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RUSSLAND Kalter Krieg am Polarkreis

Werchojansk ist die eisigste Stadt der Erde. Bis zu 67,8 Grad minus wurden bereits in der einstigen Kosaken-Festung gemessen. Noch gebeutelt vom Zusammenbruch des Sowjetstaats, hoffen die Einwohner nun auf Zeichen der neuen Zeit - durch Tourismus an den Kältepol. Von Walter Mayr
aus DER SPIEGEL 8/2006

Reglos duckt sich die Stadt Werchojansk unter eine Glocke arktischer Luft. Über den Hausdächern stehen Rauchsäulen lotrecht im frostklaren Himmel. Es ist sechs Uhr morgens. Das Thermometer zeigt minus 49,5 Grad.

Durch rußbedeckten Schnee stapft vom Kohlekraftwerk her Warwara Kirillina. Sie ist eine jakutische Dame von 74 Jahren, Lehrerin im Ruhestand, Museumsdirektorin und fröhlich summender Motor eines neuen Projekts. Es heißt: »Tourismus am Kältepol der Erde«. Warwara Kirillina hat, was Fremde in dieser Gegend suchen: die Taiga-Gesetze im Blut, die Geschichte ihrer Stadt im Kopf und ein warmes Haus mit Innenklo. Das, zusammengenommen, macht sie schon zur Attraktion in Werchojansk.

In Nerzmantel, Bisamfell-Handschuhen und Seidenschal, die Augenbrauen im pergamentfarbenen Gesicht sorgsam gezupft, kommt sie zurück vom Kontrollgang in die Heizerbaracke des Kraftwerks. Die Innentemperatur in den Häusern rundum war nachts dramatisch gefallen. Und so hat Warwara kurzerhand nachgesehen und den rußverschmierten Jungen wachgerüttelt, der dort Kohle in die Öfen schippen soll für die Zentralheizungen der Stadt. Er war auf seiner Pritsche eingeschlafen.

Ein, zwei Stunden mehr, und die Heizungen in Werchojansk wären eingefroren. Bei fast 50 Grad minus, nachts, in der kältesten Stadt auf dem Erdball.

Auf einer schwarzen Granitplatte an der Wetterstation, die der deutschstämmige Sibirienforscher Alexander Bunge erbaute, ist der Rekord beurkundet: 67,8 Grad minus, gemessen von einem nach Werchojansk verbannten Meteorologen am 15. Januar 1885. Ein stilisierter Mammutkopf aus Beton steht am anderen Ende des Orts als Denkmal für den Kältepol der Arktis.

1638 von Kosaken als Fort am oberen Flusslauf der Jana gegründet, ist Werchojansk die älteste Stadt überhaupt jenseits des Polarkreises. Auf 67 Grad 32 Minuten nördlicher Breite endet die Polarnacht nicht vor Mitte Januar. Zu Sowjetzeiten trotzten hier 2500 Menschen dem Eis und der Finsternis. 1360 sind übriggeblieben.

Im größten Land der Erde ist Werchojansk inzwischen die kleinste Stadt. Weit entfernt scheint der Rest Russlands. 4700 Kilometer westwärts liegt Moskau, 625 Kilometer südlich die Republik-Hauptstadt Jakutsk. Als Verbannungsort für den Gulag-Chronisten Alexander Solschenizyn hat einst Sowjet-Ministerpräsident Alexej Kossygin Werchojansk vorgeschlagen - »weil hierher kein ausländischer Korrespondent kommt«.

Wer sich der Stadt aus der Luft nähert, sieht in einem gewaltigen Kessel, dessen Wände das Werchojansker Gebirge bildet, ein paar spärliche Lichter - der Notstrombeleuchtung in einem Gefrierschrank ähnlich. Lenin war längst tot, als hier im

Norden der Bürgerkrieg zwischen Bolschewiken und Zarentreuen zu Ende ging. Den Geist des Leninschen Lehrsatzes aber, »Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung«, reflektiert die matt erhellte Stadt hinter dem Polarkreis bis heute.

Werchojansk ist ein Mahnmal menschlicher Hybris und Leidensfähigkeit zugleich. Ein zäh im Taigaboden steckengebliebener Splitter vom großen Fortschrittsglauben.

Im Sommer, wenn das Eis auf Flüssen und Sümpfen getaut ist, führt zu Lande kein Weg nach Werchojansk. Im Winter hilft der »Simnik«, eine meist über das Eis des Jana-Flusses verlaufende Piste für Hartgesottene. Acht Tage sind die Lastwagenfahrer unterwegs, um Lebensmittel und Kraftstoff aus Jakutsk herzuschaffen.

