»Kabul wird fallen, aber langsam«
Der Alltag ist Krieg und der Krieg Alltag geworden: In Torcham sehnt sich kein Mensch mehr nach Frieden, dafür gehen die Geschäfte zu gut. Schreiend und schnalzend treiben die Schmuggler ihre Tragtiere auf der Teerstraße über die Grenze, Kamele und Esel, schwer bepackt mit japanischen Fernsehern und Klimageräten - Importen aus dem Hafen Karatschi, angeblich für Kabul bestimmt.
Einen symbolischen Augenblick nur betreten die Karawanen afghanisches Staatsgebiet, dann machen sie kehrt und trotten auf einem steilen, staubigen Pfad zurück, dorthin, wo die Lastwagen warten, die alle Konterbande erst nach Torcham und nun wieder heim befördern. Das Spiel hat der Krieg erfunden: In Afghanistan sind die Steuern viel, viel niedriger als in Pakistan.
Die Zöllner sehen mürrisch durch die Schmuggler hindurch, ihr Bakschisch ist niemals hoch genug. Und die vier Uno-Offiziere mit den himmelblauen Mützen auf den blonden Häuptern haben nur ihren Befehl im Auge: Unbefugten den Zutritt zum Kriegsschauplatz zu untersagen. Dem Auftrag wären nicht einmal die himmlischen Heerscharen gewachsen, denn an der 2000 Kilometer langen Grenze sind nur 20 Blaumützen postiert, um pakistanische Truppen- und Waffeneinfuhren zu verhindern.
Die Häuser auf dem Hügel stehen in Pakistan, die im Tal sind afghanisch: Im Grenzdorf Torcham hinter dem Khaiber-Paß endet der Frieden, beginnt der Krieg. Anfang Dezember schlug eine Scud-Rakete aus Kabul die Polizeistation entzwei, sie spaltete die braune Ziegelwand und zerfetzte zwei Männer. Das Loch wird nicht ausgebessert, es soll an den kommunistischen Terror erinnern und an den Sieg der Mudschahidin: Am 25. November 1988 hatte der afghanische Widerstand die afghanische Armee aus Torcham verjagt.
Am Brunnen gegenüber waschen sich Schmuggler, Zöllner und Flüchtlinge, um ihr Mittagsgebet verrichten zu können. Indem sie die Grenze überschreiten, verwandeln sich abgerissene Flüchtlinge aus den wüstenheißen Lagern von Peschawar in Mudschahidin, sogenannte Gotteskrieger. Eine Kalaschnikow macht aus jedem Jüngling einen Widerstandskämpfer: Der Krieg hat ihn grenzenlose Freiheit gelehrt, er kann weder schreiben noch lesen, aber töten. Kinder bieten Handgranaten und Maschinenpistolen zum Kauf an, für alle Fälle.
In Torcham holen die Mudschahidin noch einmal tief Atem, ehe sie in die Schlacht ziehen, nach Dschalalabad, 74 Kilometer weiter westlich. Bis Kabul sind es dann noch mal drei Stunden, noch mal 150 Kilometer, wenn es die Bomber erlauben.
Die Männer mieten einen kleinen Lastwagen, 900 Rupies, 90 Mark für Hin- und Rückfahrt, hocken sich auf die Ladefläche, flüstern mit ihren Kalaschnikows und Panzerfäusten und üben das Gelächter ein, das sie vor Bomben und Artilleriegranaten schützen soll; anderen Schutz besitzen sie nicht.
Rahman Dal, der Kommandeur, ein geschwätziger Weißbart, Malik, Chef ihres Dorfes, hat sie mit Munition und braunem Haschisch versorgt. Dann rasen sie an die Front. Der Dschihad, der heilige Krieg, geht ins zehnte Jahr und erwartet sie. Bewährungsproben: Aus ein paar Wochen Krieg für Dschalalabad, Khost oder Kandahar steigen sie als Helden empor, tot oder lebend.
