß gegen den Anspruch der römischen Kirche im ganzen Front machen, kann auch die angeblich innerkirchlichen Vorgänge nicht aussparen. Läßt man ihr nämlich die leibliche Himmelfahrt der Jungfrau Maria durchgehen, so schöpft sie Kraft zu neuen Übergriffen, für deren Folgen sie weder einstehen kann noch will. Es ist ein Widersinn, sich Mittel einfallen zu lassen, um nicht alljährlich Zehntausende im Straßenverkehr umkommen zu lassen, solange man eine Institution tabuiert, die sich anmaßt, Millionen von Verhungernden sehenden Auges in Kauf zu nehmen, ja durch Beeinflussung der Seelen zu produzieren.

Der Papst, Repräsentant einer Kirche, die durchweg mit den reformfeindlichen Kräften verbündet gewesen ist und die auf kirchenstaatlichem Gebiet, wo sie ihr Rhodos hätte haben sollen, mindestens so sehr versagt hat wie nur irgendeine Organisation, gibt den Mächtigen dieser Welt den erstaunlichen Hinweis, man könne nicht »ohne großes Unrecht die göttliche Vorsehung für das verantwortlich machen, was seinen Grund hat in dem Mangel an Weitblick auf selten der Regierungen, in dem ungenügenden sozialen Gerechtigkeitssinn, in einer egoistischen Hausmachtpolitik oder auch in einer zu mißbilligenden Tatenlosigkeit, Anstrengungen und Opfer auf sich zu nehmen, die notwendig sind, um eine Hebung des Lebensstandards des Volkes in seiner Gesamtheit wie aller seiner Bürger zu gewährleisten«.

Hier spricht die Unkenntnis, hier spricht die Uneinsichtigkeit, das Nichtwahrhaben-Wollen von Tatsachen, hier spricht kurzsichtiger, interessengebundener Egoismus, fehlender moralischer Mut, in einem Namen, hier spricht Pius XII. Täten sich die Völker zu einem Hilfswerk zusammen, was sie zweifellos nicht rechtzeitig tun werden, weil auch sie und ihre Regierungen so borniert sind wie die »Mutter und Lehrerin aller Völker«, die Kirche; würden die Völker mit größter Beschleunigung alle ungerechten Herrschaftsstrukturen abbauen, so müßten immer noch Millionen verhungern.

Sagen wir klar, daß es kein göttliches Gesetz und kein Gesetz Jesu Christi gibt, das Knaus-Ogino erlaubt und die Pille verbietet. Sagen wir klar, daß nicht Rücksicht auf göttliche Gesetze, sondern die Rücksicht auf die Selbsterhaltung der menschlichen Institution Kirche bei dieser Enzyklika wie bei so vielen anderen Pate gestanden hat. Sagen wir klar, daß der Anspruch des Papstes, kraft einer besonderen Erleuchtung entgegen den Einsichten seiner kirchlichen Gremien und des überwiegenden Teiles seiner Laien, Sittengesetze zu dekretieren, bekämpft, lächerlich gemacht und als Rückstand überholter Medizinmann- und Haruspex-Praktiken abgetan zu werden verdient. Es gibt keine wechselseitige Duldung zwischen der modernen Welt und einem Papst, der im Alleingang dekretieren will. Sagen wir hart und unhöflich, daß Menschen, die sich dem sittlichen Anspruch des Zölibats, ja der Keuschheit unterworfen halten, durch keinen irgendwie gearteten Beistand in die Lage versetzt werden können, den Eheleuten für deren eheliches Zusammenleben Gesetze aufzustellen; sie können sich bemühen, Rat zu geben, das ist alles.

Papst Johannes XXIII., der »gute Papst Johannes«, hatte aller Welt Hoffnung gemacht, die Päpste könnten der schrecklichen Verirrung ihres Unfehlbarkeits-Dogmas den Stachel nehmen, indem sie fortan keine Entscheidung mehr gegen Vernunft und Logik, keine mehr gegen den Sachverstand der Mehrheit in den eigenen Reihen verkünden würden, vor allem keine, die so sichtbar der Aufrechterhaltung des Prinzips, das Prinzip aufrechtzuerhalten, geweiht wäre. Dieser Johannes hat einige Sekundenschläge lang als möglich erscheinen lassen, daß die Kirche dem Prinzip des Widervernünftigen, durch das sie groß wurde, entsagen und den riskanten Weg, sich eine neue Autorität zu gründen, beschreiten würde. Wenn das zuviel verlangt war, so heißt es von uns zuviel verlangen, daß wir die unlösbaren Widersprüche, die Purzelbäume der Unlogik länger schweigend hinnehmen sollen, mit denen uns die Kurie seit Jahrtausenden, und nun vertreten durch diesen Papst Paul, malträtiert.

