»Junge, das mußt du durchhalten«
Wäre Johannes Rau Bundespräsident, dann würde er natürlich nicht Deutschland zu Fuß durchstreifen. Obwohl, einmal ist er ja auch mit Karl Carstens gewandert, aber da ...
Johannes Rau bricht ab. Gern würde er jetzt die Geschichte erzählen, wie seine Schuhe damals ... Kennen Sie die? Also, bei Kilometer ...
Der Kanzlerkandidat der SPD schluckt und schweigt unglücklich. Er verkneift sich die Wander-Schnurre, so schwer es ihm auch fällt. Schließlich ist er nicht Ertl oder Unertl.
Seit er nominiert ist als Herausforderer Helmut Kohls, ist es unverkennbar, daß Johannes Rau, der Geschichtenerzähler, seine größte Fähigkeit offenbar für nicht seriös genug hält, um im harten Bonner Politikgeschäft darauf zu bauen. Er fürchtet das Klischee des »fröhlichen Tausendsassa«.
Deshalb mißtraut der Kandidat der SPD, den die seelenlose Sachzwangmechanik der Staat-Macher in der Bundeshauptstadt abstößt, seiner eigenen Stärke. Aber mit dem Verzicht auf seine Geschichten, Histörchen und Witze, seine moralischen Exempel und auf die Pointe hin erzählten Charakterisierungen von Personen und Begebenheiten, begibt er sich nicht nur seines wichtigsten politischen Potentials. Er bewegt sich am Rande der Selbstverstümmelung. Denn Johannes Rau redet ja nicht nur so - der ist, wie er spricht.
Am liebsten wäre der Predigersohn Dichter geworden. Aber wie es sich in seinem Leben so zugetragen hat - wenig, scheint es, hat er bewußt entschieden -, ist Rau in der Politik gelandet. Sein Talent zum Erzählen verkümmerte dadurch nicht, im Gegenteil. »Es waren schließlich nicht die Bücher, die meinem Leben Richtung gaben, sondern Menschen. Einzelne Menschen mit Profil und Gesicht, Erfahrung und Temperament und mit der Gabe, andere mitzunehmen auf ihrem Weg.« Bei denen hat er gelernt. Sein Sinn für Pointen und Nuancen, sein Gehör für Zwischentöne, sein Gefühl für emotionale Schwingungen in der Rede sind beachtlich.
Dem, der es nicht längst wüßte, sagt Rau selbst, daß er sich nicht »zu den großen Konstrukteuren von Gedankengebäuden« rechnet. Abstrakt zu denken, ist keine seiner Gaben. Dafür verfügt er aber über ein sicheres Gespür für heiße Luft in Theoriedebatten. Stichelnd läßt er die dann entweichen. Als einmal im Landesvorstand sein Vize Christoph Zöpel nicht aufhören wollte, sich über Keynes'' Wirtschaftstheorien auszulassen, grinste Rau, der Keynes zumindest gelesen hat. »Ich kenne nur ''Die Caine war ihr Schicksal''.« Ende der Debatte. Daß er selbst »ganz gut im Gespräch Sachverhalte vermitteln und Strategien entwickeln« kann, wie er untertreibend mitteilt, erschließt sich seinen Gesprächspartnern oft erst nachträglich.
Tatsächlich macht Johannes Rau Politik fast nur im Gespräch. Mit Menschen redend, nimmt er Informationen auf und verarbeitet sie. Im Dialog trifft er Entscheidungen. Durch Rede und Gegenrede gewinnt er Gefolgschaft. »Daß Menschen sich anhören, sich zuhören, sich einander öffnen und dann einander wägend raten, das ist eine richtunggebende Erfahrung meines Lebens.«
Johannes Rau hat ein beneidenswertes Gedächtnis, eine große Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Er ist listig, erfindungsreich, überzeugungskräftig und eigensinnig. Er gleicht mit diesen Eigenschaften einer »ehrwürdigen Gestalt« die der Literat Hans Magnus Enzensberger zur Verblüffung seiner Zuhörer unlängst in den erzählerischen Adelsstand erhoben hat - dem Analphabeten. Den habe eine volkserzieherische Einpaukgesellschaft mit Lesen und Schreiben nur unvollkommen - im Sinne der Aufklärung - aus seiner Unmündigkeit befreit, um ihn um so perfekter zum kopflosen Konsumenten abzurichten.