Afghanischer Rechtsverkehr löst pakistanischen Linksverkehr ab, die Chauffeure sind anfangs immer verwirrt, weil die von Bomben aufgerissene graue Teerstraße, sowjetische Vorkriegsentwicklungshilfe, ihre eigenen Regeln hat. Fahrradfahrer strampeln schwitzend Richtung Grenze. Ein rotweißer Bus hält den Liniendienst Torcham-Dschalalabad aufrecht, Bauern treiben magere Kühe vor sich her. Kinder füllen die Bombentrichter mit Erde auf und fordern kreischend ihren Lohn. Alle Brücken sind gesprengt.
Bis zur Staatsfarm Ghaziabad, 7500 Hektar verdorrende Orangen- und Olivenkulturen samt Öl- und Saftfabriken, von georgischen Ingenieuren lange vor der sowjetischen Invasion im Dezember 1979 angelegt, bis Ghaziabad schirmt eine Tamariskenallee die Straße gegen den Himmel ab. Danach ist Kahlschlag, freies Feld ringsum: Die afghanische Armee hat alle Bäume gefällt, ohne Deckung rasen die Mudschahidin auf Dschalalabad zu. Anhalter winken mit ihren Waffen und schießen wütend hinter ihren Waffenbrüdern her.
Am Himmel hoch brummen Bomber. Wenn die Bomben einschlagen, weit entfernt, aber nicht fern genug, macht der Lastwagen einen kleinen Sprung. Frauen und Kinder mit leergeweinten Gesichtern kauern im weißen Staub, im Schatten der letzten Tamarisken. Seit dem 6. März, seit dem Sturm, dem vergeblichen Sturm der Mudschahidin auf Dschalalabad, sind 62 000 Menschen aus der Provinz Nangarhar geflohen.
Alle Transporte werden kontrolliert, jedermann ist verdächtig, ein abtrünniger Chalki zu sein: So werden die Feinde genannt, die Chalkis bilden die unbeugsame Fraktion der Kabuler Kommunisten. Von Haß und Rachsucht verblendet, bestimmen die Mudschahidin jetzt selber, wer ihr Feind ist.
Der Frühling überzieht die kahlen braunen Berge mit grünem Flaum, saftig glänzen die Weiden, doch wo sind die Nomaden mit ihren Schafen? Auf den Feldern wachsen Weizen, Hafer und Mohn. Zwei junge Bauern bieten den braunen Brei an, den sie aus den unreifen Mohnkapseln gepreßt haben, bitter schmeckendes rohes Opium. Von ihrem kleinen Feld erhoffen sie sich fünf Kilo Ernte, das Kilo bringt 1000 pakistanische Rupies, 100 Mark.
Vor dem blauen Himmel leuchten die weißen Gipfel des Hindukusch. Der Kabul-Fluß glitzert, im Tal liegt Dschalalabad. Die Dörfer an der Straße sind nur noch Ruinen. Sogar Schulen und Hospitäler haben die Mudschahidin in die Luft gesprengt. Im Gras zerfallen Leichen, sie stinken in der Hitze, niemand begräbt sie. »Es sind Chalkis«, sagt der alte Rahman Dal.
Alle fünf Minuten heult ein Artilleriegeschoß über die Straße, Samarchel, ein Trümmerhaufen, löst sich im Fünf-Minuten-Takt in Staub auf. Die Garnison am Kabul-Fluß fiel den Mudschahidin am 6. März in den Schoß. Ein müheloser Triumph, er sollte, schworen die Eroberer, sofort in Dschalalabad wiederholt werden.
Die Besatzung von Samarchel, 500 Soldaten, ergab sich nach zweieinhalbstündiger Attacke dem schmächtigen Sajjid Mohammed Pahlaman und seinen 800 Kriegern von der moderaten Monarchistenpartei Nifa. Ihr Handstreich wurde begünstigt durch Angst, Feigheit und hemmungslose Fahnenflucht. Die anderen Kriegsparteien auf dem Schlachtfeld Afghanistan - sieben sunnitische und acht schiitische Armeen kämpfen mit Kabul und untereinander um die Macht - die Konkurrenz der Heerführer ahnte von dem Blitzüberfall nichts.
