KAPITALISTEN IM ROTEN CHINA
Der Schriftsteller L. L. Matthias unternahm Im Herbst und Winter 1955/56 eine Reise durch China. Die für westliche Beobachter oft sehr überraschenden Ergebnisse seiner Studien wird L. L. Matthias der deutschen Öffentlichkeit in seinem Buch »China auf eigenen Wegen"* vorlegen, das demnächst in Hamburger Rowohlt-Verlag erscheint. Über die Unterschiede zwischen sowjetischen und chinesischen Wirtschaftsmethoden berichtet Matthias:
Als sich die Vereinigten Staaten von England emanzipierten, gehörte es zu den ersten Maßnahmen der siegreichen Revolution, den Grundbesitz derer zu konfiszieren, die ihre Feindlichkeit gegenüber dem neuen Regime durch Emigration oder auf andere Weise zum Ausdruck gebracht hatten. Es war das keine sozialistische Maßnahme, sondern eine rein defensive; man konnte seinen Feinden nicht die Macht lassen, die diese durch ihren Grundbesitz besaßen.
Die Dinge lagen nicht wesentlich anders in China. War in den Vereinigten Staaten jeder verdächtig gewesen, der sich zum »Monarchismus« bekannt hatte - denn wie konnte man Monarchist sein, ohne Sympathien für England zu besitzen? -, so war in China jeder verdächtig, der sich zum »Kapitalismus« bekannte. Man setzte sich damit dem Verdacht aus, mit jenen Mächten zu sympathisieren, durch die das Land zu einer Halbkolonie geworden war. Aber wie man in Amerika nicht daran gedacht hatte, das Eigentum jedes »Monarchisten« zu konfiszieren, so dachte man auch in China nicht daran, wenn es sich um »Kapitalisten« handelte. Man konfiszierte daher das Eigentum der vier Familien**, einige Banken und industrielle Betriebe, aber nicht das Eigentum schlechthin. Es ist auch unwahrscheinlich, daß dies in Zukunft geschehen könnte. Es gibt nach wie vor Eigentum an Grund und Boden, an Häusern, industriellen und kaufmännischen Unternehmen und sogar an Aktien. Die Börse ist zwar geschlossen, und Kurse werden nicht notiert, aber der private Kauf wie Verkauf ist gestattet. Das Privatkapital ist also nicht abgeschafft. Was sich geändert hat, ist nur der Einfluß dieses Kapitals oder der Rang, den es innerhalb der Wirtschaft einnimmt. Es ist nicht mehr die »conditio sine qua non« der gesamten Wirtschaft, sondern hat einen Konkurrenten erhalten. Die Wirtschaft wird heute vom Staatskapital beherrscht.
Es gibt daher in China zwei Wirtschaftssysteme, die nebeneinander bestehen, - den Privatkapitalismus und den Staatskapitalismus. Es gibt sogar noch ein drittes System, dem eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt: das Kommanditsystem. Bei dieser Wirtschaftsform bleibt das Unternehmen in den Händen des privaten Eigentümers, aber der Staat ist als Kommanditist oder stiller Teilhaber beteiligt. Diese kommanditäre Form ist eine chinesische Erfindung und wurde kürzlich von einigen westlichen Volksrepubliken übernommen.
Es gab verschiedene Gründe, die Wirtschaft in anderer Weise aufzubauen, als das anfänglich in Rußland geschehen ist.
Der eine Grund war, daß man das Ziel, das man verfolgte, die wirtschaftliche Befreiung des Landes, auf drei Wegen leichter erreichen konnte als auf einem. Man hält in China nur solange an einer Theorie fest, als sie den Zwecken dient, für die sie erforderlich ist. Tut sie das nicht, so ändert man sie. Das Ziel war, das Land zu emanzipieren, und dieses Ziel konnte nur durch den Aufbau eines Staatskapitalismus erreicht werden. Aber deshalb war es nicht erforderlich, auf privaten Unternehmungsgeist zu verzichten. Die Privatindustrie produzierte. Warum sollte man sich ihrer Produkte berauben?
Jeder Besucher des Landes stellt daher zu seiner Überraschung fest, daß ein großer Teil des chinesischen Privatkapitals arbeitet und daß sogar private Investitionen zugenommen haben. Sie waren 1955 zehn Prozent höher als 1952. Der Anteil des Privatkapitals an der Wirtschaft war also, absolut genommen, gestiegen; er war nur relativ genommen gefallen, denn die Investitionen des Staats mußten naturgemäß wesentlich höher sein.
Auch ist es unwahrscheinlich, daß die Beteiligung des Privatkapitals nachlassen wird. Der Staat hat der Privatwirtschaft die Garantie gegeben, daß man sie bis 1967 nicht behelligen werde, und die meisten sind der Ansicht, daß auch nach diesem Termin keine wesentlichen Systemänderungen geplant sind. Es besteht kein Grund zur Vollsozialisierung, solange das Privatkapital keine Anstalten trifft, seine frühere Machtposition wiederzugewinnen, und die Aussichten in dieser Hinsicht sind gering.
Es besteht nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß eine größere Anzahl der bisherigen privaten Betriebe in kommanditäre überführt werden.
Es ist bereits in einer Anzahl von Fällen geschehen, und die Ergebnisse sind für beide Seiten meistens befriedigend gewesen. Die Eigentumsrechte des Inhabers bleiben in solchen Fällen selbst dann gewahrt, wenn das Kapital, das der Staat einschießt, größer ist als das Privatkapital. Auch ist von seiten des Staats bisher niemals der Anspruch gestellt worden, daß die Repräsentanten der staatlichen Interessen die Majorität in der Leitung des Unternehmens besitzen müssen. Legte der Staat Wert darauf, in der Direktion vertreten zu sein (was nicht immer der Fall war), so begnügte er sich in der Regel mit dem Posten eines Vizedirektors. Das Gehalt eines solchen Mannes war stets bescheiden und wesentlich niedriger als das des Managers oder Unternehmers.
