Kälte: Carters erste Prüfung
»Jimmy Carter«, hatte ein Washingtoner Meteorologe vorausgesagt, »wird seine erste Konfrontation nicht mit den Russen haben, sondern mit dem Wetter.«
So kam es -- und der neue US-Präsident schien nicht einmal übermäßig unglücklich darüber zu sein. »Wenn es diese Krise nicht gäbe«, frohlockte ein Carter-Gehilfe, »müßten wir sie wahrscheinlich erfinden.«
Minus-Temperaturen unter 50 Grad. meterhohe Schneeverwehungen, die in über 20 Bundesstaaten den Verkehr streckenweise völlig lahmlegten, zugefrorene Flüsse selbst im Süden der Vereinigten Staaten, die Versorgung mit Öl, Gas und Nahrungsmitteln unterbrechen -- das war Amerika, wie es Jimmy Carter bei seinem Amtsantritt vorfand.
Wie einst sein großes Vorbild Franklin D. Roosevelt hielt der neue Präsident Carter vom lodernden Kamin des Weißen Hauses aus eine Ansprache an die Amerikaner. Er versprach ihnen eine nationale Energiepolitik. die »besonderes Gewicht auf Einsparungen« legen werde. Energieeinsparungen hatte er seinen Landsleuten schon einen Tag nach seiner Amtseinführung ans Herz gelegt: Sie sollten, wie er im Weißen Haus, die Temperatur auf 18 Grad reduzieren und lange Unterhosen anziehen.
Zum Zeitpunkt dieser Kamin-Adresse waren schon knapp hundert Amerikaner erfroren, nahezu 10000 Fabriken mußten ihre Tore schließen, zwei Millionen Amerikaner verloren durch den »big freeze«, den großen Frost, ihren Job und vergrößerten so das ohnehin schon 7,8 Millionen zählende Arbeitslosenheer auf fast zehn Millionen: Der größten Industrienation der Welt drohte Gefahr.
Im »größten Desaster. das Florida seit 15 Jahren betroffen hat« ("The Miami Herald"), verdarben für 150 Millionen Dollar Zitrusfrüchte. In anderen Bundesstaaten wurde die Ernte fast vollständig zerstört. Geschäftsleute und Industrielle beklagten allein in der schwer betroffenen Stadt Buffalo Verluste in Höhe von über 170 Millionen Dollar.
In acht Bundesstaaten mußten die Gouverneure den öffentlichen Notstand ausrufen, allein in Ohio fällt derzeit für zwei Millionen Schüler der Unterricht aus. Zahllose berufstätige Mutter riskieren schon allein deshalb ihren Job, weil es in den USA kaum Kindertagesstätten gibt.
Was sieh hinter den nationalen Schreckensziffern an Schicksalen verbarg, berichteten Reporter aus verschiedenen Katastrophengebieten:
Am vorletzten Sonntag um fünf Uhr morgens ging bei der Bergmannsfrau Ada Newman, 56, aus der Kleinstadt Fayette der Ofen aus. Das Öl war alle.
Stunden später brachen die Rohre im Badezimmer. Zapfen hingen von der Decke, die Wände glänzten von Eis. Durch einen Spalt in der Tür zur Wohnküche kam schneidender Wind. den auch eine mürbe Wolldecke nicht aufhalten konnte.
Über der elektrischen Herdplatte. der einzigen Wärmequelle im Haus, rieb Mrs. Newman ihre Hände und verfluchte den Tag, an dem sie den Ölofen hatte einbauen lassen. Einen Ölofen -- obwohl sie auf einem Kohleberg wohnt.
Fayette im US-Staat Pennsylvania rühmte sich einst, das »Braunkohlenzentrum der Welt« zu sein, aber als das leicht zu handhabende. schier unerschöpfliche und billige Öl kam, machten in Fayette die Zechen zu.