Diesem Einebnungsprozeß hat sich Johannes Rau mit bemerkenswerter Konsequenz entzogen. Seine Formulierlust hebt ihn wohltuend ab von »sekundären Analphabeten«, die Enzensberger heute - wie er bei der Entgegennahme des _(Mit Ehefrau Christina und Sohn ) _(Philipp-Imma nuel (l.). )
Heinrich-Böll-Preises der Stadt Köln sagte - in den Hauptrollen auf der gesellschaftlichen Bühne agieren sieht.
Der sekundäre Analphabet stört nicht, leidet nicht, weiß und versteht nicht, was ihm geschieht, und hält das für einen Vorzug. Schon gar nicht erkennt er, daß er ein sekundärer Analphabet ist. Er ist mobil, anpassungsfähig und durchsetzungsfähig. »Er hält sich für wohlinformiert, kann Gebrauchsanweisungen und Schecks entziffern und bewegt sich in einer Umwelt, die ihn hermetisch gegen jede Anfechtung seines Bewußtseins abschottet.« Eine solche Umwelt ist Bonn.
Dem Kandidaten fallen, sobald die Bundeshauptstadt erwähnt wird, bayrische Barockengel ein. Die tragen, wie die Kollegen in Bonn, ständig Sprechblasen vorm Mund, in denen erbauliches Vokabular festgeschrieben ist, immer dieselben Sprüche, bis in alle Ewigkeit.
Die Herren der dortigen »Verkopfung« vergelten solchen Spott dem Bruder Johannes mit unverhohlener Geringschätzung. Eine ganz große Koalition aus Politikern aller Parteien und von Journalisten aller Schattierungen stempelt den Herausforderer Helmut Kohls als rheinischen Dampfplauderer ab.
Er verführt ja auch dazu. Als es mit der SPD Anfang 1983 bergab ging, erzählte Rau - um den Spitzengenossen die Stimmung an der Basis zu verdeutlichen - im Landesvorstand folgenden Witz: »Trifft Karl-Otto den Ortsvereinsvorsitzenden. Fragt der: ''Karl-Otto, warum warst du nicht auf der letzten Mitgliederversammlung?'' - ''Hätte ich gewußt, daß es die letzte ist, wäre ich gern gekommen.''«
Und wenn Johannes Rau, was nicht selten ist, über die Undankbarkeit der Partei lamentiert, gebraucht er diese Anekdote: »Ein Kind stürzte in einen reißenden Wildbach mit schäumenden Fluten. Ein Mann sah das, sprang ins Wasser, rettete das Kind unter Lebensgefahr und drückte es am Ufer der Mutter in die Arme. Die aber fragte nur: ''Wo ist die Mütze?''«
»Leichtmatrose« hieß Rau deswegen zu Zeiten des Kohl-Amtsvorgängers mit der Schiffermütze. Dessen Mitarbeiter konnten gar nicht genug hämen über den »Conferencier« aus Düsseldorf, der mit seinem fröhlichen Geschwätz zwar gut war, um die Partei an einem bunten Abend zu erheitern. Der aber aus der Sicht der Welt-Sachwalter und Grund-Bedenkenträger einfach nicht das Format hatte für richtige Politik. Von der Würde ganz zu schweigen.
Natürlich schwingt da Neid mit. Denn mit Schwänken und Pikanterien, Witzen und treffend boshaften Histörchen schmücken sich alle Politiker gerne, von Genscher bis Brandt, Blüm bis Zimmermann. Auch Kohl, der zumeist freilich die komische Figur solcher Erzählungen ist, weiß sie (über andere) zu schätzen.