Die Lehre der Kirche, »die heilsame Lehre Christi«, die »Verkündigung des göttlichen Gesetzes«, ist unabänderlich, sagt auch die neue Enzyklika. Die Kirche kann »nicht darüber entscheiden; sie bewahrt das Gesetz lediglich auf und legt es aus, ohne dabei jemals für erlaubt erklären zu können, was wegen seines innersten und unwandelbaren Gegensatzes zum wahren Gut des Menschen niemals erlaubt ist«.

Niemals erlaubt! Die Feuerbestattung war noch vor zehn Jahren »niemals erlaubt«, mit ähnlich apodiktischen Worten ist sie noch vor fünf Jahren als schwere Sünde verdammt worden. Weil der Friedhofraum knapp wurde, änderte sich plötzlich das ewige göttliche Gesetz, das die Kirche nur bewahren und auslegen konnte. Sie legte es nicht aus, sondern beiseite.

Da uns Professor Lambruschini die bittere Pille mit dem Trost versüßen wollte, die Entscheidung des Papstes sei revisibel; da maßgebliche Theologen uns versichern, der Papst habe hier nicht in seiner Unfehlbarkeit gesprochen, seine Meinung sei eine »fehlbare Lehrmeinung« (Küng), heißt das doch nichts anderes, als daß die Berufung auf ewige göttliche Gesetze überhaupt als fauler Zauber kenntlich gemacht wird. Die Kirche, wie andere Institutionen auch, bangt um die Macht über die Menschen, das ist verständlich; vielleicht stimmt es sogar, daß der Weg immer neuer Vergewaltigung der Vernunft »best policy at all« ist. Nur wollen wir uns dann auch das Vergnügen machen, zu sagen, wie es steht.

Niemand hat annehmen können, die Kirche wolle auf ihr Amt, göttliche Gesetze zu dekretieren und auszulegen, je verzichten; aber gehofft hat man doch, sie würde es nicht länger mißbrauchen. Eben die Kirche, die den Eheleuten die Gewohnheiten im Bett vorhält, wendet sich in der Enzyklika dagegen, »die persönlichste und intimste Sphäre ehelicher Liebe dem autoritären Zugriff staatlicher Stellen zu überlassen« -- was geschehen könnte, wenn die Pille freigegeben würde; was aber, etwa in China oder Indien, nicht geschehen kann, weil der Papst gesprochen hat? Als vernunftbegabte Wesen werden wir von der Kurie nach wie vor nicht angesehen.

Es stimmt natürlich auch nicht, daß sich die Kirche »zu aller Zeit durch eine sich immer gleichbleibende Lehre über das Wesen der Ehe, über den vernünftigen Gebrauch der ehelichen Rechte und über die Pflichten der Ehegatten geäußert hat«, wie der päpstliche Verfasser der Enzyklika kühn behauptet. So etwas könnte nur aufrechterhalten, wer sich die Wahrheitskriterien stalinistischer Geschichtsschreiber zu eigen machen wollte. Auch im Falle der Abtreibung hat erst Plus IX. ("Die Tradition bin ich") 1869 ein unbedingtes Verbot, das unter Sixtus V. (1585 bis 1590) für kurze Zeit gültig gewesen war, wiedereingeführt. Bis in die Neuzeit hinein durfte eine Schwangerschaft unterbrochen werden, und zwar innerhalb von 40 Tagen nach der Befruchtung bei einem männlichen und von 80 Tagen bei einem weiblichen Fötus, der vorher nicht als beseelt galt. Daß die alten Juden nicht in Ein-Ehe lebten, ist auch Pius XI. aufgefallen; darum schreibt er 1930 wortwörtlich, »Gott als oberster Gesetzgeber« habe das Grundgesetz der Ein-Ehe »zeitweilig in etwa« gemildert. Gut zu wissen.

»Jahrtausende menschlichen und christlichen Nachdenkens« seien notwendig gewesen, »um die Formulierung solider, objektiver, universeller Moralprinzipien zu erreichen«, sagte der Moraltheologe der päpstlichen Lateran-Universität, Lambruschini zur Begründung der Enzyklika »Humanae vitae«. Warum eigentlich, wenn doch der Heilige Geist seine unfehlbaren Päpste seit dem Jahre 30 nach Jesu Geburt erleuchtet hat; wenn, wie Lambruschini ebenfalls versicherte, »der Papst ... einen besonderen Beistand des Heiligen Geistes besitzt«, der sich nicht nur auf die unfehlbaren Entscheidungen beschränke? Soll es möglich sein, daß der Papst sich irrt trotz des besonderen Beistandes, und wie wird man den Irrtum wohl frisieren, wenn er etwas früher zutage tritt als die irrtümliche Verurteilung Galileis? Gibt es überhaupt eine Institution, die sich, angesichts des hohen Alters kein Wunder, mehr geirrt hat als die römische Kirche?