Als nach einem zunächst gescheiterten Versuch am Dienstag 500 Mann Nationalgarde nach Buffalo, dem schwerstbetroffenen Gebiet, eingeflogen werden konnten, wurden die Männer wie eine Befreiungsarmee begrüßt. »Die Leute liefen uns mit heißem Kaffee und Nahrungsmitteln hinterher«. berichtete ein Nationalgardist.
Nach einem Wasserrohrbruch in einer New Yorker Wohnung.
Im Rathaus hatten ISt> Automobilisten Zuflucht gesucht. Berichtete Bürgermeister Stanley Makowski: »Ich gucke mich um und sehe Leute in Mänteln auf dem nackten Fußboden schlafen, und ich denke, mein Gott, das ist kein Kintopp, das ist die Wirklichkeit.«
In meterhohen Schneewehen steckengebliebene Autofahrer waren am meisten von Kältetod bedroht. »Uns graust davor«, sagte ein Nationalgardist beim Einsatz im Katastrophengebiet, »was wir finden werden, wenn wir die Autos erst ausgegraben haben!« Pete Hamill, Reporter der New Yorker »Daily News«, verbrachte ein Wochenende mit chinesischen, puertoricanischen und argentinischen Bewohnern im Haus Eldridge Street 165 an der Lower Bast Side, das seit Monaten ohne Heizung und Warmwasser ist.
Im fünften Stock hantiert Anita Núnez, 26, aus der Dominikanischen Republik, Mutter zweier Kinder, bei Kerzenlicht. Den Strom hatte das örtliche Elektrizitäts- und Gasversorgungsunternehmen gesperrt, weil sie mit ihrem Gasherd geheizt und die dadurch hohen Rechnungen nicht hatte bezahlen können.
Seit sämtliche Rohre geplatzt sind, muß sie Wasser mit Eimern aus dem Krämerladen an der Ecke holen. Ein Fenster ist notdürftig mit Pappe abgedichtet. Vor ein paar Tagen brachen jugendliche Diebe ein und nahmen Fernseher und Plattenspieler mit.
Im ersten Stock wies die Chinesin Duri Hoa auf das große Loch in der Schlafzimmerdecke, auf die vom Wasser durchtränkten und dann steifgefrorenen Matratzen. »Um drei Uhr nachts brachen die Rohre«, erzählte sie, »das Wasser stürzte aus der Decke auf uns hernieder. Ich konnte nur schnell noch die Kinder in Sicherheit bringen. Die Nacht haben wir auf Küchenstühlen verbracht.«
Das Wohnungsamt bot den Bewohnern der Eldridge Street 165 Evakuierung und Unterbringung in einem Hotel an. Aber, wie in vielen dieser Fälle, weigerten sich die Bewohner, denn sie wollten sieh nicht »auch noch den letzten Rest von Rowdies klauen lassen«, so Aminta Vargas, Mutter von sieben Kindern.
Und sie fürchten darüber hinaus Sabotage: Hausmeister Julio Diaz hatte gerade den Boiler repariert, ein paar Tage später war der jedoch wieder kaputt. Diaz hat den Hauswirt im Verdacht. Lind das ist nicht ganz unbegründet. Daniel Savino, Beamter des New Yorker Wohnungsamtes, vermutet, daß einige der defekten Heizungen in New York absichtlich von Hauswirten zerstört werden, die auf diese Art unliebsame Mieter vertreiben wollen.
Andere Mieter wehrten sieh. Einen meist in Florida residierenden Hauswirt, der seine Mietshäuser in New Yorker Stadt-Gettos verrotten ließ. sperrten sie ein Wochenende in dem Eiskeller ein, den er seinen Mietern in New York zumutet.
In den meisten dieser abbruchreifen Wohnkästen funktionierte die Heizung schon vorher kaum. Mit der Kälte jedoch wurde es dramatisch. Eine städtische Beschwerdestelle in New York bekommt an normalen Wintertagen 4000) bis 5000 Anrufe. Am 18. Januar dieses Jahres waren es 10 000, am darauffolgenden Tag 15 000.