Solange die Lieferungen ausbleiben, behelfen sich die Menschen mit dem, was die Natur abwirft. Sie ernähren sich von geräucherter Rentierzunge und gefrorenem Fohlenfett, von Beerensäften, Pilzen und in Streifen gehacktem sibirischem Weißlachs.

Warwara Kirillina zählt zu denen, die zufrieden sind mit dem, was es in Werchojansk gibt - so wie es die Vorfahren waren. Wenn sie Holz im Ofen nachlegt, gibt sie einen Löffel Butter in die Flammen, zur Besänftigung des Feuergotts. Wenn Fremde kommen, streicht sie ihnen verstohlen mit einem Wedel aus weißem Rosshaar über die Kleidung. Das hält, jakutischem Schamanenglauben zufolge, böse Geister aus der Wohnung fern.

Im November hat Russlands Präsident Wladimir Putin höchstpersönlich Warwara einen Orden für ihr Lebenswerk versprochen. Für den Kampf um den Erhalt des Kulturguts der Menschen am Polarkreis. Dafür, dass sie Sedimente 10 000-jähriger Geschichte für ihr Museum zusammentrug: Mammutknochen, Handwerkszeug nomadischer Rentierzüchter und Blechnäpfe Verbannter aus den 23 umliegenden Internierungslagern, die zu Stalins Gulag-System zählten.

Nun aber geht es um Zukunft in Werchojansk. Für 29 Euro pro Nacht werden Touristen am Kältepol aufgenommen - Unterkunft, Vollverpflegung und Familienanschluss inklusive. Das Problem dabei ist: Die Werchojansker haben zwar ein Denkmal und eine Pension namens »Kältepol«. Aber sie haben sich die Marke nicht schützen lassen. Und warten deshalb vergebens auf Fremde.

Jakutiens Vizepräsident Alexander Akimow sagt, wenn er in Werchojansk ist, der Kälterekord von 1885 sei »jedem Menschen auf dem Planeten bekannt«. Am Regierungssitz in Jakutsk klingt das anders. Die Millionen Rubel, die die Regierung für das Tourismus-Projekt »Kältepol« auswirft, sind bereits anderweitig verplant. Sie fließen nach Oimjakon, in ein Kaff unweit der Kolyma-Trasse, die Stalin von Häftlingen durch Jakutien bis zum Ochotskischen Meer legen ließ. Oimjakon ist, anders als Werchojansk, für Touristen mit dem Auto zu erreichen. Und dem jakutischen Präsidenten wie auch seinem Tourismus-Minister liegt Oimjakon von Geburt an näher.

Der Präsident war früher Chef des Diamantenkonzerns Alrosa und ist in einem Dorf auf halber Strecke nach Oimjakon geboren. Die Touristen, die nun seit einigen Jahren Autorallyes zum »Kältepol der Erde« buchen, werden in seinen Geburtsort dirigiert. Sie gehen dort ins Gulag-Museum, übernachten und tafeln.

Der jakutische Tourismus-Minister wiederum habe schon deshalb Interesse an mehrtägigen Kältepol-Festivals mit Rentierschlittenfahrten und Folkloretruppen in Oimjakon, weil er dort geboren sei. Das behauptet der Bürgermeister von Werchojansk, der nun »rechtliche Schritte« erwägt, um die Frage nach dem Kältepol zu klären. Ein Gutachten vom ranghöchsten Wettermann Russlands hat er in petto.

»Freidenkende Unternehmer im Tourismus-Ministerium« hätten sich die Sache mit Oimjakon einfach ausgedacht, spottet die Zeitung »Jakutische Woche«. Den 1926 gemessenen 71,2 Grad minus in Oimjakon soll ein großzügig aufgerundeter Schätzwert zugrunde liegen. Das Gute am kalten Krieg zwischen den beiden Orten am Polarkreis sei, so sagen Tourismus-Planer, dass der Kältepol unter den bewohnten Orten der Erde unstrittig in Jakutien liege. Russlands größte Teilrepublik könne Einnahmequellen gebrauchen.

Das ist so wahr wie verwunderlich in einem Land wie Jakutien, das sich seit dem Ende der Sowjetunion schlicht Sacha nennt: Mensch. Auf der achtfachen Fläche Deutschlands leben gut eine Million Menschen. Unter ihnen begraben liegen Russlands gewaltigste Rohstoffvorräte.

