C-Waffen Kaffee statt Wahrheit
Das Gelände in einem Waldstück bei Königs Wusterhausen südöstlich von Berlin ist ebenso gut gesichert wie die ehemalige DDR-Grenze. Doppelzaun, Stacheldraht und Schußfeld umgeben das Militärtechnische Institut der Nationalen Volksarmee (NVA). Sämtliches Kriegsgerät der DDR wurde jahrzehntelang hier auf Tauglichkeit überprüft.
Auf einem 1500 Hektar großen Freigelände, umgeben von militärischen Einrichtungen der sowjetischen Streitkräfte, testeten die Militärs ihre Neuentwicklungen. Hier hatten die NVA-Ingenieure sogar genug Platz, um auch großkalibrige Sprengsätze zu zünden.
Die höchste Sicherheitsstufe herrschte jedoch in einem unscheinbaren grauen Nebengebäude an der Schenkendorfer Landstraße. Hinter schweren Eisentüren mit gelb-schwarzen Markierungsstreifen sind dort, eigens durch weitere Doppelschleusen gesichert, fünf Chemielabors eingerichtet.
Nur durch ein Panzerfenster können aus einem Vorraum Experimente beobachtet werden, für die diese Labors ausgerüstet sind: Experimente mit Ultragiften.
In dem abgeschotteten Bau hantierten NVA-Chemiker jahrelang mit tödlichen Kampfstoffen. Ausgerüstet mit modernster Analysetechnik der US-Computerfirma Hewlett Packard und Grundstoffen, die unter anderem von dem Darmstädter Pharmakonzern Merck kamen, untersuchten die Militärchemiker die Wirkung von C-Waffen.
Der wahre Zweck der Militär-Labors wird bis heute verschleiert. »Ganz normale Forschung«, beteuert Generalleutnant Karlheinz Müller, langjähriger Leiter des Militärtechnischen Instituts mit 250 Mitarbeitern, hätten die Militärs in dem Chemie-Trakt betrieben.
Vier Chemiker, so räumt Müller ein, hätten allerdings »in unseren Labors« auch Chemiegifte hergestellt. Kampfstoff »in kleinen Mengen« sei von der NVA geliefert worden.
Die Geheimniskrämerei, die um den jetzt entdeckten Hochsicherheitstrakt gemacht wird, läßt die Versicherungen unglaubhaft erscheinen, mit denen zuletzt Anfang vorigen Jahres der damalige DDR-Außenminister Oskar Fischer vor der Pariser Konferenz zur Ächtung chemischer Waffen Gerüchten über Kampfstoffe im Osten entgegentrat: »Wir entwickeln sie nicht, noch produzieren wir sie.«
Daß in der DDR Kampfstoffe lediglich zu Prüfzwecken synthetisiert wurden, mag jedenfalls Karlheinz Lohs, 61, der Leiter der Leipziger Forschungsstelle für chemische Toxikologie, nicht glauben. »Völlig überdimensioniert«, sagt der Kampfstoffexperte, seien die Labor-Anlagen für den reinen Testbedarf der DDR (siehe Interview Seite 58).
Erst vergangenen Monat bekam Kampfstoffexperte Lohs Kenntnis von den Chemie-Aktivitäten der NVA. »Das hat mir die Augen geöffnet«, sagt der Chemiker, der bei früheren Besuchen im Militärtechnischen Institut jeweils im Verwaltungsgebäude empfangen wurde. In den zahlreichen Fachgesprächen, so Lohs, »haben die mir nett Kaffee, aber nicht die Wahrheit serviert«.
Der Experte, der bis 1961 die Beseitigung von Rüstungsaltlasten auf dem Gebiet der DDR leitete, hätte die Wahrheit eigentlich wissen müssen. Er diente der DDR-Regierung als wissenschaftlicher Berater für chemische Abrüstung bei den internationalen Verhandlungen über ein C-Waffen-Verbot.
Zum Herumprobieren mit Kampfstoffen verfügte die NVA jedenfalls über die nötigen Kapazitäten. Die Chemischen Dienste der NVA, Hauptsitz im Gebäude 9 E des Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung in Strausberg, koordinieren die gesamte Abwehr atomarer, chemischer und biologischer Waffen. In mehreren Industriebetrieben der DDR, wie dem VEB Arzneimittelwerk Dresden, ließ die NVA in Spezialabteilungen chemische Grundstoffe herstellen. Ob dabei Kampfstoffe waren, ist ungeklärt. Eine internationale Expertenkommission, die 1987 das VEB Synthesewerk Schwarzheide im Bezirk Cottbus auf Kampfstoffe inspizierte, fand jedenfalls nichts Verdächtiges.
Im brandenburgischen Storkow benutzten die ABC-Militärs Europas größten Truppenübungsplatz für simulierte atomare, chemische und biologische Angriffe. Bei Übungen, so erfuhren Bundeswehr-Offiziere bei einer kürzlichen Visite, seien auch schon mal geringe Mengen Echtkampfstoffe wie Sarin ausgebracht worden.
Daß auch woanders mit Kampfgas geprobt wurde, könnte ein Zufallsfund belegen, den ein Hamburger Hobbysegler vergangenen Monat bei einem Landgang auf der Ostseeinsel Greifswalder Oie machte. In einem aufgegebenen NVA-Turm entdeckte der Spaziergänger Dokumente über ABC-Übungen.