Samarchel, bis zum April 1988 das östliche Hauptquartier der sowjetischen Invasionsarmee, danach Operationszentrale der 11. afghanischen Division, war vollgestopft mit allen Schätzen Moskaus: Panzern, Kanonen, Minen, Munition, ein Arsenal für fünf Jahre Krieg - Uniformen, Ausrüstung, Lebensmittel, Luxus (Eisschränke, Fernseher, Klimageräte aus Japan). Die Mudschahidin gruben sich hinein und trugen davon, soviel sie davontragen konnten. Kriegsbeute ist ihr einziger Sold.
Erschrocken über die rasende Habgier, befahlen die Kommandeure Halt. Die grauen Wellblechbaracken und die tief in die Berge getriebenen Bunker werden seitdem von 80 Mudschahidin aller sieben Sunniten-Parteien bewacht. Die Wächter hocken unter dünnen Zeltplanen. Fünf Minuten Leben, zehn Sekunden Furcht: Die afghanische Armee beschießt aus Dschalalabad ihre alten Munitionsdepots, vorgestern flog das erste in die Luft, 32 Tote.
Die Geschosse heulen heran, bis sie so nahe detonieren, daß sie nicht mehr mit den Ohren zu hören sind, sondern nur noch mit dem Magen. »Seit März haben wir 160 Männer verloren«, sagt ein Junge und lacht und lacht und dreht nur deshalb nicht durch, weil ihm die Kraft fehlt. Über den verwesenden Leichen der afghanischen Soldaten stehen Fliegen in dicken schwarzen Wolken. Die Mudschahidin beten fünfmal am Tag zu Allah, aber ihre Feinde hassen sie über den Tod hinaus; ihre Feinde, die ihre Brüder sind, Afghanen wie sie, Patrioten wie sie, Moslems wie sie.
»Wir haben so schrecklich gelitten«, sagt Mohammed Nader, er hat in den Ruinen Rosen gepflückt und zerkaut ihre Blätter. »Wir haben so viele Opfer gebracht, wir wollten unsere Rache.«
Nach der Einnahme der Garnison Samarchel sollten die Gefangenen auf acht Lastwagen nach Peschawar gebracht werden. Die ersten sieben passierten die Straßensperren, den achten stoppten die Kämpfer des rotbärtigen Junis Chalis, des Chefs der Hisb-i-islami: Sie erschossen 25 Soldaten, Afghanen wie sie, Patrioten wie sie, Moslems wie sie, und warfen die Leichen neben die Straße ins Gras.
Unter dem Vorwand, die Ordnung wiederherzustellen, üben sie bedenkenlos Gewalt aus. Das Dorf Samarchel, 1200 Haushalte in der Nachbarschaft von Kasernen und Bunkern und Kanonen, lebte, mitten im Krieg, friedlich an der Seite von sowjetischen Besatzungstruppen und der afghanischen Armee; die Händler trieben Handel mit Gerechten und Ungerechten. Bis zum Fall von Samarchel, bis die Gerechten das Dorf plünderten und wüteten, als hätten sie Feindesland erobert. Sie stahlen alle Teppiche, Eisschränke, Fernseher.
Die furchtbaren Befreier machen den Befreiten angst: Dschalalabad wird seit 90 Tagen von seinen Befreiern zerstört. Wenn die Stadt erobert ist, wird es kein Dschalalabad mehr geben. Die alte afghanische Winterresidenz, fünftgrößte unter den Städten, früher von 57 000, heute nur noch von 20 000 Menschen bewohnt, ein Gefängnis, bewacht von 20 000 Soldaten, Dschalalabad wird als Stalingrad des afghanischen Kriegs untergehen: eingekreist von 5000 Mudschahidin - sie haben sich in die eroberten Außenposten eingegraben.
