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ISRAEL Jumbo gelandet

Die rechte Regierung beseitigte die seit drei Jahrzehnten bestehende Planwirtschaft, das Heiligtum der sozialistischen Gründungsväter.
aus DER SPIEGEL 46/1977

Zwei jüdische Traditionen«, so fand der amerikanische Kapitalismus-Prophet Milton Friedman vor Amtsantritt des rechten Premiers Begin, lägen »in Israel in Widerstreit":

Hundert Jahre alter Glaube an eine paternalistische, sozialistische Regierung, die freie Marktwirtschaft ablehnt, und eine zweitausendjährige Erfahrung der Juden, sieh selbst helfen zu müssen.

Am vorletzten Freitag, kurz vor Anbruch der Sabbat-Ruhe, errang die zweite Tradition einen entscheidenden Sieg. Fast einstimmig beendete das Kabinett in Jerusalem drei Dekaden sozialistischer Planwirtschaft »Der Jumbo ist gelandet«, seufzte der Pate des neuen Programms. Finanzminister Simcha Ehrlich.

36 Jahre nachdem die damalige englische Mandatsverwaltung eine Devisenkontrolle über das Heilige Land verhängt hatte, verfügte eine israelische Regierung die Aufhebung dieser Kontrolle und zugleich eine Roßkur für die marode israelische Wirtschaft.

Begins Mannschaft aus Rechten und Klerikalen, aber auch der Reformbewegung des Archäologieprofessors Jadin, verwarf dabei Grundsätze, die der Gründergeneration von Ben-Gurion bis Golda Mdr heilig gewesen waren.

Statt Gemeineigentum und Vollbeschäftigung sind nun Rentabilität und Reprivatisierung Schlagworte der Herrschenden. Der halbsozialistische europäisch-amerikanische Pionierstaat im Orient soll ein gewöhnliches Kapitalistenland werden -- mit freiem Devisenfluß, weniger Staatssubventionen und Hire-and-Fire-Mentalität.

Sozialisten und Gewerkschafter protestierten sogleich. Ex- Finanzminister Rabinowitz: »Riskantes Vabanquespiel.« Gewerkschaftsboß Menachem Meschel: »Zusätzliche Opfer für die Mehrheit des Volkes.«

Glaubensgenosse und Begin-Berater Friedman aber begrüßte im fernen Kalifornien den »von mir lange befürworteten Beschluß« als »einen der wichtigsten Fortschritte in Israels Geschichte«.

Die Grundsätze der Entscheidung waren schon im August auf einer Klausurtagung der führenden Wirtschafts- und Finanzfachleute formuliert worden. Anschließend holte sieh Ehrlich das Plazet des Internationalen Währungsfonds. Dennoch blieb das Geheimnis der bevorstehenden Aufhebung der traditionellen Devisenkontrolle bis zum Schluß gewahrt. Sogar die meisten israelischen Minister wußten nicht, was Ehrlich seinem amerikanischen Kollegen Blumenthal bei dessen Jerusalem-Besuch anvertraute. Doppelsinnig seufzte Blumenthal auf deutsch: »Ehrlich hat"s schwerlich.«

Eine drastische Devisenkontrolle war in Israel nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 notwendig gewesen. »Denn damals hatten wir knapp tausend Dollar in der Staatskasse«, erinnert sich der erste Finanzminister Elieser Kaplan.

Und der Staat mußte auch die Wirtschaft lenken: Regierung und andere öffentliche Institutionen, besonders die große Einheits-Gewerkschaft Histadrut, investierten, wo private Unternehmer aus Rentabilitätsbedenken zögerten.

So entstanden mit staatlichem oder gewerkschaftlichem Kapital risikoreiche Produktionszweige wie die Phosphat- und Kali-Werke am Toten Meer, die über zwei Dekaden hin enorme Investitionen verschlangen, ehe sie in den letzten drei Jahren Gewinn abwarfen.

Aus solchen Staatshilfen aber entwickelte sich auch wachsender Dirigismus. Allmächtige Behörden von Staat und Histadrut bestimmten über Vergünstigungen, Kredite und Subsidien. Oft arbeiteten sie ineffizient und verschleuderten Riesensummen.