»Wir hatten einen Plan fur einen eventuellen Atomangriff«, klagte West-Virginias Gouverneur John D. Rockefeller, »für einen Energie-Engpaß jedoch hatten wir keinen.«
Dieser Ausspruch spiegelt den Widersinn einer Lehenseinstellung wider, nach der für fast jeden Amerikaner alles zum guten Leben Notwendige unbegrenzt zur Verfügung steht. Zum anderen ging den US-Bürgern in ihren sterilen, klimatisierten Räumen jeder realistische Bezug zur Sprunghaftigkeit der Natur verloren -- Verlust einer amerikanischen Grunderfahrung.
Die ersten Siedler hatten sich auf einen Kontinent einstellen müssen, auf dem die Temperaturen in benachbarten Regionen zwischen 55 Grad plus und 55 Grad minus schwanken können.
Die Siedler lernten Orkane und Wirbelstürme kennen, wie sie in den gemäßigten europäischen Breiten nicht vorkommen. Für die eisigen Schneestürme, wie sie jetzt durch den Nordosten gerast sind, mußten sie überhaupt erst einen Namen finden. Sie benutzten dazu das englische Wort »blizzard«.
Ein Blizzard vom März 1888 in New York lieferte Generationen Gesprächsstoff. Nahezu 400 Amerikaner erfroren, von den Dächern regnete es vereiste Spatzen, erfrorene Pferde streckten alle Viere aus den Schneehaufen.
Die Katastrophe von 1977 kam für das Gros der amerikanischen Bevölkerung überraschend, obwohl Klimatologen und Amerikas Geheimdienst CIA vor möglichen katastrophalen Wetterunbilden gewarnt hatten. Schon 1974 hatte die CIA die Regierung darauf aufmerksam gemacht, daß ein Klima-Umschlag stattfinde, der »bereits zu großen Wirtschaftsproblemen auf der ganzen Welt geführt hat«.
So glaubt der amerikanische Klimatologe Reid Bryson von der University of Wisconsin, auf dessen Studien sich die CIA stützte, daß sich auf der gesamten nördlichen Halbkugel das Klima immer mehr abkühle. In ihrem Report warnten die Geheimdienstier vor durch Wetterumschwünge hervorgerufene Energie- und Nahrungsmittelkrisen, die ihrerseis zu politischen Krisen führen könnten.
»Die Regierung«, so rügten die CIA-Männer, »gibt jährlich 150 Millionen Dollar für kurzfristige Wettervorhersagen aus, aber nur ein Minimum für Klimaforschung. Nur wenige akademische Zentren bilden überhaupt Fachleute auf diesem Gebiet aus.«
Der große Kälteschock, der Amerika zu Beginn der Ära Carter lähmte. wird die Nation und ihre Führung länger beschäftigen als alle Wetter-Katastrophen der amerikanischen Geschichte.
Ob die Maßnahmen, die Jimmy Carter zur Bewältigung des Notstands ergriff, geeignet sind, die Krise zu lösen, ist fraglich. Zunächst drängte er Amerikas Privatindustrie, vorübergehend die Vier-Tage-Woche mit Zehn-Stunden-Arbeitstagen einzuführen, um Energie zu sparen. Doch der Neuling im Weißen Haus hatte den Protest der Gewerkschaften nicht einkalkuliert. Er mußte seinen Plan wieder fallenlassen.
Am Mittwoch voriger Woche schließlich passierte sein erster Gesetzentwurf den Kongreß: Die Ermächtigung, im Notstandsfall die Zuteilung und Preisgestaltung für Erdgas regeln zu können. Denn die Nation, so haben die Experten des Energie-Bevollmächtigten James Schlesinger berechnet, verschwendet 50 Prozent aller ihr zur Verfügung stehenden Energie.
»In einer Zeit, in der Rohstoffe knapp geworden sind«, prophezeite ein Carter-Mitarbeiter, »steht unsere Demokratie vor einer echten Bewährungsprobe.«