Anstatt nach jedem Angriff ihre Haut zu retten, wie sie es gewohnt waren, müssen sie jetzt Gegenangriffe ertragen, Bombardements und Artilleriefeuer Tag und Nacht. »Davonlaufen ist keine Lösung, wir brauchen Ausdauer«, sagt der schmächtige Kommandeur Pahlawan, der »Löwe von Samarchel«.
Ausdauer? Unerschütterlich schießen die Mudschahidin von allen Seiten nach Gutdünken aus erbeuteten Panzern und Kanonen auf Dschalalabad. Sie sind ungeübt im Gebrauch von schweren Waffen. Die Geschosse landen immer wieder in den Stellungen ihrer Waffenbrüder. Ehe sie getötet werden, verlassen die Bewohner ihre Stadt, »doch jetzt«, sagt Pahlawan, »sitzen sie als Geiseln der Chalkis fest«.
Aus dem Guerillakrieg ist ein klassischer Krieg geworden, seinen Ausgang entscheiden Nachschubexperten und geduldige Strategen. Nachschub, Geduld und Strategie kommen allerdings im Wörterbuch der Mudschahidin nicht vor. Auch Eintracht und Zusammenarbeit widerstreben ihrem Stolz. Schützengräben sind ihnen verhaßt, sie fühlen sich »genauso eingesperrt wie die Soldaten in Dschalalabad«.
Die Moral leidet im Stellungskrieg, das Auf-der-Stelle-Kämpfen ist für sie kein Kampf. All ihre Zuversicht ist geschwunden, 800 Männer sind schon gefallen. Mohammed Nader murrt hinter dem Rücken seines Kommandanten: »Wir sind 500, aber jeder kämpft für sich. Die Chalkis in der Stadt kämpfen für Kabul, alle. Uns sagt keiner, wie wir kämpfen sollen. Wir kämpfen wie immer, aber der Krieg hat sich verändert.« Selbst die Stinger-Raketen treffen nicht mehr: »Früher haben wir mit den Stingers sechs von zehn Flugzeugen heruntergeholt, jetzt explodieren sie in der Luft, weit vor dem Ziel. Wahrscheinlich werden sie in China gemacht, eigens für uns.« Verdrießlich schnüffelt er an einer Rose: »Wir sind Maulwürfe, wir verteidigen uns, wo wir angreifen müßten.«
Dschalalabad widersteht seinen Erlösern: Unaufhaltsam landen Kabuls Hubschraubergeschwader mitten in der Stadt, 25 bis 30 Maschinen jeden Morgen. Selbst die Straße nach Kabul durchbrechen die Regierungstruppen bei Bedarf, ihre Versorgung ist karg, aber ihr Nachschub rollt.
Den von Mudschahidin-Raketen aufgepflügten Flughafen hat längst der Flughafen Mehtar Lam ersetzt, 50 Kilometer im Nordwesten. Die 81. Brigade der afghanischen Armee, eine Eliteeinheit aus lauter Parteimitgliedern, verteidigt mit der Revolution auch ihr Leben.
»Das kann noch lange dauern«, sagt der alte Rahman Dal, »aber irgendwann werden wir siegen.« Es scheint, als habe er vergessen, weshalb Dschalalabad erobert werden soll. Afghanistan hat 270 Distrikte und in jedem ist Krieg: Doch der Fall Dschalalabads muß über die Zukunft entscheiden, so war es im Drehbuch vorgesehen.