Und das einst aus gutem Grund vor Spekulation an den Devisenmärkten geschützte israelische Pfund mußte seit 1948 insgesamt 35mal abgewertet werden -- von vier US-Dollar auf 6,5 Cent. Die Staatsschulden wuchsen dank der riesigen Rüstungsausgaben auf 20 Milliarden Dollar, obwohl der jüdische Staat mit rund 35 Milliarden Dollar sogar »mehr US-Hilfe erhielt als das gesamte Europa per Marshall-Plan« (Begin). Im laufenden Jahr klafft ein Loch von drei Milliarden in Israels Zahlungsbilanz.

Vor der Aufhebung der Devisenkontrolle gab es nicht weniger als 70 verschiedene Wechselkurse etwa einen Normalkurs für Touristen, einen anderen für ausländische Investoren und zwei verschiedene Kurse für Empfänger von Wiedergutmachungs-Überweisungen.

»Dieses System hat eine neokapitalistische Klasse von hunderttausend Spekulanten geschaffen«, klagte sogar der ehemalige Gewerkschaftssekretär Ben-Aharon.

In der Wirtschaft behaupteten sich oft nicht die besten Unternehmer. So hielt der Staat in der Textil-Branche (66 000 Beschäftigte) unrentable Betriebe durch Vergünstigungen künstlich am Leben, weil er Arbeitsplätze sichern wollte. Die Kosten aber trugen die Steuerzahler.

Entwicklungsgebiete, das Baugewerbe, Neueinwanderer, junge Ehepaare und kinderreiche Familien erhielten Subventionen oder billige Staatskredite ohne Bindung an den Teuerungs-Index, mit Geldern, die sie zum Teil selbst über Index-gebundene Staatsanleihen aufbrachten. Das Resultat war ein wachsender Schuldenberg.

Die Regierung subventionierte schließlich bis zu 50 Prozent der Grundnahrungsmittel wie Milchprodukte, Butter und Brot. Folge: Landwirte verfütterten das billige Brot anstelle des teueren Viehfutters.

Solche Fehlplanungen drückten auf die Arbeitsmoral. Die Israelis, so fanden kritische Staatsbürger, »leben wie Europäer, aber arbeiten wie Orientalen«. 1976 gingen über sieben Millionen Arbeitstage verloren: durch Krankheit, Verspätung. den Reservedienst oder einfach unentschuldigtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz.

Während die Zahl der Angestellten seit 1968 in Handel und Finanz um 60 Prozent, im öffentlichen Dienst um 37 Prozent stieg, erhöhte sie sich in den produktiven Branchen nur um 33 Prozent.

Dafür aber machten die Drucker der Staatsbank Überstunden. Monat für Monat wurde eine Milliarde Pfund neu in Umlauf gebracht. Denn der Wert des Israel-Pfundes sackte ständig.

Kein Wunder, daß betuchte Bürger ausländische Währungen dem eigenen Geld vorzogen. Fast jeder zehnte Israeli unterhielt ein illegales Auslandskonto und beging damit ein Gentleman-Delikt, das sogar den Premier Rabin zum Rücktritt zwang, obschon er nur 20 000 Dollar in den USA besaß -- wenig im Verhältnis zu den geschätzten drei Milliarden »schwarzer Grüner«, die die Israelis insgesamt illegal in der Fremde deponiert haben.

Gegen diese Schicht der Währungs-Privilegierten machten in den letzten Jahren zunehmend die Juden orientalischer Herkunft Front, die heute 60 Prozent der israelischen Bevölkerung stellen. Vor allem aus Opposition gegen die Elite der aus Europa und den USA stammenden Staatsfunktionäre und Gewerkschafter, die wohl von Sozialismus redeten, aber 40prozentige Inflationsraten nicht verhindern konnten, wählten die Orientalen im vergangenen Mai den rechten Außenseiter Begin an die Macht.