Da lag noch ein Schulungspapier: »Erklären Sie die Arbeitsvorgänge beim Feststellen von nervenschädigenden Kampfstoffen in gefährlicher Konzentration.« Und ein hinterlassener »Meldezettel« dokumentierte eine Übung vom 24. Februar vergangenen Jahres.
Danach wurde um 14.20 Uhr der Kampfstoff Sarin und eine radioaktive Strahlung mit einer »Dosisleistung« von 0,5 Rem pro Stunde gemessen. Das entspricht dem Zehntel eines für westdeutsche Kernkraftarbeiter jährlich zugelassenen Wertes.
Der Zettel kann freilich auch auf den Einsatz harmloser Imitate verweisen. Bei Übungen außerhalb von Storkow, so erklärt der Chef der Chemischen Dienste, Oberst Rolf Büttner, seien stets nur »Imitationskampfstoffe« eingesetzt worden - wie in allen Ländern, die sich gegen Giftgasangriffe wappnen.
Doch Wissenschaftler wie Lohs halten es für denkbar, daß die Ausbildung in der DDR tatsächlich härter an der Realität orientiert war: »Bei den Militärs herrschte ein gefährlicher Übereifer.«
Das Kampfgas-Know-how jedenfalls war international gefragt. So verhalfen NVA-Offiziere dem Irak zu einem kompletten Manöverfeld für chemische Kampfgruppen bei Bagdad (SPIEGEL 34/1990). Und auch zum Aufbau von Produktionskapazitäten für C-Waffen suchte die nahöstliche Diktatur Saddam Husseins ebenso wie Libyens Staatschef Muammar el-Gaddafi industrielle Hilfe in der DDR.
Mitte der achtziger Jahre ließ die Außenhandelsorganisation der DDR die Lieferung einer großen Pestizid-Fabrik an den Irak prüfen. Nach Begutachtung der Pläne riet die Leipziger Forschungsstelle für chemische Toxikologie dem VEB Chemieanlagenbaukombinat Leipzig-Grimma von dem heiklen Auftrag ab.
Denn in Anlagen zur Produktion des gering giftigen Stoffes BI 58 können nach technisch einfachen Umrüstungen nicht nur Insektenkiller, sondern auch Kampfstoffe hergestellt werden. »Wir haben schließlich«, behauptet Auslands-Verkaufsleiter Hans Schneider, »kein Angebot unterbreitet.«
Offenbar ohne Wissen der NVA-Militärs arbeitete selbst die Stasi mit Ultragiften. In einer ehemaligen Feuerwehrschule im Berliner Stadtteil Bohnsdorf, beim Flughafen Schönefeld, war offiziell der »Zivilschutz« untergebracht. Dort wurden angeblich präparierte Stahlroste für Kellerschächte zur Abwehr von Giftgasen entwickelt.
Tatsächlich beherbergte das stark gesicherte Gebäude aber auch eine Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit. In abgeschotteten Stasi-Laboratorien, mitten im Wohngebiet, experimentierten Geheimdienstler auch mit dem Kampfstoff Sarin. Das bestätigt jetzt der Chefchemiker vom »Wissenschaftlichen Zentrum des Zivilschutzes«, Oberst Wolfgang Trebesius.
Die Stasi-Chemiker hätten zuletzt über 400 Gramm Sarin verfügt, das ausreicht, Zehntausende von Menschen zu töten. Die Experimente, behauptet Trebesius, dienten der Vorsorge vor »chemischen Havarien« in Industrieanlagen, bei denen »ähnliche Giftstoffe« freigesetzt würden.
Die Erklärung des Zivilschützers ist wenig überzeugend. Ganz und gar unerklärlich ist aber, was die Leute von der Staatssicherheit mit den Vorräten des Nervenkampfstoffes VX anfangen wollten, die nach Kenntnis des Giftgas-Experten Lohs noch im vergangenen Jahr in Bohnsdorf lagerten.
Daß Stasi und Volkspolizei sich mit Reizgasen oder Psychogiften zur Niederschlagung innerer Unruhen beschäftigten, scheint Experten noch denkbar.
»Aber der Einsatz von Kriegsgiften«, sagt der West-Berliner Lohs-Kollege Adolf-Hennig Frucht, 77, ein Physiologie-Professor, »wäre die absolute Spitze des Irrsinns.«
Mittlerweile ist im ehemaligen Militärzentrum in Königs Wusterhausen Frieden eingekehrt. NVA-Mann Müller ließ kürzlich ein neues Schild am Eingangstor anbringen: »Institut für Produktprüfung und Industrietoxikologie« heißt die Firma jetzt.
In einem neuen Farbprospekt, mit Anfahrtskarte, werden die »umfangreichen Einrichtungen« für westdeutsche Auftraggeber gepriesen. Die West-Berliner Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung will demnächst als Partner in die NVA-Giftgaszentrale einsteigen.
Auf den frisch gedruckten Visitenkarten weist sich der alte und neue Institutschef Müller jetzt schlicht als Professor Müller aus - der Generalleutnant ist gestrichen.