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STRAFJUSTIZ Kann sein, kann nicht sein

Nach drei Jahren endet der Saarbrücker Pascal-Prozess unentschlossen: Die Angeklagten werden freigesprochen, sind aber »höchstwahrscheinlich« schuldig. Von Gisela Friedrichsen
aus DER SPIEGEL 37/2007

Nein, nichts gegen das Urteil. Wenn eine Straftat nicht nachzuweisen ist, kann in einem Rechtsstaat auch nicht verurteilt werden. Aber die Begründung des Freispruchs, die der Vorsitzende Richter Ulrich Chudoba am Ende des Pascal-Prozesses am Freitag vortrug, war kein Ruhmesblatt für die saarländische Justiz.

Ein freisprechendes Urteil hätte zum Beispiel mit den Worten beginnen können: Die Hauptverhandlung hat nicht den Beweis erbracht, dass der am 30. September 2001 in Saarbrücken verschwundene fünfjährige Pascal, wie von der Anklage behauptet, in der Burbacher »Tosa-Klause« brutal missbraucht und dann getötet wurde; daher sind die Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes freizusprechen.

Doch was tat Chudoba? Er fing so an: »Dem Gericht erscheint es durchaus als möglich, dass sich die Tat (Mord an Pascal) abgespielt hat wie von der Anklage behauptet. Es gibt sogar deutlich überwiegende Gründe, dass sich die Angeklagten, zumindest was das Kerngeschehen betrifft, strafbar gemacht haben. Es spricht auch viel dafür, dass es im Umfeld der Angeklagten zu sexuellem Kindesmissbrauch gekommen ist. Nimmt man eine Gesamtwürdigung vor, ist es höchstwahrscheinlich, dass die Angeklagten die Taten begangen haben.«

Dann wiederholte Chudoba die Anklage mit allen scheußlichen Details. Alsdann zitierte er die »belastenden Angaben«, die 5 der ursprünglich 13 Angeklagten gemacht haben, wieder mit allen scheußlichen Details, und attestierte der Staatsanwaltschaft, sie habe »ein Bild von den Vorwürfen gezeichnet, das in sich stimmig ist und möglicherweise den Tatsachen entspricht«. Das Gericht teile manches durchaus. Da schnurrt die Staatsanwaltschaft.

Aber da blieben doch ein paar Zweifel. Es sei noch nicht mal sicher, ob Pascal an jenem 30. September überhaupt in der »Tosa« gewesen sei. Wie das? Hieß es nicht eben, die Angeklagten hätten die Taten höchstwahrscheinlich begangen?

»Wir haben hier einen Grenzfall«, fuhr Chudoba fort. »Die Annahme von Schuld und von Unschuld ist gleichermaßen möglich.«

Ist von einem Gericht nach drei Jahren Hauptverhandlung nicht zu verlangen, dass es sich wenigstens zu einer eindeutigen Haltung anlässlich der Urteilsverkündung durchringt? Ein Strafprozess ist doch keine Fernsehshow à la »Pro und Contra« oder »Wie würden Sie entscheiden?«. Und ein Richter ist kein Moderator, der den Ball einfach ins Publikum spielt. Solche Freisprüche geben die öffentliche Treibjagd frei.

Nach dem Desaster des Montessori-Prozesses (1992 bis 1995), als in Münster allein auf Grundlage von Kinderaussagen über 750fachen Missbrauch verhandelt wurde, und den Freisprüchen nach den Wormser Prozessen (1994 bis 1997), als es drei Gerichten nicht gelang, einen imaginären Kinderpornoring aufzudecken, war zu hoffen, dass sich die Justiz beim Verdacht des Kindesmissbrauchs künftig weniger von blindem Übereifer und emotionaler Verwirrung hinreißen ließe. Justizkatastrophen im Namen des Kinderschutzes sollten sich nicht mehr ereignen.

Doch nun Saarbrücken, und wieder ein GAU der Justiz, der schlimmste vielleicht. Denn diese Urteilsbegründung zeigt, dass die Richter offenbar ihre Unabhängigkeit aus politischem Kalkül aufgeben und die rechtsprechende Gewalt dem Volk überlassen. Man spricht frei und tut so, als sei man von der Schuld der Angeklagten überzeugt. Volkes Stimme aus dem Mund des saarländischen SPD-Mannes Heiko Maas: »Ich finde die Freisprüche zum Kotzen!«

Das Saarland ist ein kleines Land. Da hat man es nicht gern, wenn Fehler von Polizei und Staatsanwaltschaft die Bürger verwirren. Da tut keiner dem anderen weh, auch nicht ein Richter dem Staatsanwalt.

Im »Kernbereich«, um auch mal das Lieblingswort der Ankläger zu zitieren, gleichen sich die Fälle auffallend: keine Spuren, kein Film, kein Foto, kein Euro ungeklärter Herkunft. Bei keinem der Angeklagten sexuelle Auffälligkeiten. Bei keinem Kind auch nur ein blauer Fleck. Im Fall »Pascal« gibt es weder eine Leiche noch einen Fingerabdruck, kein Haar, keinen Blutstropfen oder das Bruchstück einer Faser. Wieder wurde stümperhaft »aufgedeckt« statt aufgeklärt. Und was macht die Justiz dieses Mal?