Das Drehbuch wurde in Pakistan verfaßt, im schäbigsten Viertel der Hauptstadt Islamabad, in den Büros des militärischen Geheimdienstes ISI (Inter-Services Intelligence). Autoren: Generalleutnant Hamid Gul und sein Adjudant, Oberst Schabir. Der Regisseur des Unheils trägt das Pseudonym Oberst Imam, weshalb, ihm zu Unehren, der vergebliche Sturm auf Dschalalabad als Imam-Schlacht verspottet wird. Der Plan war fein gesponnen, allzu fein:
Der Abzug der sowjetischen Beschützer am 15. Februar sollte die Armseligkeit der afghanischen Armee offenbaren. Das Kabuler Marionetten-Regime, von allen bösen Moskauer Geistern verlassen, bricht zusammen. Auf ihrem Weg nach Kabul, der Straße zum totalen Sieg, nehmen die Mudschahidin Dschalalabad ein und erheben es zur Gegen-Hauptstadt, zum Sitz der Interims-Regierung, die unter Qualen im Februar gewählt wurde. Alle Welt fällt ab von Kabul und hört von nun an in Dschalalabad das Herz des wahren Afghanistan schlagen. 45 islamische Staaten erkennen die junge Regierung an, die Mitte März in Riad tagende Islamische Konferenzorganisation verkündet den Triumph. Nadschibullah, der Herrscher von Kabul, flieht nach Moskau. Sechs Millionen Flüchtlinge in Pakistan und im Iran strömen heimwärts. Endlich Friede.
Happy end: General Gul beweist Pakistan und der neuen Regierung von Benasir Bhutto, daß die Zukunft Afghanistans allein in seiner Macht liegt.
Doch die Phantasien des Generals schätzten die Wirklichkeit allzu gering, sie spielte nicht mit. Ende Mai wurde Gul vom amtierenden pakistanischen Verteidigungsminister - seiner jungen Chefin Benasir - entlassen. Sie hatte unter den afghanischen Visionen Guls immer heftiger gelitten: Ihr eigenes Drehbuch sieht nämlich eine politische Lösung vor.
Mit dem Ende seiner Karriere ist Guls Wirkung nicht erloschen: Bis Dschalalabad galt sein ISI als der wirksamste Geheimdienst der Dritten Welt. Seit Jahren lenkte Gul, als heimlicher Oberbefehlshaber, Aktionen der Mudschahidin. Er inszenierte den Krieg, sie führten ihn aus; die meisten, ohne zu wissen für wen. Hinter dem Rücken der Allianz von Peschawar waren ihm Hunderte von Kommandeuren zu Diensten, die, ein Honorar aus Raketen und Dollars in Aussicht, den Dschihad für ihn erledigten.
Bei Gul waren alle Waffen und Hilfsgüter gelandet. Die Lastwagen der National Logistic Cell (NLC) schafften in langen Karawanen den Segen aus Karatschi nach Rawalpindi oder Peschawar. Ende Februar, die Dschalalabad-Offensive war gerade beschlossen worden, befahl Gul sogar Eilpost: Hercules-Transporter mußten den Nachschub heranfliegen.
Gul war der Manager des Unternehmens Dschihad, die USA und Saudi-Arabien, Hauptlieferanten seines Supermarktes, überboten einander an Wohltaten und Beistand. China hat sich zurückgezogen und schickt statt Raketen nun Medizin. Washington allein nährte den militärischen Betrieb mit, sachte geschätzt, zwei Milliarden Dollar: Die CIA, dem ISI in Wahlverwandtschaft verbunden, mißbrauchte Afghanistan für die größte Operation seit Vietnam.
Und auch die frommen saudischen Prinzen achteten der Millionen nicht: Ihre reichen Spenden fördern den Eifer der Fanatiker, im neuen Afghanistan das Paradies auf Erden zu errichten, ein islamisches Reich. Abdul Rassul Sajjaf, der Premier der Gegen-Regierung, regiert aus saudischen Geldbeuteln.
Der Kriegsherr Gul, photoscheu mit Gründen, belohnte die Tapferen und züchtigte die Eigensinnigen. Seine Favoriten, die Fundamentalisten Hekmatjar und Rabbani, stattete er mit den erlesensten Waffen aus, knapp die Hälfte aller Lieferungen stärkte ihre Kämpfer. Nur über die Luftabwehrraketen vom Typ Stinger mußten sie Buch führen. Entweder der ruchlose Hekmatjar oder der listige Rabbani sollten dermaleinst über Afghanistan herrschen.