Im Urteil über Rau aber, der in diesem Metier allen überlegen ist, klingt bis heute stets etwas herablassend Endgültiges mit: Das kann er, aber was kann er eigentlich sonst? »Zu leicht«, hat Franz Josef Strauß erst kürzlich befunden: »Er hat die Fähigkeit einer sehr humorvollen Selbstdarstellung. Ich kenne keinen Politiker, der so viele Witze zu erzählen vermag, der so viele Anekdoten oder pointierte Geschichten zu erzählen vermag wie er. Aber ob das die richtige Qualifikation ist?«
Immerhin, der Bayer - an rhetorischem Saft dem Johannes Rau mindestens ebenbürtig - warnt: »Man soll ihn nicht unterschätzen.« Schließlich hat Johannes Rau zweimal sein Ministerpräsidentenamt mit absoluter Mehrheit gewonnen. Und im Fernsehzeitalter würden »Sympathien und Antipathien nach anderen Gesichtspunkten verteilt«.
Nun hat Johannes Rau aber seine Wahlen nicht nur im Fernsehen gewonnen. Wochenlang waren die Zeitungen voll von halb spöttischen, halb staunenden Berichten über den »Wanderprediger«, der Tag und Nacht zwischen Rhein und Ruhr unterwegs war, den Kumpel, der an jeder Theke des Reviers mit Arbeitern und Fußballfans sein Pils zischte, den Landesvater, der auf Marktplätzen plauderte, den Skatspieler und Mitsinger, den Obernarren und Trauerredner. Daß er Menschen mag, behauptet er nicht nur, er strahlt es aus. Immer bildet sich sofort ein Kreis um ihn. Und wo schon eine Gruppe steht, eilt er hinzu und macht sich schnell zum Mittelpunkt. Er erzählt Geschichten und Witze, oder er hört welche.
Dieselben Fähigkeiten, die ihn nach Ansicht seiner rivalisierenden Kollegen
aus der Politik als Leichtgewicht disqualifizieren, garantieren bei der Bevölkerung seine Erfolge. Denn er mischt sich ja nicht nur erzählend und Geschichten aufnehmend unter die Leute. Er tritt auch so auf, daß er zum Helden ihrer Erzählungen wird. So wie es der frühere Hannoversche Landesbischof Hans Lilje laut Rau einmal formuliert haben soll, als ihm ein eifriger Vikar in den Mantel zu helfen versuchte: »Für mich war es ja ein bißchen unbequem, aber für Sie sicherlich ein bleibendes Erlebnis.«
Das ist der Stoff, aus dem Raus Leben ist: So wie die Vita von Heiligen nachträglich stilisiert wird, als setze sie sich allein aus erbaulichen Kalendergeschichten zusammen, so scheint der Bruder Johannes - gewiß kein Heiliger - intuitiv sein Leben erzählend zu gestalten: als »bunte Kette lehrreicher Anekdoten«, wie die »Westfälische Rundschau« einmal Raus Bericht von einer Amerika-Reise überschrieb. Und so wie das Erzählen die Quelle bildet der Literatur, nicht das Schreiben und Lesen, so ist die erzählte und gelebte Anekdote, nicht der Aktenvermerk oder der Sachvortrag, der Born, aus dem der Auf-Steiger kommt. Denn für den Politiker Rau ist die Anekdote mehr als eine gesellige Erzählform - sie ist ein Herrschaftsmittel.
Bei dem Versuch, das Wesen der Anekdote literarisch bündig zu definieren, sind schon ganze Generationen von Literaturwissenschaftlern in Resignation verfallen. Als epische Kleinform ist sie schwer abzugrenzen von der Fabel, der Novelle, der Kurzgeschichte, dem Aphorismus, dem Epigramm oder dem Witz.
Charakteristisch sind vor allem die prägnante Darstellung eines Geschehens und der auf eine Pointe hinzielende, sich steigernde Aufbau des Erzählens. Oft geschieht das in Dialogen. Der Sinn kann belehrend, moralisierend oder auch frivol und satirisch sein. Dabei ist es zweitrangig, ob das Erzählte verbürgt ist; wichtiger ist, ob es möglich oder charakteristisch erscheint. Unverzichtbar aber ist, daß es gefällt. Denn die Anekdote ist eine gesellige Angelegenheit.
Daß der Sohn des Predigers Ewald Rau die vielfältige didaktische Verwendbarkeit der Anekdote von Kind an kennen, bewundern und fürchten gelernt hat, erzählt er selbst.
