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KERNENERGIE Kalkulierter Krach

Der Atomstreit in der Koalition geht weiter: Viele Unionspolitiker wollen längere Laufzeiten durchsetzen. Im Gegenzug kündigt SPD-Umweltminister Gabriel schärfere Kontrollen an.
aus DER SPIEGEL 3/2006

Das Machtwort war knapp und unmissverständlich: »Der Koalitionsvertrag gilt«, ließ Angela Merkel ihren Sprecher mitteilen. »Die Regelung zum Atomausstieg kann nicht geändert werden.«

Das Signal war klar: Union und SPD sollten doch bitte die überflüssige Debatte um Kernenergie schleunigst einstellen.

Keine 24 Stunden später war der Streit wieder in vollem Gange. Kaum war ein CDU-Ministerpräsident vor die Fernsehkameras marschiert und hatte längere Laufzeiten für die Atommeiler gefordert, schickte der nächste Spitzengenosse auch schon das entsprechende SPD-Mantra über den Äther: Die Partei werde am vereinbarten Atomausstieg unbeirrt festhalten.

Und die nächste Eskalationsstufe ist bereits gezündet. Während Umweltminister Sigmar Gabriel im SPIEGEL-Gespräch (siehe Seite 37) ankündigt, die Atomaufsicht zu verschärfen, wollen manche in der Unionsspitze den unbequemen Ressortchef kurzerhand ausbooten.

Die SPD habe sich offenbar für »ein stures Festhalten am Atomkonsens« entschieden, heißt es in einem internen Papier für das CDU-Präsidium. Nun müsse nach Wegen gesucht werden, wie die »Verweigerungshaltung des Umweltministers neutralisiert werden« könne.

Gestritten wird plötzlich wieder über ein Thema, das ein Großteil der Deutschen längst für erledigt hielt. Nachdem die rotgrüne Koalition im Jahr 2000 den Atomausstieg vereinbart und die neue Regierung den Beschluss bestätigt hatte, schien klar: Erst in der nächsten Legislaturperiode müsste ein Großteil der Reaktoren abgeklemmt werden. Bis dahin ist das Thema vertagt.

Doch seit die Energiepreise explodieren und die russische Regierung der Ukraine kurzfristig den Gashahn zudrehte, rollen Befürworter wie Gegner der Kernenergie wieder die alten Fahnen aus. Die einen wollen wegen des verschärften Energiewettbewerbs die bestehenden Kraftwerke länger laufen lassen oder gar neue Reaktoren bauen. Die anderen stemmen sich gegen jede Änderung, weil sie einen ers-ten Schritt zum Ausstieg aus dem Ausstieg wittern.

Den Polit-Strategen beider Parteien kommt die Auseinandersetzung nicht ungelegen. Besonders die Sozialdemokraten wissen, dass der Streit aufs Schönste geeignet ist, die SPD im Wettstreit mit den Grünen als bessere Öko-Partei zu profilieren. Und so lässt Umweltminister Gabriel derzeit keine Gelegenheit verstreichen, die Debatte neu zu befeuern.

Es ist zu klären, »ob wir, gemessen an den internationalen Standards, in allen Bereichen Spitze sind«, befindet er. Deshalb müsse das Sicherheitsmanagement der Anlagen überprüft werden - »von einer unabhängigen Instanz«.

Dass die Sozialdemokraten die heikle Atomfrage zum Konfliktthema Nummer eins ausgerufen haben, kommt auch vielen Konservativen wie gerufen. Mit wachsendem Unbehagen sehen etwa die CDU-Ministerpräsidenten, wie die öffentlich vorgeführte Harmonieseligkeit der Großen Koalition in Berlin die meisten Unterschiede zur SPD auf Fußnotenniveau zu reduzieren droht. In der Energiedebatte lassen sich die Sozialdemokraten endlich wieder als vermeintlich wirtschaftsferne Illusionisten vorführen.