Guls Oberst Imam, der Sputnik der Schlachtfelder, beschenkte die Frontschweine mit kleinen Zetteln, »100 Kalasch für Kommandeur X«, stand darauf oder »50 Panzerfäuste RPG-7 für Kommandeur Y«. In den Arsenalen an der Grenze wurden die Schecks eingelöst. Bei jedem Angriff der Mudschahidin war Gul mitten unter ihnen.
Selbst im pakistanischen Kriegsrat sprach die Stimme des Dschihad aus Gul. Afghanen waren niemals dabei, wenn im alten Palast der Ministerpräsidenten in Rawalpindi das Schicksal Afghanistans entschieden wurde. Gul, der Generalvertreter des afghanischen Widerstands: Er handelte für ihn, und die Mudschahidin handelten gemäß seinem Willen. Und sein Wille war das getreue Vermächtnis des Diktators Siaul Hak, seines toten Meisters. Sia ist, fast ein Jahr nach seinem Tod, immer noch das Idol der Gotteskrieger, sein Photo schmückt ihre Waffen.
Vom Geist Sias waren die Ratschläge Guls an seine junge Chefin und die Mudschahidin durchdrungen. Sind die Chalkis in Kabul unsere Todfeinde? Ja! Wollen wir mit ihnen verhandeln? Nein! Also? Also kämpfen wir. Allein der Krieg bringt die Entscheidung.
Im Februar bildeten die Muschahidin die afghanische Interims-Regierung, Gul war ihr Architekt. Ohne Scham führte er Benasir Bhutto seine Künste vor: Die mehr als 400 Delegierten der Schura, der Ratsversammlung, hatte sein ISI ausgesucht und geladen, ihren Ein- und Ausgang segnete Gul. Die afghanischen Räte tagten in der bequemen Herberge der Mekka-Pilger, der Madinat ul-Hudschai von Rawalpindi, als Gäste des saudischen Geheimdienstes, der die Veranstaltung finanzierte.
Zur Schura, dem Parlament der Anti-Kommunisten, aller guten Afghanen, Patrioten und Moslems, war kaum ein Kommandeur erschienen. Auch die Schiiten-Parteien, die vom Iran aus operieren, verweigerten ihre Teilnahme. Guls Unterhändler hatten ihnen nur unbedeutende Regierungsämter angeboten.
Als seine Regierung endlich gewählt worden war, der Monarchist Modschaddadi zum Präsidenten, der Fundamentalist Sajjaf zum Premier, Hekmatjar zum Außenminister und Rabbani zum Minister für Wiederaufbau, der Finanzminister Arsala übt sein Amt in Zimmer 18 von Dean's Hotel in Peschawar aus, Verteidigungsminister wurde Nabi Mohammadi, ein Poet, der Schwächste aller Parteiführer - als die Regierung seiner Wahl sich feierte, muß der General eine Art von Unbehagen empfunden haben. Radio Kabul verhöhnte den Wahlakt der Mudschahidin: »Wir sind die Marionetten Moskaus, und ihr seid Marionetten des ISI!«
Gul rief den Wortführer der Schiiten im Hotel Shalimar an und bestürmte ihn, sich der Regierung doch noch anzuschließen. Karim Chalili spricht nur persisch, ein Dolmetscher übersetzte den Überredungsversuch am Telephon. An diesem Abend hatte Chalili neugierigen Besuch mit guten Ohren.
Widerspenstig sagte er Gul dauernd »nein«, am Schluß schrie er wütend: »Herr General, Sie haben mir gar nichts zu befehlen. Ich nehme meine Befehle nur vom iranischen Geheimdienst entgegen!« Der legt ihm neuerdings nahe, sich über Moskaus Afghanistan-Botschafter mit Kabul zu verständigen: Die Zwietracht der Gotteskrieger ist die Hoffnung ihrer Feinde.