So eindrucksvoll ist dem sprachmächtigen Johannes Rau die Redegewalt seines Vaters in Erinnerung geblieben, daß er sich im Vergleich dazu heute fast als »stumm« bezeichnet. Bei dieser Einschätzung mag viel taktische Huldigung im Spiel sein, auch listige Tiefstapelei. Es klingt in der Aussage aber auch noch etwas mit von der Hilflosigkeit des Kindes, das sich ausgeliefert sieht der paradigmatischen Macht des überlegenen Geistes, der an strategisch wichtiger Stelle seine Behauptungen und Ansprüche mit Szenen und Personal von hehrer Größe und Fürchterlichkeit zu untermauern weiß. Null Chance für ein Kind, sich dagegen zu behaupten.
Aber Johannes Rau konnte lernen, dieses Instrument auch seinerseits anzuwenden. Sein Redestil, selbst wenn er keine Anekdoten erzählt, ist davon geprägt. Gern verfällt er in die Dialog-Form: sagte ich - antwortete der. Unversehens rutscht er in die direkte Rede und wieder zurück. Immer ist er auf Pointen fixiert, gern schweift er um blumiger Zitate willen, die ihm einfallen, vom geraden Lauf seiner Geschichte ab. Originelle Formulierungen anderer bleiben beim Zuhörer Rau haften, an ihnen orientiert sich später seine Erinnerung.
Die anekdotisch verdichtete Art der punktuellen Lebenswahrnehmung und -beschreibung mußte sich dem jungen Johannes Rau noch aus einem anderen Grunde anbieten: Nie hat er Leben und Lernen als einen gleichmäßigen, stetigen Verlauf erfahren. Seine ohnehin kurze Schulzeit bis zur Obertertia ist ein kriegsbedingtes chaotisches Durcheinander von Schulwechsel, Evakuierung und Krankheit, das später nie durch eine Zeit systematischen Lernens und Denkens an einer Hochschule aufgefangen wird. Vielmehr folgt - Johannes Rau kann es eindrucksvoll erzählen - mit der Buchhändlerlehre und ersten Versuchen im Journalismus eine hektische Zeit autodidaktischer Aufholarbeit, eine »Lese-Neurose«, wie Rau seine ziemlich wahllose Bücherfresserei nennt, und geradezu eine Schreibsucht. Beflügelt wird er durch den - vergeblichen - Wunsch nach Anerkennung durch den Vater.
Davon ist viel geblieben. Auch heute noch muß die Fülle und Farbigkeit von oft sehr zufällig zusammengerafften Details herhalten als Ersatz für systematische, kontinuierliche Arbeit. Umgekehrt versteckt er manchmal genaue Sachkenntnis hinter vagen Witzeleien.
Damit verblüfft und erschreckt Johannes Rau seine Mitarbeiter und Zuhörer. Sicherheit dürfte ihm diese Methode kaum vermitteln. Um so schärfer hat er seine Fähigkeiten entwickelt, Zweifel, Mißtrauen und Unbehagen in seiner _(Photo auf Raus Schreib tisch. )
Umgebung zu wittern und im Gespräch im Keime zu ersticken.
Die politische Verwendbarkeit der Anekdote ist augenfällig. Die pointierte Kurzform eignet sich vorzüglich zum Einfangen und Einstimmen von Zuhörern. Lob und Tadel, Unbehagen und anfeuernde Begeisterung, jede Art von Botschaft läßt sich mit ihr transportieren. Je konkreter die Darstellung ist desto glaubwürdiger erscheint sie.
