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LINDE/BORSIG Jetzt nervös

aus DER SPIEGEL 53/1970

Beim Handlungsbevollmächtigten Günter Groß, Abteilungsleiter der Linde AG in München, klingelte das Telephon aus Moskau: Die Nachrichtenagentur Tass, berichtete der Anrufer erregt, habe soeben gemeldet, daß die geplante Äthylen-Anlage bei Nischnjekamsk im Werte von 185 Millionen Mark als Liefer-Auftrag an die Japaner vergeben worden sei.

Groß wurde weiß: Sein bisher größtes Rußland-Geschäft war geplatzt.

Seit zwei Jahren hatte die Münchner Linde AG mit den Sowjets über die Lieferung dieser Äthylen-Anlage verhandelt. Seit Monaten glaubte sie sich des Auftrags sicher. Auf der Moskauer Chemie-Messe Im September hatten die Sowjets sich sogar schriftlich bereit erklärt, den Auftrag an die Bayern zu vergeben.

Die Tass-Meldung schockte die westdeutschen Osthandels-Experten. Nach dem russisch-deutschen Gewaltverzicht im August wähnte die Industrie im Linde-Projekt -- einer der größten Aufträge Moskaus an die westdeutsche Industrie -- den Beginn neuer, besserer Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjet-Union. Auf dem Moskauer Messe-Stand der Linde AG hatte Wiktor S. Fjodorow, Sowjet-Minister für petrochemische Industrie, verkündet: »Das Abkommen wird unsere Zusammenarbeit weiter verstärken.«

Doch obwohl die Sowjets bereits schriftlich ihre Vertragsbereitschaft zu Protokoll gegeben hatten, erhielt nun die Toyo Engineering In Tokio den Zuschlag. Ost-Händler Franz-Josef Gattys, Vermittler im Linde-Geschäft: »Nach meinen Kenntnissen hat es so etwas bisher noch nicht gegeben.«

Wenige Tage bevor die Linde-Manager vom Ende Ihres scheinbar sicheren Geschäfts erfuhren, traf eine weitere russische Absage ein: Die Borsig GmbH in Berlin erhielt Nachricht, daß der vorgesehene 80-Millionen-Auftrag über 130 Pipeline-Hähne gleichfalls storniert worden sei.

Wie die Münchner hatten auch die Berliner eine schriftliche Zusicherung auf Vertragsabschluß. Den Auftrag aber erhielt die italienische Firma Valvo Italia bei Mailand.

Borsig-Chef Lars Fischer-Zernin gab seiner Enttäuschung freien Lauf: »Wir müssen uns jetzt fragen, ob es überhaupt noch Zweck hat, im Rußland-Geschäft zu bleiben.«

Sowohl Linde als auch Borsig erhielten von den Sowjets Bescheid, daß die Japaner und die Italiener billiger angeboten hätten. Doch das Borsig-Angebot war, so Osthändler Gattys, »nur ein paar hunderttausend Mark« teurer als die italienische Offerte. Und die Kreditzinsen, die bei Borsig moniert wurden, lagen bei 6,25 Prozent.

Die geplatzten Aufträge im Gesamtwert von 265 Millionen Mark haben die geschäftsträchtigen Erwartungen westdeutscher Manager, die sich im Rahmen der neuen Bonner Ostpolitik noch vor einigen Wochen leichteren Handel mit den Sowjets versprochen hatten, erheblich gedämpft. Bayer-Direktor Walter Jacobi im September: »Seit ein paar Tagen wissen wir, daß ein Projekt unterschriftsreif ist.« Bayer-Jacobi in der letzten Woche: »Es gibt Projekte, die drei Jahre lang unterschriftsreif sind.«

Die bundeseigene Salzgitter AG glaubte sich im Sommer kurz vor Vertragsabschluß für ein weiteres 100-Millionen-Projekt. Nun sieht der Konzern »weiterhin Schwierigkeiten« (Salzgitter-Sprecher Kurt Döring). Auf der Werkzeugmaschinen-Ausstellung, die im September in Hannover veranstaltet wurde, suchten rund 200 sowjetische Unterhändler Kontakte zu den westdeutschen Herstellern. Inzwischen haben die Maschinenproduzenten mehrere Millionen-Aufträge wieder verloren.

Rußland-Händler Klaus Katling, Inhaber der Kölner Firma Anton Ohlert, kennt Firmen, die »wie Borsig ein Protokoll haben und nun unruhig werden«. Auch Ost-Händler Gattys weiß von westdeutschen Unternehmen, die mit den Sowjets »einen Vorvertrag abgeschlossen haben und jetzt nervös sind«.

Der Wandel der Sowjets zeigt sich schließlich auch bei dem geplanten deutsch-sowjetischen Handelsvertrag. Die ursprünglich für Anfang November anberaumten Verhandlungen kamen noch immer nicht zustande. Von Woche zu Woche wurden in Bonn neue Gründe für eine Terminverschiebung genannt: Im November waren es die notwendigen Konsultationen mit der Brüsseler EWG-Kommission; im Dezember hieß es, die Verhandlungen über den Handelsvertrag mit Prag müßten zunächst abgeschlossen werden; nun -- so Unterhändler Peter Hermes, Sonderbotschafter des Auswärtigen Amtes -- »werden wir uns im Januar vielleicht erst einmal über ein Vorgespräch einigen«.

»Die geplatzten Aufträge«, so Hans Kirchner, Geschäftsführer des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, »fallen natürlich jetzt besonders auf.« Viele westdeutsche Ost-Händler argwöhnen, daß die Russen die Aufträge gezielt stornierten, um die Bundesrepublik zur beschleunigten Ratifizierung des deutsch-sowjetischen Vertrages zu treiben.

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