Der Fehlschlag Dschalalabad war das letzte Kommando des ISI. Noch zwei Tage vor dem Angriff ahnten die Kommandeure nichts von der Attacke. Sie hatten andere Pläne, sie setzten auf Verrat und Bestechung: Kommandeure des Widerstands bestachen Offiziere der Regierung, ein bewährtes afghanisches Verfahren. Die todesmutigen Milizen ließen sich ihre Nachgiebigkeit mit Dollars bezahlen und zogen ab. So wurden die Regierungsstellungen in der Provinz Nangarhar geschwächt.
Und dann teilte Oberst Imam denselben Kommandeuren am 4. März mit, daß sie in zwei Tagen Dschalalabad erobern würden. Keine Zeit für Vorbereitungen: »Ihr greift an und reißt sie in Stücke.« Zum erstenmal war ein Befehl zur Zusammenarbeit an sie ergangen. Niemals zuvor hatten sie gemeinsam, unter einem Oberkommando gekämpft. Jeder Kommandeur war nach seinem Geschmack vorgegangen, Sieg oder Niederlage waren sein privates Geschick. Nicht ein Widerstand hatte sich gegen die ungläubigen Kommunisten erhoben, sondern ein tausendfach zerfallener - jeder Kommandeur wollte sein eigenes Afghanistan zurückgewinnen.
Afghanistan, das ist seine Familie, sein Dorf, ein Tal. Jeder Mudschahidin tötete zuerst um seinetwillen, dann für den Islam. Der Heilige Krieg war auch ein Krieg um Geld, Waffen oder Frauen. Und er stellte Traditionen auf den Kopf: In der neuen afghanischen Gesellschaft, die noch nichts von sich weiß, gelten Stammesgesetze wenig. Persönlicher Einsatz, im Krieg errungenes Ansehen, wiegen schwerer als bewährte Bräuche: Ein Ziegenhirt kann Kommandeur werden, sein Mut erhebt ihn über seine niedrige Herkunft.
Ein Glauben vereinte alle, der Glauben an den Heiligen Krieg: Der endete mit der Vertreibung der Schurawi, der Sowjet-Armee. Der Dschihad war vorbei, doch der Krieg ging weiter, von nun an wurde um die Macht in Afghanistan gekämpft. 17 Truppen stehen sich gegenüber, die Armee von Kabul ist die stärkste, nur sie hat ein Leben zu verlieren.
Die sieben sunnitischen Verbände, General Guls ausführende Organe, eifersüchtig bedacht, Erfolge der Glaubensbrüder durch eigene Heldentaten zunichte zu machen, bekämpfen einander und die acht Schiiten-Truppen unter iranischem Kommando. Armee Nummer 17 ist Sahir Schah, der Exil-König in Rom; ihm hat Benasir Bhutto die Rolle des Friedensfürsten zugedacht.
Afghanen gegen Afghanen: Das Land, das alle besitzen wollen, wird von allen mit Inbrunst in Schutt und Asche gelegt. Immer weniger sind die Armeen geneigt, gemeinsame Sache zu machen, da ihr Stück Afghanistan desto begehrenswerter wird, je näher es heranrückt.
»Wir können ihnen nichts befehlen, sie hören ja nicht auf uns. Sie wissen selber nicht, was sie wollen": Noch ehe General Gul gestürzt war, hatte Nasirullah Babar, pakistanischer Generalmajor im Ruhestand, als Todfeind Sias zum Sonderberater der Ministerpräsidentin aufgestiegen, alle Verantwortung für den Fall Dschalalabad geleugnet.
Babar, 61, ist ein Monument von Offizier; sein kleines weißes Zimmer im alten Sekretariats-Palast wird ihm beinahe zu eng: »Nie, niemals haben wir in den Krieg eingegriffen. Und wir werden auch nie eingreifen!« Wir - das ist die seit Dezember 1988 regierende Benasir Bhutto.