Johannes Rau weiß die Anekdote virtuos zu nutzen. Er kann bissig erzählen und nachdenklich, belehrend, moralisierend und aufmunternd. Vor allem Kabinettskollegen und Genossen übermittelt der Kandidat seine Kommentare gern in Anekdotenform: »Entschuldige mal, daß ich dich unterbreche, aber da fällt mir eine Geschichte ein.«
So verpackt er seine Mahnung, über die eigene Wichtigkeit nie die Situation der Mitmenschen zu vergessen, launig in einer Anekdote, die vordergründig von Raus Hochzeit 1982 handelt: »Es war ein warmer Sommersonntag auf Spiekeroog; und es hatte keiner davon gewußt. Deshalb bin ich direkt nach der Hochzeit in die Sakristei gegangen und habe Anrufe gemacht bei Leuten, von denen ich meinte, daß sie Bescheid wissen sollten. Draußen haben derweil die Gäste gewartet, die mit uns feiern wollten. Einer, den ich anrief, war Helmut Schmidt. Dem sagte ich, ich müsse ihm was erzählen, etwas Wichtiges: Ich hätte gerade geheiratet.
Darauf er: ''Du bist doch schon ziemlich alt.''
Ich: ''51.''
Er: ''Und deine Frau?''
''Die ist etwas jünger.''
''Wie alt?''
''Halb so alt.''
''Ich habe dich gefragt, wie alt sie ist; das kann man doch beantworten. Also ist sie 25?''
''Ja. Aber sie wird bald 26.''
Und dann fragte er mich, was ich von einigen linken Parteifreunden hielte; aber er wollte eine Antwort gar nicht hören. Er war froh, am Telephon jemand gefunden zu haben, mit dem er reden konnte. Und so sprach er fast eine Dreiviertelstunde. Draußen schien die Sonne, es wartete die Braut und die Festversammlung. Und endlich durfte ich dann gehen.«
Der abschätzige Ton, mit dem der »Conferencier« Rau von seinen Bonner Kollegen und von vielen Journalisten unter die politischen Leichtgewichte gerechnet wird, ergibt sich nicht nur daraus, daß Gelächter dem Deutschen allemal als unpassendes Begleitgeräusch zum Ernst des Lebens erscheint. Zu Recht schwingt darin auch der Verdacht, Johannes Rau gebrauche seine Gabe als Tarnung. In der extremen Einschätzung heißt das: Viel lustiger Lärm vor Nichts.
Richtig ist zunächst einmal, daß Johannes Rau sein Erzähltalent meisterhaft einsetzt, um von Themen abzulenken, die ihm unangenehm sind. Fragt man ihn, ob er seine unvollendete formale Bildung als Handikap erlebe oder gar als Chance, dann erzählt er, weit ausholend, die Geschichte vom Professor für Zahnmedizin, den nur eins im Leben wirklich interessiert: »Wurzelperforationen oben rechts«.
Erkundigt man sich, wie denn die Familie Rau auf die Idee gekommen sei, in den Notzeiten um 1945 zu den eigenen fünf Kindern noch zwei weitere aufzunehmen, erfährt man zunächst einmal die Geschichte von einem Pastor mit Kopfschuß, der vorzeitig pensioniert wurde, weil er sich am offenen Grab teilnehmend bei einer Witwe erkundigt hatte: »Hamse denn schon was Neues?«
Richtig ist ferner, daß gerade sehr konkrete Geschichten geeignet sind, Fragenden die Frage zur Selbstbeantwortung zurückzuspielen. Will man von Johannes Rau wissen, ob er die 1945 einmarschierenden Amerikaner als Befreier oder als Feinde erlebt hat sagt er: »Die ersten, das waren zwei, die hatten ein Mädchen im Arm, das war eine Mitkonfirmandin von mir, die kaute Kaugummi und fraß Schokolade. Das fand ich ganz unmoralisch.«
Eine klare Antwort auf die Frage wird ersetzt durch die Schilderung einer konkreten Situation. Auch das entspricht den Charakteristiken der Anekdote, die eine Situation beschreibt, in der alles - das einzelne und die übergeordnete Tatsächlichkeit - an einer Stelle zusammenwächst (lat. concresco): konkret wird und damit glaubwürdig. Der Gewinn für den Erzähler liegt darin, daß er die Frage damit sozusagen zurückgibt: Für was hätten Sie denn in dieser Situation die Amis gehalten?
