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SOWJET-UNION Jungfräuliche Gewässer

Ähnlich wie Urlauber in westlichen Ländern klagen auch sowjetische Touristen in der UdSSR über abgesperrte Seeufer.
aus DER SPIEGEL 37/1972

Ein »Paradies hinterm Bretterzaun« entdeckte die Moskauer »Prawda": die Seeufer im Ural. Betriebe und Organisationen nahmen dort die besten Plätze für ihre Erholungsheime in Besitz. Urlauber und Wanderer, die auf eigene Faust und ohne Einweisungsschein ("Putjowka") anreisen, dürfen nicht ans Ufer.

Tadelnd erzählte das Parteiblatt die Geschichte eines braven Bürgers aus dem Ural, der von den überfüllten und teuren Kurorten Jalta und Anapa am Schwarzen Meer träumte, sich aber vom Fernsehen davon überzeugen ließ, daß »das wahre Paradies für den Urlauber der Ural« sei, mit »Kiefernwald, kühlen, jungfräulich reinen Gewässern und grünem Gras am Ufer«.

Der Uralbewohner, der sich im letzten Urlaub am Schwarzen Meer beim Schlangestehen nach einem Liegestuhl einen Sonnenstich holte, beschaffte sich Zelt und Rucksack und machte sich auf in das heimische Paradies. Doch als er am See Baltym ankam, fand er an dessen Ufer -- einen Zaun. Er versuchte es »weiter links« und »weiter rechts«, aber dort waren die Zäune -- so die »Prawda« -- »noch höher«. Empört klopfte der Camping-Freund an den Bretterzaun, hörte aber nur eine mürrische Stimme: »Hast du eine Putjowka? Nein? Dann gibt es hier auch nichts zu klopfen!«

Der so Abgewiesene zündete sein Lagerfeuer nun neben dem Bretterzaun an -- nur gelegentlich erhaschte er durch eine zufällig nicht verstopfte Ritze einen Blick auf den »jungfräulich reinen See«. »Wir übertreiben keinesfalls«, gestand die »Prawda« und deutete damit an, daß die Platzsuche des Bürgers aus dem Ural kein Einzelfall ist.

Tatsächlich versucht in der Sowjet-Union jeder Betrieb, jede Fabrik, jede Gewerkschaftsorganisation und jedes Ministerium, für die Mitarbeiter eine Erholungsstätte am Wasser zu bauen. Das halt die »Prawda« für »lobenswert«, befindet aber auch: »Das Schlimme ist, daß die Betriebe danach streben, ihre Villen mit dem angrenzenden Strandabschnitt so sicher wie möglich mit Zäunen abzugrenzen.«

Die Einfriedung der Seeufer wurde im Gebiet der Uralstadt Swerdlowsk bereits zu einer »reinen Epidemie' ("Prawda"). Den See Isset teilen sich einige mächtige Bautrusts wie »Uralmaschstroi« und »Uralpromstroi«, die sogar so hohe Zäune um ihre Reime bauten, daß »hinter ihnen nicht einmal mehr der Wald zu sehen ist«.

Eines Tages bemerkten ein paar sonnenhungrige Isset-Urlauber, die sich auf einem kleinen Fetzen noch freien Bodens drängten, wie sich eine Kolonne von Bulldozern »einer Herde Elefanten gleich« ("Prawda") zum Wasser bewegte. »Die Mechaniker des Kieswerks fahren zum Baden«, dachten die Ausgeschlossenen.

Doch die Bulldozer kehrten um und verschwanden im nahen Wald. Eines Tages war der Wald verschwunden. Zäune wurden gebaut, darauf ein Schildchen: »Kollektivgarten des Isset-Kieswerks«. Und hinter der Einzäunung schossen auf zehn Hektar Land dreistöckige steinerne Einzelhäuschen »wie Pilze aus dem Boden« ("Prawda"). »Für die Touristen aber«, so klagte das Parteiblatt, »blieben nur Sümpfe und Moraste.«

Nicht nur der See Isset ist für den Publikumsverkehr nahezu gesperrt. Auch der schönste See des Swerdlowsker Gebiets, der Tawatui, wird von »Putjowka«-Städtern bevölkert, die Einzel-Reisende vorn Natur-Genuß aussperren. Am Tawatui hat sich die Ural-Verwaltung für Geologie häuslich eingerichtet. Die schönste Ecke nahm sich das Institut für Metallphysik. Dort stellte sich die »Prawda« spöttisch einen »gesetzten Physiker vor, wie er einsam am verlassenen Ufer entlangirrt, langsam verwildert und anfängt. Gedichte zu murmeln«.

Auch die Firmen Uralmasch, Uraltep, die Transportverwaltung aus Sredneuralsk und ein Turbomotorenwerk zäunten ihre Besitztümer ein.

Am Ufer des Sees Pestschanoje ist nur noch ein Mullabladeplatz zugänglich, der See Bagarjak kann nur durch einen Sumpf erreicht werden, ebenso der See Gluchoje.

Zwar haben die Sowjets (Räte) von Swerdlowsk Verordnungen erlassen, die den Erholungsheimen verbieten, die Grundstücke einzuzäunen. Aber, so klagte das Parteiblatt, »die Betriebe, Besitzer der Hütten und der Einzelhäuser, haben sich vor diesen Verordnungen hinter ihren Zäunen versteckt«, und die Kommunalverwaltungen kontrollieren sie nicht.

Denn die Verwaltungsfunktionäre besitzen zumeist selber eine Datscha am Ufer oder haben ein Recht auf ein Einzelzimmer in einem Erholungsheim. Sie möchten lieber unter sich bleiben.

Der Bürger aus dem Ural fährt derweil doch nach Jalta, denn, so räsonierte das Parteiblatt, »das Meer ist natürlich nicht so jungfräulich rein wie die Uralseen, dafür ist es aber nicht eingezäunt«.

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