Niemandem wird ein Haar gekrümmt. Hatte die Saarbrücker Kripo anfangs noch

um Unterstützung durch den Berliner Psychologieprofessor Max Steller gebeten, auf dass es nicht zu einem zweiten Worms komme, verzichtete die Staatsanwaltschaft brüsk auf Stellers Rat in dem Moment, als der Wissenschaftler dringend davor warnte, Anklagen allein auf dubios erzielte Kinderaussagen zu gründen. »Ich brauche keinen Wahrsager oder irgend so einen Sachverständigen«, sagte Oberstaatsanwalt Josef Pattar in seinem Plädoyer.

Für den Versuch, den Prozess mit Verurteilungen zu Ende zu bringen, war der Justiz kein Preis zu hoch. Ein geistesschwacher Mensch, der »kleine Peter«, bestätigte in einem skandalösen Schnellverfahren Übergriffe auf Kinder, schlotternd vor Angst, andernfalls im Pascal-Prozess wegen Mordes vor Gericht zu kommen. War der Mann überhaupt aussagetüchtig?

Es gibt perfekte Protokolle von den Vernehmungen, obwohl er, wie ein Videomitschnitt zeigt, nichts herausbrachte. Wen schert es? Bitte, keine Kritik an der Polizei, die interpretierte doch nur!

Das Urteil vom Oktober 2003, sieben Jahre plus Sicherungsverwahrung, ist rechtskräftig und damit eine Hauptstütze der Pascal-Anklage. »Ausgerechnet solch ein rechtswidriges, grob fahrlässig herbeigeführtes Urteil wird benützt, um weitere Anklagen herbeizuführen«, konstatiert resigniert der Strafverteidiger Walter Teusch.

Die Schäden, die der Prozess angerichtet hat, sind exorbitant. Einige Angeklagte saßen über dreieinhalb Jahre in U-Haft, das ist verlorene Lebenszeit. Welches Zeugnis stellt sich ein Oberstaatsanwalt aus, der am 145. Verhandlungstag auftrumpft, dass er »nach drei Tagen schon hätte plädieren können und es wäre das Gleiche herausgekommen«? Wer soll einer solchen Justiz denn noch trauen?

Die saarländischen Ermittlungsbehörden haben aus dem Montessori-Prozess und den Wormser Verfahren nichts gelernt. Gleiches gilt für die Aussagebegutachtung, leider nicht nur im Saarland. Die Qualitätsstandards, deren Einhaltung der Bundesgerichtshof seit 1999 von Sachverständigen verlangt - papperlapapp, da schreiben wir hin, dass wir alles recht gemacht haben, und verfahren wie gewohnt.

In Saarbrücken wurde der BGH von der Gutachterin Petra Schwitzgebel gar gerügt ob dieser Qualitätsstandards, weil sie gerade auf minderbegabte und traumatisierte Kinder nicht angewendet werden könnten. So bleibe gerade der Missbrauch der Schwächsten oft folgenlos. »Dies ist aus Sicht der Opfer besonders zu bedauern.«

Aus Sicht der seriösen Wissenschaft ist eine solche Auffassung Unsinn. Der Stimmungsmache aber dient sie allemal. Und einer weiteren Beauftragung mit Gutachten steht es wohl auch nicht im Wege, im Gegenteil, wenn man behauptet, die Qualität des Aussagematerials lasse zwar keine Schlüsse zu; allerdings sei da doch ein »erlebnisfundierter Kern«. Wer heute noch behauptet, ein Kind denke sich so etwas mangels Phantasie nicht aus, hat die Forschung der letzten 20 Jahre missverstanden oder nicht zur Kenntnis genommen.

Frau Schwitzgebel kommt aus dem Institut der Universität des Saarlandes, dem auch der umstrittene Psychologe Georges Hengesch angehört, der als Gutachter am Zustandekommen der verheerenden Wormser Anklagen beteiligt war, und nicht nur daran. Auch ihn hat die Gutachterei nicht ruiniert; er ist nach wie vor tätig.

Der Pascal-Prozess geht wie der Montessori-Prozess und die Wormser Verfahren auf ein Kind zurück, dessen an sich harmloses Verhalten plötzlich auffällt. Kevin (Name geändert) ist sechs Jahre alt, als er 2001 seiner Mutter Andrea weggenommen wird. Sie stand damals unter Betreuung von »Tante Christa«, der Wirtin der »Tosa«, die Menschen ein Zuhause bot, die sonst auf der Straße hätten leben müssen oder in ihrem Elend untergegangen wären.