Antworten, in Form von Geschichten oder Anekdoten gegeben, sind überhaupt wahre Vielzweckwaffen der Irreführung: Sie können Probleme verniedlichen, Zusammenhänge unkenntlich machen, klare Fronten verwischen. Durch die gleiche anekdotische Aufbereitung wird sehr unterschiedlich Gewichtiges auf dieselbe Ebene gehoben. Alles wird gleich gültig. Gleichgültig?
Pointen entspannen kontroverse Situationen, Gelächter erzeugt Harmonie auch wenn die umstrittene Sache umstritten bleibt. Kein Wunder, daß um Johannes Rau herum häufig gerätselt wird, daß Mißverständnisse entstehen, Unklarheit und Unsicherheit herrschen.
Richtig ist endlich auch, daß die Form der Anekdote dem Erzähler erlaubt, selbst bei klarem Tadel und bissiger Kritik sich der Haftung zu entziehen. Er kann seinen Mißmut beliebig verkleiden - die Träger seiner Botschaften in fremden Ländern oder fernen Jahrhunderten ansiedeln. Von Klein Fritzchen über den Genossen Hans-Otto bis Graf Bobby kann er die gesamte Statisterie der Witzewelt auftreten lassen, um Oskar Lafontaine oder Helmut Kohl als Armleuchter oder Dummkopf zu entlarven. _(Nach seiner Wahl in München 1982 ) _(gratulieren ihm Helmut Schmidt, ) _(Hans-Jürgen Wischnewski; daneben Willy ) _(Brandt, Hans-Jochen Vogel, Oskar ) _(Lafontaine (v. r.). )
Johannes Rau selbst würde das nie tun. Hat er das etwa gesagt? Selbst wenn man es so verstanden hat, gemeint hat er es jedenfalls nicht. Wie er es denn gemeint habe? Also, da fällt ihm eine Geschichte ein. Kennt Ihr die?
Ein sehr feines Netz von indirekten Informationen und Abhängigkeiten entsteht auf diese Weise. Manipulative Kräfte fließen vom Sender zum Empfänger in einen Kreislauf, für den nie jemand direkt verantwortlich ist. Die verdeckten Botschaften des Rätselonkels erzeugen auf Dauer eine Hierarchie von Kennern und Bescheidwissern, die das Orakel zu deuten wissen. Die sind mächtig, freilich immer in der Gefahr, vom Erzähler desavouiert zu werden.
Haben also nicht alle recht, die den beliebten Kinderfest-Zauberer Johannes Rau einen Täuscher nennen, einen, der Kaninchen, wenn nicht rosa Elefanten aus einem Hut zaubert, in dem nichts ist?
Johannes Rau mag trickreich sein, aber er ist kein bloßer Trickser. Niemandem, schon gar nicht ihm selbst, wird es wohl gelingen, in irgendeinem konkreten Augenblick Sein und Schein, Überzeugung und Kalkül, Erzähltes und Gemeintes klar voneinander zu scheiden.
Natürlich versteckt er sich hinter seinen Geschichten, weil er weiß, daß sein Geheimnis Macht darstellt: Ach, wie gut, daß niemand weiß ... Nur, daß das Rumpelstilzchen Johannes Rau sein Geheimnis wohl sogar vor sich selbst hütet.
Es versteht sich von selbst, daß ein Mann dieses Zuschnitts sozusagen per Definition unbeschreiblich ist. Johannes Rau mag sich zwar unentwegt darüber beschweren, daß alle ihn falsch sehen und ungerecht beurteilen. Aber er will sich, ums Verrecken, wie man so sagt, nicht treffen lassen. Deshalb erzählt er sich, die Welt und seine Politik in immer neuen Gleichnissen. Nicht daß er nicht eine feste Überzeugung davon hätte, wie alles sein sollte. Doch dieses Bild ist eher zu erfühlen und zu erahnen, als mit Worten klar zu umreißen: Es ist eine eher christlich als sozialistisch gefärbte Vision, sein Jerusalem. Jeder Versuch, sie real festzuschreiben, würde sie als unzulänglich entlarven.