»Es ist nämlich«, schreibt Paul VI. in seiner Enzyklika, »eine unangefochtene Tatsache, wie es Unsere Vorgänger mehrmals erklärt haben, daß Jesus Christus dem Petrus und den Aposteln seine göttliche Autorität mitgeteilt ... und sie so dazu bestellt hat, das gesamte Sittengesetz zu bewahren und authentisch auszulegen, das heißt nicht nur das Gesetz des Evangeliums, sondern auch das natürliche Sittengesetz, das ebenso Ausdruck des göttlichen Willens ist und dessen Erfüllung gleichermaßen zum Heile notwendig ist.« Nun, abgesehen davon, daß diese unangefochtene Tatsache erweislich unwahr ist, wird sie von fünf Sechsteln der Menschheit auch angefochten, jedenfalls nicht geglaubt. Das natürliche Sittengesetz, wenn es denn in auslegbarer Form je fixiert werden könnte, hat über dreihundert Jahre lang die unfehlbaren Päpste nicht gehindert, kastrierte Knaben im päpstlichen Kirchenchor singen zu lassen. Außerdem hätte Jesus ja seine Autorität nicht dem Petrus allein, sondern auch dessen Mitaposteln übertragen, während sich Papst Paul VI. über die Lehrmeinung seiner obersten Kollegien, jedenfalls der Mehrheiten, hinwegsetzt. Genießt die Mehrheit der heutigen Apostel geringeren Beistand des Heiligen Geistes als die Minderheit, auf deren Seite der Papst sich gestellt hat? Und wie erklärt Paul VI. den Widerspruch, den schon Pius XI. nicht wegdisputieren konnte: daß der göttliche Jesus einerseits den nirgends eingeschränkten Rat gibt, »jungfräulich zu leben«, andererseits aber die Geburt von immer mehr Kindern für geboten halten soll?

Obwohl man mit der Liebe der Kirche zu wissenschaftlicher Objektivität bisher nicht die beste Erfahrung gemacht hat, ruft der Papst »vor allem die katholischen Wissenschaftler« auf, durch ihren Beitrag zu beweisen, daß, wie die Kirche lehrt, »kein wirklicher Widerspruch zwischen den göttlichen Gesetzen, die die Weitergabe des Lebens regeln (offensichtlich Knaus-Ogino), und jenen, die die echte eheliche Liebe fordern, bestehen kann«. Da darf man neugierig sein.

Rätselhaft bleibt der Satz der Enzyklika »Gott hat in seiner Weisheit natürliche Gesetze und Gesetzmäßigkeiten für die Fruchtbarkeit grundgelegt, die schon aus sich heraus Abstände in der Aufeinanderfolge der Geburten schaffen«. Wie das? Ist dem Papst nicht bewußt, daß Gott in seiner Weisheit diese Abstände eben nicht grundgelegt hat, daß vielmehr eine Frau, die geboren hat, unmittelbar darauf ihr nächstes Kind oder gar ihre nächsten Kinder empfangen kann?

Der Papst nennt es »eine hervorragende Form der Liebe zu den unsterblichen Seelen, wenn man in keiner Weise Abstriche an der heilsamen Lehre Christi macht«, von der, notabene, Jesus kein Jota gekannt haben kann. Aber es wird binnen kurzem nicht um Liebe zu den unsterblichen Seelen gehen, um die sich die katholischen Hirten auch angesichts der Gaskammern einzig besorgt gezeigt haben, sondern um die Liebe zu sterblichen, verhungernden Körpern wie in Biafra. Eine Kirche, der es wichtiger ist, sich selbst institutionell zu reproduzieren, als aus dem selbsterrichteten Gefängnis ihrer mit dem Schein der Ewigkeit mumifizierten Lehrautorität auszubrechen, mag bei der auf Gnadenvermittlung erpichten Mehrheit ihrer Anhänger weiterhin Gefolgschaft, ja Treue finden; sie mögen es vielleicht vorziehen, lieber in Sünde als ohne Kirche zu leben. Mit dem Geist aber, der von dieser Welt ist, wird die Kirche ein weiteres Mal auf Kriegsfuß stehen, und noch ist nicht ausgemacht, daß sie letztlich, als Institution dieser Welt, triumphiert.

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