Wir, sagt Babar wieder, »wir haben nichts damit zu tun. Wozu gibt es denn die Interims-Regierung?«
Ja, wozu? Der Generalstabschef der Interims-Regierung ist ein schmaler grauer Herr, der eine Leibgarde befehligt und Kriegspläne schmiedet. Sein Titel ist so echt wie seine Zuversicht: Generalmajor Jahja Nauroz, 61. Er hat sein Handwerk gelernt, er ist ein Held mit Vergangenheit. 1980 befreite ihn eine Generalamnestie aus dem Kabuler Pol-i-Charki-Gefängnis, in dem er seit April 1978 als Revolutionsfeind schmachtete. Ernannt hat ihn sein Freund Nabi Mohammadi, der Verteidigungsminister der sunnitischen Peschawar-Allianz.
Wo stammt er her? Wie viele Gewehre hat er? fragen die Mudschahidin vor Dschalalabad. Wie viele Städte haben seine Männer erobert? Im Mai, das Chaos von Dschalalabad schrie nach Ordnung, Anfang Mai begaben sich Verteidigungsminister und Generalstabschef auf eine einwöchige Freundschaftsreise nach Saudi-Arabien. Nauroz wagte nicht abzulehnen, die Zukunft vieler Bankkonten stand auf dem Spiel.
In Afghanistan fiel sein Urlaub niemandem auf, keiner vermißte ihn, da niemand ihn jemals zuvor wahrgenommen hatte. Nauroz' einziges Guthaben ist seine Geduld: Während er »mit den vier mächtigsten Kommandeuren der Provinz Nangarhar die Erwürgung Dschalalabads plante«, gab Oberst Imam den Befehl zur Attacke. Nauroz war ahnungslos.
Entmutigt, gar gedemütigt ist er deshalb keineswegs: »Der Fehlschlag belegt, wie notwendig ein Oberkommando ist. Ich lehre sie jetzt den klassischen Krieg, Armee gegen Armee. Meine Mudschahidin«, sagt Nauroz, er meint alle, doch keiner fühlt sich angesprochen, »meine Mudschahidin sollen nie mehr plündern und morden aus nackter Verzweiflung.«
Dschalalabad hält auch seinem guten Willen stand. Er weiß, weshalb: »Weil wir nicht vereint vorgegangen sind, keine Verstärkung bereitgestellt hatten. Keinen Nachschub organisiert. Keine Artilleristen und Panzerfahrer ausgebildet hatten. Weil unsere Truppen abrückten, sobald sie müde waren oder die Tochter des Kommandeurs die Masern bekam, sie rückten ab, ohne auf Ablösung zu warten, und gaben die Straße nach Kabul einfach frei.«
Nauroz ist nur in Maßen empört. Seine Strategie heißt Einschnürung. »Wir müssen nicht alle Städte erobern« - also auch nicht Dschalalabad. »Wir schneiden einfach alle Zufahrtswege ab und hungern sie aus.« Das ist klüger, als ihnen den Hunger mit Kanonen und Raketen auszutreiben.
»Eines Tages«, sagt der Generalstabschef, müde von seiner Predigt, »muß es eine politische Lösung geben: Die Chalkis werden verschwinden. Wir lassen sie gehen. Wir sind keine Mörder. Schützen können wir sie freilich nicht, Haß und Rachsucht werden über sie herfallen.«
Nauroz will, bis die Vernunft siegt, endlich seinen eigenen Krieg führen. Obwohl General Gul, er stand auch ihm mit Rat und Tat zur Seite, »uns niemals irgendwelche Aktionen aufgezwungen hat. Wir verteidigten ja auch Pakistan gegen den Kommunismus.«
Waffen besitzen seine Mudschahidin genug, »wir brauchen nur Munition«, sagt Nauroz. Noch vor Guls Ablösung gab der ISI sein Liefermonopol auf: Die Waffenfracht des CIA wird jetzt ohne Umwege in die Depots der Interims-Regierung gelenkt.
»Kabul wird fallen«, sagt Nauroz, und überspringt Dschalalabad. »Kabul fällt, aber langsam, im Herbst ist alles vorbei.« #