Seine Regierung predigt nun statt des sozialistischen Kollektivismus das Laisser-faire der freien Marktwirtschaft. Sie will zunächst bekämpfen, was der Vorsitzende der israelischen Handelskammern, Avener Ben-Jakar, als die »Grundübel« ansieht:

>ln fast allen öffentlichen und zahlreichen privaten Unternehmen wird eine verdeckte Arbeitslosigkeit geduldet, weil Entlassungen fast unmöglich sind.

* Die Produktivität in der Industrie hinkt im Durchschnitt weit hinter europäischem Niveau her. > Lohnsystem und Arbeitsgesetze sind

zuwenig leistungsorientiert.

* Ein zu kompliziertes Steuersystem und staatlicher Dirigismus drosseln die freie Entfaltung der Wirtschaft. Finanzminister Ehrlich will mit dem Abbau dieser Übel beginnen, indem er die Devisenkontrolle aufhob, das Pfund seinem Realwert anpaßte und das Steuersystem durch Aufhebung von Kaufsteuern und Erhöhung der Mehrwertsteuer von acht auf zwölf Prozent vereinfachte. Mindestens 20 von insgesamt 152 Staatsunternehmen sollen privaten Unternehmern zum Kauf angeboten werden, darunter die Telephondienste, die Import- und Exportfirmen und die Hypothekenbank Tefahot.

»Künftighin wird unser Staat auch in der Wirtschaft zu den fortschrittlichsten Ländern zählen«, lobt Ehrlich seine neue Politik. Industrie-, Handels- und Touristik-Minister Jigal Horowitz glaubt, daß »über die Hälfte der Bürger die jetzigen Initiativen begrüßt« -. was allerdings zweifelhaft ist, denn die neuen Maßnahmen ließen die Preise hochschnellen.

Hamsterkäufer stürmten die Geschäfte -- bis die neuen Preise ausgezeichnet waren: Brennstoffe wurden um 25 Prozent teurer, Importgüter bis zu 30 Prozent, Lebensmittel um 20 Prozent, Textilien um 10 Prozent.

Der SPIEGEL kostete vorige Woche in Tel Aviv fast sechs Mark. Ein Paket importierter Zigaretten wurde ebenso teuer, was die Firma Rothman"s veranlaßte. ihre Tätigkeit in Israel einzustellen und fünf Container mit Tabakwaren im Hafen von Haifa vertrocknen zu lassen.

In den kommenden zwei Monaten wird eine Steigerung der Lebenshaltungskosten um zwölf Prozent erwartet. Deshalb brachen in vielen Betrieben Streiks aus -- manche spontan, manche von Betriebsräten gegen den Willen der Belegschaften ausgerufen.

Die Fluggesellschaft »El Al« mußte ihre Flüge für 24 Stunden einstellen, Israels Häfen und Werften wurden stundenlang lahmgelegt. Briefträger, Bäcker und Bankbeamte streikten. Die Staatsangestellten verlangten eine sofortige Lohnerhöhung von 25 Prozent »als Vorschuß«.

Minister Ehrlich rügte die Arbeitsniederlegungen als sinnlose politische Agitation. Denn die Regierung habe keineswegs die Absicht, die Realeinkommen der Arbeitnehmer zu beeinträchtigen. Er wolle auch die sozialen Aufwendungen nicht antasten, obwohl drastische Kürzungen der Staatsausgaben geplant seien.

Da Ehrlich auch die Etats für Verteidigung, Erziehung und Schuldentilgung nicht schmälern will, bleibt ihm nur ein enger Spielraum -- eine Kürzung der staatlichen Dienstleistungen, was indirekt bedeuten würde, daß die Bürger nochmals zur Kasse gebeten werden.

Begin-Berater Friedman erwartet vom neuen Kurs »fast sofortige positive Auswirkungen« und »einen großen Schritt in Richtung der menschlichen Freiheit«.

Minister Ehrlich sieht das vielleicht etwas anders: Seit dem »schwarzen 28. Oktober« (so Gewerkschafter Meschel) wird er von einem Leibwächter begleitet -- als erster Finanzminister in der Geschichte Israels.

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