Tatsächlich deutet vieles darauf hin, daß die Johannes Rau umflirrende Undeutlichkeit ein Zustand ist, der ihm nicht einfach widerfährt, sondern den er mit Fleiß befördert. Man wisse nicht genau, wie seine Politik beschaffen sei? Rau: »Vielleicht wollen die Menschen einen Spitzenmann, der sich stärker auf eine scheinbar unpolitische Art darstellt.« Scheinbar. Er selbst hält seine Methode für sehr politisch. Und hat er nicht, bisher wenigstens, Erfolg gehabt?
Ganz falsch aber liegen jene Kritiker des Kandidaten, die aus seiner leichten und leutseligen Art des Auftretens auf einen schwächlichen Charakter schließen, dem es an Härte und Durchsetzungskraft fehle. Gewiß, empfindlich und sensibel ist er, ein Seelchen gegenüber jedem Versuch, ihn festzunageln. Aber ist nicht sein Lamento in der Vergangenheit auch Voraussetzung für seine Siege gewesen?
Mitgefühl von Millionen macht stark, das weiß man nicht erst seit Richard Nixon. Alle seine Siege und Ämter hat Rau aus einer Position der Unterschätzung heraus gewonnen. Das mag daran liegen, daß er mit seinen lustigen Erzählungen nicht nur die Probleme verniedlicht, sondern auch sich selbst.
Es mag aber auch daran liegen, daß leicht als Softie verkannt wird, wer mit sanfter Stimme antritt statt mit harten Bandagen. In Wahrheit aber ist der Anekdoten-Erzähler bei all seiner Gefälligkeit ein mächtiger Mann, einer auch, der nicht die geringsten Skrupel hat, von seiner Macht Gebrauch zu machen. Er bereitet die Welt zu. Er greift in die Fülle der Tatsachen, wählt aus, was er braucht, läßt weg, was ihn stört. Er ordnet das Geschehen in seinem Sinne, macht es schlüssig. Zuhörer folgen seinem lenkenden Blick. Erzählen heißt immer auch, sich in den Besitz eines Definitionsmonopols zu bringen.
Unter Gleichen ist das nur demjenigen erlaubt, der die Fähigkeit hat, den richtigen Augenblick zu finden und den richtigen Ton. »Für Anfang und Ende ist ein angriffslustiger und etwas gewalttätiger Charakter nötig«, hat der tschechische Schriftsteller Karel Capek über den Typ des Anekdoten-Erzählers geschrieben. Wenn er aber die Gabe besitzt, die entstehende Spannung durch pointierten Vortrag in Gelächter oder ein Aha-Erlebnis aufzulösen, dann gehört er freilich, im Showgeschäft wie in der Politik, bald nicht mehr zu den Gleichen.
Johannes Rau hat sich längst in die Position erzählt, in der er das Wort nicht mehr im gesellschaftlichen Handstreich ergreifen muß. Es wird ihm nur allzugern erteilt. Daß er offenbar glaubt - um im Kreise der »sekundären Analphabeten« von Bonn mithalten zu können-, sich fortan auf die stückweise Wiedergabe seines Ahlener Programms beschränken zu müssen, enttäuscht nicht nur seine Zuhörer. Es scheint ihn auch selbst tief zu bekümmern.
Und weil es auch im eigenen Beraterkreis nicht an Smarties fehlt, die »das Geplapper« des Kandidaten am liebsten zur glattschillernden Anti-Sprechblasen-Sprechblase hohlpusten würden, erzählt er ständig die Geschichte von dem Unglücklichen, der die Nase voll hat von der Schule. Es ist sein Lieblingswitz. Seine Frau und seine Mitarbeiter verziehen schmerzlich die Gesichter, wenn er ihn ankündigt, nicht nur wegen der Wiederholung.
Kennen sie den?
»Mutter, ich will nicht mehr«, sagt der Überdrüssige, »kein Lehrer kann mich leiden, und alle Mädchen lachen mich aus.« Darauf die Mutter: »Junge, das mußt du durchhalten, du bist ja erst fünf Jahre Rektor.«
Mit Ehefrau Christina und Sohn Philipp-Imma nuel (l.).Photo auf Raus Schreib tisch.Nach seiner Wahl in München 1982 gratulieren ihm Helmut Schmidt,Hans-Jürgen Wischnewski; daneben Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel,Oskar Lafontaine (v. r.).