Der Sage nach hat Gott, als er die Erde erschuf, einen Engel mit einem Sack voller Reichtümer losgeschickt. Als der Engel Jakutien überflog, wurden ihm die Finger steif, und er ließ alles fallen. 99 Prozent der russischen Diamanten kommen von dort, dazu schlummern riesige Vorkommen an Gold, Kohle, Gas und Zinn in der Erde.

Das Volk hat davon wenig, weil das Herrscherprinzip aus Zaren- und Sowjetzeiten weiter gilt. Die Zaren forderten »Jasak« von den Ureinwohnern, Tribut in Form von Fellen. Die Sowjets nahmen sich Rohstoffe und boten im Tausch, immerhin, Strom, kostenlose Bildung und günstige Flüge für die Menschen in der Taiga. Die derzeitigen Herrscher im Kreml neigen der zaristischen Idee vom Umgang mit Volkseigentum mehr zu als der sowjetischen.

Beim jakutischen Alrosa-Konzern, mit einer Jahresförderung im Wert von 2,5 Milliarden Dollar zweitgrößter Diamantenproduzent weltweit nach De Beers Südafrika, hat Präsident Putin gerade die Übernahme der Aktienmehrheit durch die Zentralregierung eingeleitet. Auch von der Ausbeutung anderer Bodenschätze profitieren außer einigen steinreichen Jakuten vom Kreml dirigierte Staatskonzerne.

Die Menschen hinter dem Polarkreis haben die Erschütterungen der Neuzeit deutlicher als alle anderen zu spüren bekommen. Schließt hier eine Sowchose, so gibt es im Umkreis von mehreren Stunden Fahrt keine zweite. Arbeit anderswo zu finden

setzt Ersparnisse voraus - Flüge nach Jakutsk kosten nun ein Monatsgehalt und zwei Tankfüllungen Benzin einen Wochenlohn.

»In den Dörfern träumen jetzt alle vom Tourismus«, sagt Wjatscheslaw Ipatjew; der Kampf um Extrem- und Öko-Touristen als Erwerbsgrundlage für die Menschen im Norden sei entbrannt. Ipatjew ist ein hagerer Russe mit Durchblickerbrille, der seine Dissertation noch über die »Entwicklung des Tourismus in der Jakutischen Sozialistischen Sowjetrepublik« schrieb. Jetzt versucht er, von Jakutsk aus Fremde in die Weiten der Republik zu schleusen.

Jenen, die Oimjakon für den Kältepol halten, widerspricht er nicht, sondern bietet ihnen neuntägige Abenteuer-Rallyes plus Kältepol-Zertifikat. Jenen, die auf Werchojansk setzen, verschafft er ein konkurrierendes Papier. Für Romantiker ist Mammutknochen-Suche mit Lunch am Ufer des Adycha-Flusses im Angebot oder ein Trip ans Eismeer mit Polarlicht-Garantie. »Das bieten sie nicht mal in Alaska«, sagt Ipatjew.

Wenn allerdings, wie jetzt im Februar, zwei deutsche Vegetarierinnen jenseits der sechzig anfragen, ob auf ihrem innerjakutischen Flug in das Nest Ust-Nera »auch fleischfreie Kost« serviert werde, muss selbst einer wie Ipatjew passen: »Auf Ihrem Flug gibt es leider gar nichts«, sagt er dann, »nicht einmal eine Tasse Tee.«

Mit durchschnittlich 0,9 Touristen pro Jahr seit dem Ende der Sowjetunion ist Werchojansk das Aschenputtel unter den jakutischen Urlaubszielen. Vergessen im postsowjetischen Niemandsland, nördlich aufgelassener Goldminen und verfallener Gulag-Baracken, ringt die Stadt um Anschluss an die Moderne. Zu bieten hätte sie Fremden dabei nicht weniger als russische Wirklichkeit in Reinstkultur - »raschn ikstriem« nennt sich das, im Sprachgebrauch besserer, anglophiler Moskauer Kreise.

In Werchojansk sieht die neue Zeit so aus, dass Rentner für den Bedarf an Brennholz allein ein Drittel ihres Budgets aufwenden. Noch einmal so viel gibt die Gemeinde dazu. Trinkbares Wasser wird aus dem Jana-Fluss in Form von Traktorladungen voll Eis gegen Bares geliefert. Die unentbehrlichen »Unty«, Stiefel aus Rentierfell, werden möglichst selbst genäht - im Laden kosten sie jetzt 200 bis 500 Euro. Alte Thermokleidung, zu Sowjetzeiten kostenlos, wird weitergetragen.

