ALLIANZEN Kapital liquidiert
Frankreichs magerer Couve de Murville legte sein zerknittertes Gesicht in zusätzliche Falten - Falten des Lächelns. Er wirkte dadurch - wie immer, wenn er sich Freundlichkeit abfordert - besonders säuerlich.
Rußlands robuster Gromyko wußte sich ebensowenig zu einer eindeutigen Mimik durchzuringen. Auch er lächelte, doch seine Augen blieben hart.
Als sich die beiden Außenminister auf dem Moskauer Flughafen nach fünftägiger Couve-Visite trennten, war das Kraftfeld zwischen Moskau, Paris, Washington und Bonn viermal zweideutig: Keiner der vier weiß zur Zeit, ob und wann zwei der drei anderen sich auf seine Kosten verständigen.
Zwar sind sich Franzosen und Russen einig; die Deutschen von jeder atomaren Mitbestimmung auszusperren und die Amerikaner auf Amerika abzudrängen. Zwar vereinbarten Couve und Gromyko, regelmäßige russisch-französische Konsultationen abzuhalten.
Aber de Gaulle hat keine Gewähr dafür, daß Moskau das Techtelmechtel mit ihm nicht schon morgen abbricht, um mit dem amerikanischen Atom-Komplicen den angestrebten Pakt gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen abzuschließen.
Diese Gewähr hat auch die Bundesrepublik nicht - und deshalb sind die Gaullisten in Bonn trotz aller Rückschläge und Abgänge noch nicht ausgestorben.
Die Russen wiederum wissen, daß Couves Moskauer Lächeln eigentlich auf Bonn gemünzt ist. Es soll den Bundesdeutschen das Risiko zeigen, das sie bei Verlust der Franzosen-Freundschaft laufen. Würden sie sich bekehren und - wie zu Adenauers Zeiten - wieder unterm Pariser Eiffelturm Zuflucht suchen, wäre de Gaulle erneut ihr Anwalt gegen Moskau.
Im Washingtoner State Department schließlich fürchtet man, de Gaulles Entente mit Moskau könne die nicht sonderlich selbstsicheren Deutschen tatsächlich in die väterlichen Arme des Pariser Großmoguls treiben, der ihnen die Absolution erteilen würde.
Um dies zu verhindern, müssen die VISA Wort halten, Bonn atomare Mitbestimmung in der westlichen Allianz zu geben. Andererseits aber müssen sie dieses Wort brechen, sofern sie sich mit Moskau verständigen wollen: Nur wenn Bonn einen weithin schallenden Schlag erhält, können die Sowjets vor den roten Brüdern in aller Welt eine vertragliche Komplicenschaft mit der Vormacht des Kapitalismus rechtfertigen.
In einem solchen Fall freilich würden Bonns rar gewordene Gaullisten zum Sturm auf das Palais Schaumburg antreten. Ihr Vorbild im Pariser Elysee -Palast ist so oder so der Quell für beinahe alle Widrigkeiten der US-Politik in Europa.
Noch bevor Couve de Murville beim Rückflug aus Moskau beschwichtigend erklären konnte, »spektakuläre Veränderungen« im russisch-französischen Verhältnis seien - trotz aller Herzlichkeit - nicht zu erwarten, führte Washington einen ersten Schlag gegen den im Wahlkampf stehenden Charles de Gaulle, dessen Stiche die Amerikaner bislang lächelnd hingenommen hatten:
Hohe Regierungsbeamte riefen Journalisten ins State Department und schimpften erstmals öffentlich auf das perfide Frankreich, das die USA aus Europa vertreiben wolle, wie es zuvor Großbritannien aus dem Gemeinsamen Markt verdrängt habe. »New York Times«-Kolumnist Sulzberger schrieb später, de Gaulle sei »der Tito der Nato«.
Der Pariser »Monde« stellte daraufhin fest, der Burgfrieden zwischen den USA und Frankreich sei beendet. Und Frankreichs Diplomaten-Senior Andre Francois-Poncet klagte: »Das alte Kapital der amerikanisch-französischen Freundschaft existiert nicht mehr. Es ist liquidiert.«
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Deutschland-Gespräch zwischen Paris
und Moskau