Man kann das Los der früheren Großindustriellen und Großkaufleute nicht als beneidenswert bezeichnen, aber es ist erträglich.
Sie sind, wie alle wohlhabenden Leute, gezwungen gewesen, ihr Leben einzuschränken, aber man hat sie nicht belästigt, wenn keine Veranlassung bestand, sie zu den Feinden der Emanzipationsbewegung zu zählen. Weder ihre Häuser oder Wohnungen sind beschlagnahmt worden, noch hat man sie genötigt, sich mit ein oder zwei Räumen zu begnügen und das Badezimmer mit einem halben Dutzend einquartierter Familien zu teilen. Man hat ihnen auch nicht verboten, Hausangestellte zu haben, und zwar so viele, wie sie bezahlen können, oder sich einen Wagen zu halten. Selbst die Bigamie, die vor der Revolution legal war, wird respektiert, wenn die Konkubinatsehe vor 1949 geschlossen wurde.
Man ist also mit äußerster Vorsicht zu Werke gegangen und hat alle Maßnahmen vermieden, die man in anderen sozialistischen Ländern für erforderlich gehalten hat. Dem Ressentiment ist nur selten Gelegenheit gegeben, sich zu blähen. Man hat sich, ganz im Gegenteil, bemüht - wenn auch nicht immer mit Erfolg -, der Person, soweit sie einen privaten Charakter trägt, kein Haar zu krümmen. Aber man konnte es selbstverständlich nicht vermeiden, die Grenzen zwischen dem privaten und öffentlichen Charakter einer Person neu zu bestimmen und die geschäftliche Tätigkeit zu den öffentlichen Funktionen zu zählen.
Der Geschäftsmann hat daher einen Teil seiner Freiheit verloren. Er besitzt, beim Kauf und Verkauf nicht die gleiche Freizügigkeit wie bisher. Ist er ein Industrieller, so kann er die Rohmaterialien, die er benötigt, allein durch Zuweisung einer amtlichen Stelle erhalten und ist nur berechtigt, etwa zehn Prozent seiner Produktion im Freihandel abzusetzen. Die restlichen 90 Prozent muß er an den Staat verkaufen, der somit sein einziger großer Kunde ist***. Es hat dies den Vorteil, daß er sich über den Absatz seiner Produktion keine Sorgen zu machen braucht und den Jahresgewinn bereits nach Empfang der Rohmaterialien berechnen kann. Aber es hat den Nachteil, daß er sich in der Hand des Staates befindet. Die amtlichen Stellen können Zuweisungen reduzieren oder sogar die Abnahme der Produktion verweigern. Es wird das nur selten geschehen, aber es kann geschehen, und der Industrielle befindet sich daher in einer prekären Lage.
Auch ist das Einkommen, das ein mittlerer Industrieller heute in China genießt, relativ genommen, nicht niedrig. Er darf sich sein Kapital, abzüglich aller Steuern, zu etwa vier Prozent verzinsen und hat außerdem Anspruch auf einen Teil des Gewinns. Er darf sich ferner ein Gehalt als Manager seines Unternehmens ausschreiben, und das pflegt wenigstens sieben- bis achtmal so hoch zu sein wie das eines gelernten Arbeiters und doppelt so hoch wie das eines Ministers. Auch wird bei Entscheidungen über Fragen wie die des Kapitalzinses, des Gewinnanteils und des Managergehalts jede Gleichmacherei vermieden. Es gibt Kapitalverzinsungen, die acht Prozent betragen, und es gibt Managergehälter, die zwei bis dreimal so hoch sind wie das eines mittleren Industriellen. Der Anreiz des Profits wird also benutzt, und die Gewinne unterliegen nur einer gewissen Limitierung. Auch werden wie überall Bankzinsen gezahlt. Sie betrugen anfänglich zwölf Prozent und sind jetzt auf sieben Prozent herabgesetzt worden. Wer über etwas Kapital verfügt, kann von seinen Zinsen leben. Es besteht keine Arbeitspflicht.
* L. L. Matthias: »China auf eigenen Wegen. Ergebnis einer Reise«; Rowohlt Verlag, Hamburg, 1957; 240 Seiten; 13,80 Mark.
** Die »vier Familien« - untereinander noch verwandt oder verschwägert - beherrschten vor der Revolution das gesamte politische und wirtschaftliche Leben Chinas. Ihre Zentralbüros hatten sie vorwiegend in Schanghai. Sie hießen in China auch »die Haie«. Mitglieder dieser Familien waren Premierminister, Finanzminister, Wehrminister und Bankgouverneure. Sie waren jederzeit in der Lage, die Staatsaffären mit ihren privaten und ihre privaten Geschäfte mit denen des Staates zu verknüpfen. Das Vermögen von drei dieser Familien wurde auf über zwei Milliarden Dollar geschätzt.
*** Diese Bestimmungen sind durch den ersten (bzw. achten) Kongreß der KPC im September 1956 geändert worden. Der Prozentsatz wurde von 10 Prozent auf 25 Prozent erhöht bzw. von 90 Prozent auf 75 Prozent gesenkt. Damit erhalten die Annahmen, von denen hier ausgegangen wurde, Ihre Bestätigung. Man verfolgt in China nicht die Absicht, die Privatindustrie abzubauen. Industrielle werden ganz im Gegenteil zu Investitionen ermutigt.