Das Milieu war für ein Kind sicher nicht das beste. Trotzdem ist der Junge ein fröhlicher kleiner Kerl. Er kommt in eine erste Pflegefamilie, ein Jahr später in eine zweite. Er gilt als retardiert wie seine Mutter, zu der ein inniges Verhältnis besteht, denn er

ist das einzige ihrer fünf Kinder, das nicht gleich nach der Geburt zur Adoption gegeben wurde.

In der zweiten Familie ist er anfangs noch »ein Sonnenschein«, dann entwickeln sich Auffälligkeiten. Kevin erzählt Phantasiegeschichten: Bei seiner Mutter sei er vom zwölf Meter hohen Balkon geworfen worden; ein Mitbewohner habe ihm mit einer Säge die Finger fast abgeschnitten. Als eine der drei Töchter der Familie berichtet, wer aus ihrer Klasse rauche, ruft er: Ich auch! In der »Tosa« natürlich.

Vor den Mädchen lässt er mehrfach die Hose herunter. Er »zeigt« sich, sagte die Pflegemutter. Im Juli 2002, die Kinder spielen im Garten, erwischt sie Kevin, wie er auf der nackten Vierjährigen liegt: »Ich nahm meine Kleine auf den Arm. Und ihn hab ich geschüttelt und angebrüllt, dass er hier rausfliegt, wenn noch mal so etwas vorkommt«, sagt sie als Zeugin vor Gericht. »Das hatte für mich ganz klar den Touch von sexuellem Akt. Auch wenn er sich selbst nicht so artikuliert hat.«

Vieles an Kevin stört sie. Dass er sich »mit dem männlichen Geschlechtsteil malte«. Dass er Körperkontakt suchte und Küsse gab auf den Hals ("Ich fand das eklig"). Dass er alle Biersorten kannte und in der Stadt um »Säufer und alte Knacker« keinen Bogen machte. Dass er oft herumtanzte: »Sein Hüftschwung war nicht kindgerecht, sondern sexualisierte Bewegung!«

Sie sucht eine Beratungsstelle der »Lebenshilfe« auf, um ihre Töchter vor diesem siebenjährigen Unhold zu schützen. Man erörtert den Verdacht, dass Kevin sexuell missbraucht wurde (bei dieser promisken Mutter!). Dann passiert es noch einmal: Kevin »zeigt« sich am Sportplatz. Weil »die Männer es verlangten«, sagt er in seiner Erklärungsnot. Welche Männer? »Die in der Tosa«, so seine Rechtfertigung.

Nun beginnt ein Martyrium. Die Dame von der »Lebenshilfe« weiß, was im Kopf dieses Jungen drin sei, müsse ja irgendwie hineingekommen sein. Wenn man mit ihm über das Schreckliche spreche, dann komme alles heraus, und es werde ihm leichter.

Abends, wenn die Töchter schon im Bett sind, muss Kevin fortan das »Peinliche« aus sich »herauslassen«, denn tagsüber war das ja wegen der Töchter verboten. Und die Pflegemutter dokumentiert für die Kripo. Irgendwann schreit das Kind nur noch und versteckt sich unter einem Tisch.

Aus dem gebetsmühlenartigen »Tante Christa hat mich gefickt« wird »Tante Christa hat eine Million Kinder gefickt. Ich hasse sie«. Mittlerweile hasst Kevin auch seine Mutter. Das ist Gehirnwäsche, wie bei den Wormser Kindern.

Niemand gebietet Einhalt. Was hier (wieder einmal) mit einem wehrlosen Kind veranstaltet wurde (und wofür viel Geld bezahlt wird monatlich), es schreit zum Himmel. Doch der Vorsitzende Chudoba dankte der Pflegemutter am Freitag ausdrücklich für ihre »Bemühungen um Aufklärung«. Ohne sie, mit Verlaub, wären dem Saarland Millionen Euro an Prozesskosten erspart geblieben.

Parallel zu Kevins Leidensweg nahm bei der Kripo die Überzeugung Gestalt an, wie man sich das Verschwinden Pascals vorstellen müsse. Von Januar 2001 an, so die Rechnung, als Kevin zu Pflegefamilien kam, stand er für Missbrauch nicht mehr zur Verfügung. Brauchte man da nicht Nachschub? Einem stadtbekannten Vielredner präsentierte die Kripo als Erstem die Version vom Nachschub. Alles frei erfunden, sagte der Vernehmungsbeamte später vor Gericht.

Weit gefehlt: Die Geschichte, inspiriert von Kevins Angaben, war so sehr Gewissheit, dass der Vielredner nur noch nicken konnte: »Ja, so war's.« Ein wenig Suggestion, mein Gott, die gibt es doch immer. Das Gericht fand keine Hinweise, dass etwas hineingefragt wurde.

Wer ist nun schuld an diesen sonderbaren Freisprüchen, die im Volk als »Katastrophe« angesehen werden? Niemand natürlich. Wir haben alles prima gemacht. Und jetzt dürfen wir enttäuscht sein, bis die Staatsanwaltschaft Revision einlegt. Dann besteht ja wieder Hoffnung.

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