Bei Januar-Minusgraden, die der mittleren Jahrestemperatur auf dem Mars entsprechen, bleibt keiner ohne Not länger als 15 Minuten im Freien. Einzig Pelze und Felle der Tiere, die hinter dem Polarkreis leben, schützen neben steter Bewegung vor dem Kältetod. Zuflucht bieten Holzfeuer in Taiga-Baracken und Autos, deren Motor ganztags läuft.

Wenn sich kurz vor Sonnenaufgang um 12 Uhr mittags die Straßen von Werchojansk beleben, dann sieht es aus, als breche ein Häuflein dick vermummter Astronauten auf zur Expedition auf einem menschenfeindlichen Planeten - vor der Kulisse baumstammdicker Wasserrohre, die wegen dauergefrorenen Bodens überirdisch die Stadt durchziehen wie ein Nervensystem.

Unverdrossen brummen die Lastwagenfahrer hinunter zum Jana-Fluss, aus dem sie täglich 180 000 Liter Wasser pumpen fürs Heizungssystem der Stadt - an eine Leitung vom Fluss zur Heizzentrale ist bisher nicht gedacht. Unverdrossen schieben am Eisloch zwei Männer 24-Stunden-Schichten und halten ein Feuer am Leben, damit die Pumpstelle im Fluss nicht zufriert. Schüler treten morgens zu Fuß an. Schulfrei für Höherklassige in Werchojansk gilt ab minus 55 Grad. Die Alten in der Stadt meckern über die globale Erwärmung - früher gab es bis minus 57 Grad kein Pardon. Die Schüler meckern, weil im Rest Jakutiens minus 50 als Grenzwert gilt.

Wer nach seinem Schulabschluss in Werchojansk bleibt, schlägt sich meist als Jäger, Sammler, Fallensteller durch wie seine Vorfahren hinter dem Polarkreis. Verkauft Zobelfelle und stapelt Schneehasen, die kopfüber in die Drahtschlinge gegangen sind, tiefgefroren in handgegrabenen Schächten. Füllt mit dem Schneehasenfleisch Pelmeni - sibirische Teigtaschen - oder füttert den Schlittenhund.

»Die Natur gibt und nimmt«, sagen die Männer von Werchojansk.

Überlebenstechnik der Ahnen und Respekt vor der Natur leben fort auch in Konstantin Slepzow. Majestätisch reitet er seiner Herde über den zugefrorenen Omolon-See voraus, ein Mann und 80 Tiere, winzige Punkte in der schneeweißen Taiga. Konstantin ist Sippenältester einer Familie vom Volk der Ewenken, die seit Jahrhunderten von der Rentierzucht lebt. Ein zäher Mann mit Indianergesicht, schlohweißem Haar und wachen Augen.

Auch Konstantin kann künftig von Touristen besucht werden. Vorausgesetzt, sie nehmen sechs Stunden Autofahrt von Werchojansk Richtung Eismeer in Kauf, auf einer Piste, die selbst für russische Verhältnisse keine mehr ist. Oder sie buchen einen Hubschrauber für 1500 Dollar die Stunde, wie jener Unesco-Mann, der derzeit sein Projekt »Rollende Schule« aufbaut - der Nomadennachwuchs soll direkt in der Taiga in einem von Rentieren gezogenen Verschlag unterrichtet werden.

Trüb wie ein milchfarbener Regenbogen steht das Polarlicht am Himmel über dem Eismeer, an den Schamanenbäumen gefrieren Zigaretten und andere Opfergaben der Neuzeit im beißenden Frost, und Konstantin erzählt. Vom Leben am Fuß des Terjach-Tach-Gebirges, von den Jurten in der Taiga und von der List ewenkischer Frauen - werden sie entführt, reißen sie dem Rentier, auf dem sie reiten, Haare aus. Und legen so eine Fährte für die Verfolger.

Die Taiga bewahrt Spuren, so wie der Mensch, der in ihr lebt. Über den jüngsten Streit um den wahren Kältepol der Erde, um Touristen und um minus 67,8 Grad in Werchojansk, kann Konstantin, Nomadensohn in wadenhohen Elchfell-Stiefeln und Rotfuchs-Mütze, nur schmunzeln.

Konstantin hat sein eigenes Thermometer, eines ohne Ziffern. Bis minus 65 Grad, so sagt er, schießt er wilde Schafe hier in den Bergen mit nackter Hand.

Tage, wo an Schießen nicht einmal mehr zu denken war, gab es genug.

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