Instinktsicher bringen Landesfürsten wie Roland Koch oder Edmund Stoiber zudem einen weiteren Wahlkampfklassiker ins Spiel: Ein Atomausstieg, so argumentieren sie, werde die Bundesrepublik endgültig von sibirischen Öl- und Gaslieferungen und damit vom Kreml abhängig machen. Ganz nach dem Motto von Altkanzler Konrad Adenauer: »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau.«

Und so mühen sich derzeit auch viele Unionspolitiker, das Thema nicht vorzeitig absterben zu lassen. Der nächste Vorstoß ist schon vorbereitet. Christdemokratische Energieexperten haben in einem sechsseitigen Papier für das Parteipräsidium festgehalten, wie die Laufzeiten einiger Atommeiler bereits in dieser Legislaturperiode verlängert werden könnten.

Laut Ausstiegsvertrag müssten in den nächsten vier Jahren bereits die Reaktoren Biblis A, Biblis B, Neckarwestheim und Brunsbüttel stillgelegt werden.

Verhindern lässt sich das nur, so das Papier, wenn die Industrie sogenannte Restlaufzeiten anderer Meiler auf die Abschaltkandidaten überträgt. Dafür aber ist nach dem Atomgesetz die Zustimmung einer sogenannten Monitoringgruppe notwendig, in der neben Kanzleramtschef Thomas de Maizière auch Wirtschaftsminister Michael Glos und Umweltminister Gabriel sitzen. Und der hat bereits laut nein gesagt.

Doch nun wollen die CDU-Experten einen Weg entdeckt haben, wie der Sozialdemokrat ausgetrickst werden kann. Im Zentrum steht ein Widerspruch zwischen Atomgesetz und Ausstiegsvertrag mit der Industrie. Während das Gesetz den Umweltminister ausdrücklich als Mitglied der Monitoringgruppe erwähnt, setzt sich das

Gremium laut Vertragstext aus »drei Vertretern der Bundesregierung unter Vorsitz des Kanzleramtschefs« zusammen. Folglich, so das CDU-Papier, müsse die Regierung einfach klarstellen, dass »der Kanzleramtschef der Handelnde« und Gabriel lediglich »Vollziehender der Entscheidung der Monitoringgruppe ist«.

Zugleich erörtern die CDU-Experten, wie die SPD auf dem Verhandlungsweg zum Einlenken zu bewegen wäre. Von zusätzlicher Förderung für effiziente Windkraftanlagen ist genauso die Rede wie von einer möglichen Zusage der Stromwirtschaft, sich an den Anschlusskosten neuer Windräder in der Nord- und Ostsee zu beteiligen. So könne Gabriel »unter Gesichtswahrung für sich argumentieren«, er habe mit einem entsprechenden Deal »den Klimaschutz nachhaltig gestärkt«. Für ein ähnliches Vorgehen plädiert auch CSU-Chef Stoiber.

Die Kanzlerin verfolgt den sich aufschaukelnden Atomstreit mit Unbehagen. Merkel ist überzeugte Anhängerin der Kernenergie. Doch warum, so fragt sie sich, sollte sie jetzt das Regierungsbündnis gefährden, wo nicht einmal die Industrie eine rasche Entscheidung über längere Laufzeiten für nötig hält.

Den Reaktor Biblis A wollen die Betreiber ohnehin bald vom Netz nehmen, so heißt es in der Branche, weil er andernfalls teuer nachgerüstet werden müsste. Und bei den nächsten drei Abschaltkandidaten hat die Industrie Möglichkeiten, sie in die nächste Legislaturperiode zu retten.

Der Atomausstieg ist für jeden Meiler nach Kilowattstunden berechnet. Fahren die Betreiber das Kraftwerk also eine Zeit lang herunter, kann es entsprechend länger laufen. Die eigentliche Entscheidung über längere Betriebszeiten träfe dann erst der nächste Bundestag - mit möglicherweise anderen Mehrheiten.

Und so spielt Merkel auf Zeit. Je länger die Debatte anhält, so kalkuliert sie, desto klarer werde, dass ein unveränderter Ausstiegskurs die Strompreise erhöhen und das Klima schädigen werde. Am Ende würden dann auch die Sozialdemokraten akzeptieren, dass der Reaktorstopp noch ein paar Jahre aufgeschoben wird.

So soll der Energiegipfel, der ursprünglich im März vorgesehen war, nun erst im Mai oder Juni stattfinden. Und auch das energiepolitische Gesamtkonzept der Regierung soll später vorgelegt werden: im Jahr 2008. ROLAND NELLES, MICHAEL SAUGA

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